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Von Zufällen, Zellen und zellulären Einlasspforten für Ionen

Über drei Jahrzehnte lang wurden Sulfonylharnstoffe eingesetzt, um die Zuckerkrankheit zu behandeln. Die Ärzte wussten zwar, dass man mit diesen Medikamenten die gestörte Insulinausschüttung von Patienten mit Typ-II-Diabetes oft über Jahre hinweg künstlich aufrecht halten kann. Wie Sulfonylharnstoffe allerdings molekular wirken, war unbekannt. Blanche Schwappach vom Zentrum für Molekulare Biologie beschreibt, wie der Zufall Wissenschaftlern zu unverhofften Entdeckungen verhilft – und wie anschließendes zielgerichtetes Arbeiten der Natur verblüffende Antworten auf so manches Rätsel entlocken kann.

Die drei Prinzen von Serendip besaßen die Fähigkeit, auf wertvolle Dinge zu stoßen, ohne danach zu suchen. So erzählt es ein persisches Märchen, das den englischen Schriftsteller Horace Walpole im Jahr 1754 dazu inspirierte, mit "serendipity" die zufällige Entdeckung wichtiger Zusammenhänge zu bezeichnen. In der Geschichte der Naturwissenschaften finden sich etliche Beispiele für solche Entdeckungen. Es kann sich also lohnen, dem Zufall mit Neugier und Beobachtungsgabe zu begegnen: Wer nicht sucht, der findet!

Als Paradebeispiel für "serendipity" gilt eine Entdeckung, die im Jahr 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, gemacht wurde. Der Pharmakologe Marcel Janbon von der Universitätsklinik von Montpellier testete gemeinsam mit Wissenschaftlern der Firma Rhône-Poulenc Substanzen aus der Klasse der Sulfonamide als Mittel gegen die damals wüst grassierenden Typhus-Epidemien. Als sie die Substanzen beim Menschen einsetzten, starben drei Patienten mit mysteriösen neurologischen Symptomen. Beim vierten Patienten, der verstarb, erkannte Janbon den Grund: Die Symptome erwiesen sich als hypoglykämisches Koma, jener Zustand, der sich einstellt, wenn der Blutzuckerspiegel abrupt unter das normale Maß sinkt. Es kommt dann zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen, schließlich versagt das Gehirn.

Die Regulation des Blutzuckerspiegels

Die Regulation des Blutzuckerspiegels ist ein Meisterwerk der Kommunikation – die sich bis zur Ebene der Zellen und Moleküle fortsetzt (Abb. unten).

Produktion des Hormons Insulin

Ein komplexer molekularer Regelkreis sorgt für die bedarfsgerechte Produktion des Hormons Insulin.

Janbon wandte sich an seinen Kollegen Auguste Loubatières, der sich im physiologischen Institut mit dem Hormon Insulin und einer Krankheit namens Diabetes beschäftigte. Diese Störung des Zuckerstoffwechsels war schon im alten Ägypten bekannt. Wegen ihrer Symptome – exzessives Trinken, häufiges Wasserlassen, Zucker im Harn – machten die Heilkundigen seit der Antike eine gestörte Funktion der Nieren oder der Blase dafür verantwortlich. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass ein Diabetes experimentell erzeugt werden kann, wenn man die Bauchspeicheldrüse (den Pankreas) von Tieren entfernt. Außerdem erkannten die Wissenschaftler, dass die Bauchspeicheldrüse ein Hormon, das Insulin, in die Blutbahn abgibt. Loubatières unternahm schließlich die Experimente, die Janbons Zufallsfund in eine fest untermauerte wissenschaftliche Erkenntnis verwandelten: Die Sulfonamide bringen die Bauchspeicheldrüse dazu, große Mengen Insulin auszuschütten. Normalerweise sorgt das Hormon dafür, dass nach der Nahrungsaufnahme überschüssiger Blutzucker vom Körper gespeichert wird. Unangemessen hohe Insulinspiegel führen dazu, dass zu viel Zucker aus der Blutbahn in die Vorratshaltung überführt wird. Dadurch kommt es zu einer lebensbedrohlichen Unterversorgung der Organe, insbesondere des Gehirns.

Im Laufe des Krieges wurden diese Entdeckungen wieder vergessen. Wenig später wurden sie dann noch einmal gemacht, in Berlin, von Hans Franke und Joachim Fuchs. Auch hier war wieder der Zufall im Spiel: Franke und Fuchs behandelten Patienten, die an einer Lungenentzündung erkrankt waren, mit Sulfonamiden und machten die gleiche Beobachtung wie Janbon. Diesmal wurde die hypoglykämische Wirkung der neuen Substanzen jedoch nicht vergessen; stattdessen erprobte man, ob Sulfonamide Diabetespatienten helfen könnten. In chemisch modifizierter Form, als "Sulfonylharnstoffe", kamen sie Mitte der Fünfzigerjahre Diabeteskranken zugute. Bis heute werden Pharmaka aus dieser Klasse verwendet, um Patienten mit einem Diabetes vom Typ II – früher Altersdiabetes genannt – zu behandeln. Mit Sulfonylharnstoffen kann die gestörte Insulinausschüttung im Körper der Diabeteskranken oft noch viele Jahre aufrecht erhalten werden.

Der Diabetes vom Typ I ist etwas ganz anderes. Es handelt sich dabei um eine Autoimmunerkrankung: Die Bauchspeicheldrüse der Patienten wird meist schon in früher Jugend vom körpereigenen Immunsystem angegriffen und büßt die Fähigkeit, Insulin zu produzieren, vollständig ein. In den Zwanzigerjahren wurde die Insulin-Ersatztherapie entwickelt, bei der sich die Patienten Insulin injizieren. Neunzig Prozent der Diabeteskranken leiden jedoch nicht unter diesem Typ-I-Diabetes, sondern unter einem Diabetes vom Typ II.

Das Hormon Insulin koordiniert den gesamten Stoffwechsel so, dass die Versorgung der Organe mit Energie sichergestellt ist. Überschüssiger Zucker wird für Fastenzeiten gespeichert. Mangelt es an Insulin, entsteht ein chronisch hoher Blutzuckerspiegel. Zudem kommt es zu sekundären Veränderungen im Verhalten anderer Hormone sowie im Stoffwechsel von Fetten und Proteinen. Viele verschiedene Gewebe sind von einem dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel betroffen. Wird er nicht ausreichend gesenkt, drohen gravierende Folgeschäden. Zu befürchten sind Blindheit, Herzinfarkt, Nierenversagen, Schlaganfälle oder Amputationen. Etlichen Symptomen des Diabetes Typ II liegt eine Störung der Blutgefäße zu Grunde, davon betroffen sind sowohl kleinste Kapillaren wie große Adern. Beim Diabetes vom Typ II produziert die Bauchspeicheldrüse durchaus noch Insulin, es wird aber nicht mehr in ausreichender Menge an die Blutbahn abgegeben. Außerdem kann das Hormon seine Wirkung nicht mehr normal entfalten, weil Zielstrukturen wie Muskulatur, Fettgewebe oder Leber häufig nicht mehr darauf ansprechen.

Das Risiko, an Diabetes Typ II zu erkranken, wird stark von genetischen Faktoren beeinflusst. Im Zusammenspiel mit den Lebensgewohnheiten der modernen Zivilisation westlicher Prägung nimmt die Krankheit gegenwärtig epidemische Ausmaße an.

Wie ernst die Erkrankung werden kann, mag beispielhaft das Schicksal der Jazzsängerin Ella Fitzgerald zeigen. In den Siebzigerjahren, heißt es in einer Biographie, begannen ihre gesundheitlichen Probleme mit den Augen, in den Achtzigern kam das Herz hinzu. Dennoch trat sie bis in die frühen Neunzigerjahre auf, auch wenn sie auf Krücken auf der Bühne stehen musste. Im Jahr 1993 mussten ihr beide Beine amputiert werden – die Konsequenz ihres schlecht eingestellten Diabetes.

Obwohl die Sulfonylharnstoffe Erfolgsprodukte sind und Millionen von Menschen sie täglich einnehmen, hat man über 30 Jahre lang nicht verstanden, wie sie eigentlich molekular wirken. Die spannende Frage lautete: Warum lösen diese Substanzen unabhängig vom Blutzuckerspiegel eine plötzliche Ausschüttung von Insulin aus? Mitte der Achtzigerjahre untersuchte man die Zusammenhänge mit einer revolutionären elektrophysiologischen Messmethode, der Patch-Clamp-Technik. Einer ihrer Erfinder ist der Heidelberger Nobelpreisträger Professor Bert Sakmann. Mit dieser experimentellen Technik kann das elektrische Verhalten einzelner Zellen unter verschiedenen physiologischen Bedingungen gemessen werden.

Zellen sind von einer Membran (Plasmamembran) aus fettsäurehaltigen Molekülen umgeben, die ihr Inneres von der Außenwelt abgrenzt. Es ist ein Charakteristikum von lebenden Zellen, dass verschiedene Ionen, also elektrisch geladene Atome oder Moleküle, zwischen der inneren und äußeren Umgebung ungleich verteilt sind. Auf dieser Ungleichverteilung beruht das Phänomen des elektrischen Stroms in lebendigen Systemen. Ionen können wegen ihrer Ladung die Plasmamembran kaum passieren. Es fließt nur dann ein elektrischer Strom, wenn sich Poren öffnen, die Ionen einer bestimmten Art passieren lassen. Diese Poren werden von Proteinmolekülen gebildet, die man als Ionenkanäle bezeichnet. Im Jahr 1985 erschienen die ersten Arbeiten zur elektrischen Aktivität von einzelnen "Beta-Zellen", die für die Messungen aus Bauchspeicheldrüsen isoliert worden waren. Die Beta-Zellen sind es, die in der Bauspeicheldrüse Insulin herstellen und es je nach Zuckerkonzentration in das Blut abgeben. Die Patch-Clamp-Technik erlaubte es nun, die verschiedenen Ionenkanäle in der Plasmamembran zu beschreiben und zu untersuchen, wie sie sich bei unterschiedlichen Zuckerkonzentrationen verhalten.

Es stellte sich heraus, dass es zwei Typen von Ionenkanälen gibt, die für die Insulinausschüttung besonders wichtig sind: spannungsgesteuerte Kalzium-Ionenkanäle und ATP-empfindliche Kalium-Ionenkanäle.

In der Beta-Zelle ist ein biologischer Regelkreis realisiert, der die Insulinausschüttung kontinuierlich an den Zuckerspiegel im Blut anpasst. Der ATP-empfindliche Kaliumkanal, ein raffiniertes Kopplungselement, ist in diesem Regelkreis von zentraler Bedeutung. Er fungiert als Sensor, der über das Stoffwechselprodukt ATP (Adenosintriphosphat) die Zuckerkonzentration im Blut misst, und er arbeitet als Regler, der die Insulinausschüttung an den jeweils aktuellen Sollwert anpasst. Die Durchlässigkeit des ATP-empfindlichen Kanals für Kaliumionen bestimmt in der Beta-Zelle den elektrischen Potenzialunterschied zwischen Innen und Außen. Erst wenn dieser Potenzialunterschied einen bestimmten Wert überschreitet, öffnen sich die spannungsgesteuerten Kalziumkanäle. Das eigentliche Schaltereignis für die Insulinausschüttung besteht im Einstrom von Kalziumionen in die Beta-Zelle. Auch der Effekt der Sulfonylharnstoffe auf das elektrische Verhalten der Beta-Zellen wurde getestet. Jahrzehnte nachdem ihre physiologische Wirkung erkannt worden war, wusste man nun, dass Sulfonylharnstoffe den ATP-sensitiven Kaliumkanal für Kaliumionen undurchlässig machen, ihn "blockieren". Damit ist der Potenzialunterschied zwischen dem Zellinnern und der äußeren Umgebung immer in jenem kritischen Bereich, in dem die Kalziumkanäle geöffnet sind. Dieser molekulare Kurzschluss bewirkt, dass Insulin unabhängig vom Blutzucker ausgeschüttet wird.

Nun begann eine zehn Jahre währende Suche nach der genauen Identität des Proteins, das den ATP-sensitiven Kaliumkanal bildet. Wie in vielen Bereichen der biologischen Forschung griff in den Achtzigerjahren angesichts der neuen Techniken der Molekularbiologie auch unter den Ionenkanalforschern eine Art Goldgräberstimmung um sich. Denn nun konnten den verschiedenen physiologisch beschriebenen Ionenkanälen Gensequenzen zugeordnet und sogar Varianten die-ser Sequenzen erzeugt werden. Das erlaubte es, Ionenkanalproteine systematisch in einfachen Test- systemen, beispielsweise in unbefruchteten Froscheiern, zu untersuchen. Kleinste Änderungen im Aufbau dieser Proteine konnten nun in Bezug zu ihrer Ionenkanalfunktion gesetzt werden. Es wurde so möglich, die wichtigsten Bauteile eines Ionenkanals genau zu kartieren: Wo in diesem Molekül ist die eigentliche Pore, durch die Ionen einer bestimmten Art – und nur diese – hindurchschlüpfen? Wo sind die "Tore", die den Kanal öffnen und schließen? Wie steckt das Kanalprotein in der Membran?

Die Suche nach dem Protein, das die Sulfonylharnstoffe bindet und in engem Zusammenhang mit dem ATP-empfindlichen Kaliumkanal stehen musste, verlief entschieden nicht nach der Methode der Prinzen von Serendip, sondern beruhte auf einem zielgerichteten Ansatz, der nur wenig dem Zufall überließ. Man wollte das Protein auf Grund seiner Fähigkeit, Sulfonylharnstoffe fest zu binden, von allen anderen Proteinen der Zelle trennen. Diese Aufreinigung ist tatsächlich gelungen. Am Ende lag soviel Protein vor, dass man Teile seiner Sequenz herausfinden konnte. Diese Information erlaubte es dann wiederum, auf die Sequenz des ganzen Gens zuzugreifen. Die im Jahr 1995 veröffentlichten Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen: Zwei sehr unterschiedliche Proteine bilden gemeinsam den ATP-empfindlichen Kaliumkanal. Eines dieser Proteine ist der Sulfonylharnstoff-Rezeptor, also das Protein, das Sulfonylharnstoff bindet. Das zweite Protein ist ein mit anderen Kaliumkanälen verwandtes Ionenkanalprotein. Nachdem diese Ergebnisse bekannt geworden waren, versuchten etliche Forschergruppen weltweit, die einzelnen Bauteile des ATP-empfindlichen Kaliumkanals zu verstehen: Wie misst er die ATP-Konzentration in der Zelle? Wo binden die Sulfonylharnstoffe an das Protein? Wie funktioniert die Blockade des Stroms durch die Sulfonylharnstoffe?

Parallel dazu wurden die neu identifizierten Gene humangenetisch untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass es Familien gibt, in denen defekte Varianten des ATP-sensitiven Kaliumkanals vererbt werden. Wenn ein Kind von Mutter und Vater eine solche Variante vererbt bekommt, befindet es sich von Geburt an in großer Gefahr. Analog zu einer Behandlung mit hohen Dosen an Sulfonylharnstoffen (die den Ionenkanal schließen) werden bei den Neugeborenen große Mengen von Insulin ausgeschüttet (Hyperinsulinismus). Es kommt zur Hypoglykämie: Der Blutzuckerspiegel sinkt gefährlich ab. Wird dieser Zustand nicht sofort erkannt und mit Zuckerinfusionen behandelt, ist die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt.

Meine Arbeitsgruppe am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH) untersucht den ATP-empfindlichen Kaliumkanal im Kontext einer ganzen Zelle, zum Beispiel der Beta-Zelle. Um seine Rolle als Mess- und Regelelement im biologischen Regelkreis zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bauweise und Funktion des Kanals selbst untersuchen, sondern auch, wie er mit anderen Proteinen der Zelle zusammenwirkt. Denn die wenigsten Proteine einer Zelle erfüllen ihre Aufgabe als "Einzelkämpfer", häufig bilden sie große Komplexe, "Teams", in denen verschiedene Funktionen koordiniert werden. Wir versuchen, solche Komplexe aus Beta-Zellen biochemisch zu isolieren, indem wir den ATP-empfindlichen Ionenkanal mittels eines gentechnischen Tricks mit einer molekularen Öse versehen. Mit einem molekularen Angelhaken versuchen wir dann, den Ionenkanal und die mit ihm verbundenen Proteine aus der komplexen zellulären Proteinmischung herauszufischen. Die Beute eines solchen Angelzugs kann daraufhin chemisch in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden. Bei dieser Arbeit profitieren wir ungemein von der seit Neustem verfügbaren Sequenz ganzer Genome, etwa des Menschen oder der Maus. Auf der Basis dieser Information lassen sich theoretisch alle existierenden Proteine einer Spezies vorhersagen. Wenige Sequenzfragmente eines Proteins reichen dem Computer heute aus, um mit hoher Wahrscheinlichkeit herauszufinden, um welches Protein es sich in einer gegebenen Probe handelt. Häufig sind assoziierte Proteine wichtige Regulatoren von Ionenkanälen: Sie versetzen den Kanal in einen besonders aktiven Zustand, oder sie schließen ihn. Bei der Suche nach neuen Wirkstoffen erhöht die Kenntnis der assoziierte Proteine die Chance, eine brauchbare Substanz zu entdecken: Mit ihnen sind zusätzliche molekulare Zielscheiben für ein möglicherweise als Medikament geeignetes Molekül verfügbar. Es könnte also sein, dass Pharmafirmen unsere Ergebnisse aufgreifen, um ihre großen Substanzbibliotheken auch an den Proteinen zu testen, die mit dem ATP-empfindlichen Kaliumkanal assoziiert sind.

Insbesondere interessiert uns aber das Leben des Ionenkanals selbst: Er wird nicht an der Plasmamembran geboren, sondern tief im Inneren der Zelle, in einer Art Proteinfabrik, dem so genannten Endoplasmatischen Retikulum. Dabei handelt es sich um ein weit verzweigtes Geflecht aus schlauchförmigen Membranen. Proteinsynthese-Maschinen, die "Ribosomen", docken an diese Membranen an und stellen einzelne Proteine her, die dann direkt in die Membran eingefädelt werden. Nach diesem ersten Syntheseschritt wird der Ionenkanal aus insgesamt acht Proteinen zusammengesetzt. Jeder einzelne Kanal besteht aus vier Kaliumkanal-Proteinen und vier Sulfonylharnstoff-Rezeptoren. Nur in genau dieser Zusammensetzung können die Ionenkanäle später an der Zelloberfläche ihre Funktion erfüllen. Wie in einer Fabrik gibt es deshalb auch in der Zelle eine strenge Qualitätskontrolle. Die Kontrolleure überprüfen den fertiggestellten ATP-empfindliche Kaliumkanal, bevor er verpackt und vom Ort der Herstellung an seinen eigentlichen Einsatzort, die Zellmembran, geschickt wird.

Während meiner Zeit an der Universität von Kalifornien in San Francisco habe ich herausgefunden, dass jede einzelne Untereinheit des ATP-empfindlichen Kaliumkanals einen kleinen Sequenzabschnitt enthält, der wie eine Postleitzahl funktioniert. Zellbiologen bezeichnen diese molekulare Postleitzahl als Sortierungssignal. Die von mir entdeckten Signale verkünden deutlich den "Zielort": das Endoplasmatisches Retikulum. Das ist eine überraschende Adresse. Denn von dort kommen die Proteine ja gerade her – und ihr eigentlicher Bestimmungsort ist die Zelloberfläche. Die absurde Adresse ("sofort retour!") ist ein Trick, mit dem verhindert wird, dass unvollständig zusammengesetzte Ionenkanäle – zum Beispiel solche, die aus zwei oder fünf oder sieben, statt den regulären acht Proteinen bestehen – das Endoplasmatische Retikulum verlassen können. Wenn sich jedoch vier Untereinheiten von der einen und vier von der anderen Art im richtigen Verhältnis zusammenfinden, werden die Sortierungssignale sofort abgedeckt. Der Verpackung des Ionenkanal-Komplexes in so genannte Transportvesikel mit der Adresse "Plasmamembran" steht dann nichts mehr entgegen.

Unsere Gruppe hier in Heidelberg wollte nun zwei Fragen klären. Erstens: Wer liest die "Postleitzahl" und stellt sicher, dass die Untereinheiten mit dem entsprechenden Sortierungssignal ins Endoplasmatische Retikulum zurückgeschickt werden? Zweitens: Wie werden die Sortierungssignale unkenntlich gemacht, wenn sich der richtige Komplex gebildet hat? Im Laufe der letzten drei Jahre ist es uns gelungen, Antworten auf beide Fragen zu finden. Die Sortierungssignale werden von einem auf Vesikeltransport spezialisierten Proteinkomplex, dem so genannten Coatomer-Komplex, erkannt. Der Coatomer-Komplex erkennt das Sortierungssignal und befördert einzelne Untereinheiten des ATP-empfindlichen Kaliumkanals zurück ins Endoplasmatische Retikulum. Was aber geschieht nun im richtig zusammengesetzten Ionenkanal-Komplex? Wieder ist es uns mit einer biochemischen Angelmethode gelungen, weitere Proteine zu finden, die das Sortierungssignal erkennen. In diesem Fall jedoch nicht nur das Signal, sondern auch die Anzahl. Dieses Prinzip konnten wir mit vielen verschiedenen Experimenten biochemisch und in lebenden Zellen belegen. Wir haben dazu Methoden verwendet, mit denen man Membranproteine an der Zellmembran besonders genau messen kann. Aufgrund der erarbeiteten Ergebnisse können wir folgendes Modell aufstellen: Der Coatomer-Komplex – er ist für den Rücktransport ins Endoplasmatische Retikulum verantwortlich – und die von uns identifizierten weiteren Bindungspartner (die so genannten 14-3-3-Proteine) versuchen ständig, an den ATP-empfindlichen Ionenkanal zu binden. Bei allen Komplexen, die falsch zusammengesetzt wurden, "gewinnt" der Coatomer-Komplex. Die Folge: Der misslungene Ionenkanal wird zum Endoplasmatischen Retikulum zurückgeschickt. Nur wenn der Ionankanal korrekt aus acht Untereinheiten zusammengesetzt wurde, können die 14-3-3-Proteine so fest binden, dass der Ionenkanal dem Coatomer-Komplex entkommt und zur Zelloberfläche gelangt. Die Konkurrenz zwischen dem Coatomer-Komplex und den 14-3-3-Proteinen ist also die molekulare Basis eines bestimmten Aspekts der zellulären Qualitätskontrolle. Das Gleichgewicht der beiden Bindungsreaktionen spiegelt wider, wie die einzelnen Ionenkanäle zusammengesetzt sind, und es koppelt ihre molekulare Zusammensetzung aus verschiedenen Untereinheiten an ihre Bewegung im Verkehrssystem der Zelle. Was wir beispielhaft am ATP-empfindlichen Kaliumkanal ausgearbeitet haben, gilt anscheinend auch für etliche weitere Ionenkanäle. Dies belegen die neuesten Daten verschiedener Arbeitsgruppen.

Komplexe Krankheiten wie Diabetes Typ II sind mit vielen molekularen Störungen verbunden. Aufgrund seiner zentralen Rolle als Kopplungselement zwischen Metabolismus und Erregbarkeit der Beta-Zelle ist es eine vernünftige Hypothese, dass die Anzahl der Kanäle auf der Zelloberfläche oder die funktionelle Regulation des ATP-empfindlichen Kaliumkanals bei manchen oder vielen Diabetes-Patienten gestört sein könnte. Mäuse mit einem künstlich vom Stoffwechsel entkoppelten ATP-empfindlichen Kaliumkanal entwickeln Diabetes. Ein genaues Verständnis der Biosynthese und Regulation dieses Ionenkanals sowie ein Verzeichnis der mit ihm wechselwirkenden Proteine wird es möglich machen, diese Hypothese zu überprüfen.

Um das Verhalten der Beta-Zelle im gesunden oder kranken Zustand zu verstehen, müssen wir versuchen, das Netzwerk aus Wechselwirkungen zwischen möglichst vielen relevanten Molekülen in seiner Dynamik zu erfassen. Die Einbindung einzelner Zellen in ein Gewebe und ein Organ baut auf dieser Beschreibung auf und wird gleichzeitig über sie hinausgehen müssen, zum Beispiel durch die Einbeziehung von übergeordneten räumlichen Strukturen. Viele Forscher haben eine Vorstellung davon, was hier zu leisten wäre – und doch fehlt es noch an präzisen Ansätzen. Die Biologie wird angesichts dieser Herausforderung vermutlich mathematischer werden. Die viel beschworene Interdisziplinarität wird sich zwangsweise aus den Fragestellungen heraus entwickeln, nicht ohne reichlich Versuch und Irrtum. Und alle werden wieder dabei sein – die Prinzen von Serendip genauso wie die Goldgräber.

Autorin:
Dr. Blanche Schwappach
Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 282, 69120 Heidelberg, Telefon (0 62 21) 54 68 98, e-mail: b.schwappach@zmbh.uni-heidelberg.de

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