Streifzug durch die Energielandschaft der Proteine
An vielen grundlegenden Zellprozessen sind Atomgruppen beteiligt, die sich im Innern von Proteinen miteinander oder gegeneinander bewegen. Diese Bewegungen ermöglichen es den Atomen, ihren Weg durch "Energielandschaften" zu finden und dabei Täler und Gipfel zu passieren. Die Computersimulation ermöglicht es uns, an einem Streifzug durch die Energielandschaft der Proteine teilzunehmen. Jeremy C. Smith vom Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen beschreibt funktionale Bewegungen und erläutert, wie Informationen innerhalb eines Proteins von einem Ort zum andern gelangen.
Schönheit der Moleküle: Beispiel für die Struktur eines Proteins |
Das Produkt eines Gens ist ein Protein, eine Kette von Aminosäuren, die zu einer einzigartigen dreidimensionalen Struktur gefaltet ist. Die Struktur zehntausender gefalteter Proteine wurde mittlerweile experimentell nachgewiesen. Ihr Aufbau aus Helix-, Faltblatt- und anderen Strukturen, die miteinander verschlungen und verknäult sein können, ist stets sehr schön anzusehen.
Die dreidimensionale atomare Architektur ist das Wesen der Strukturbiologie. All diese Helices und Faltblätter existieren nicht allein wegen ihres ästhetisch schönen Aussehens. Ihre Struktur ist vielmehr der Schlüssel zur Funktionsweise der Proteine. An einer "aktiven Stelle" im Protein werden die Atome so angeordnet, dass sich das Protein genau an jenes Molekül bindet, welches hier umgesetzt werden muss. Diese Bindung löst letztlich eine spezifische biologische Aktivität aus. Dies ist kurz gesagt die Grundlage der Zellfunktion.
Die Beobachtung der Wechselwirkung von Proteinen untereinander oder mit kleinen Molekülen ergibt ein faszinierendes Bild zueinander passender Formen im Sinne der berühmten Schlüssel-Schloss-Hypothese der Enzymfunktion, die vor ungefähr 100 Jahren von Emil Fischer aufgestellt wurde. Das starre Schlüssel-Schloss-Modell kann jedoch nicht grundlegende Aspekte der Proteinaktivität erklären. Dies wurde vor ungefähr 30 Jahren deutlich, als die Struktur der bis dahin ersten entschlüsselten Proteinstruktur untersucht wurde, nämlich die von Myoglobin, einem Sauerstoff bindenden Protein im Muskel. An dieser Struktur wurde deutlich, dass der Sauerstoff keinen Weg durch die Proteine zu seiner Bindungsstelle findet, wenn die Proteinstruktur starr bleibt. Die Struktur muss fluktuieren, wodurch sich flickernde und transiente Kanäle eröffnen, durch die sich das Sauerstoffmolekül hineinschlängeln kann.
Die "Energielandschaft" eines Proteins besitzt wie ein Gebirgszug hohe Gipfel und tiefe Täler. |
Wie kann man dieses "Flickern" der Struktur beschreiben? Wie sehen die Bewegungen innerhalb eines Proteins aus, welche die Proteinfunktion steuern? Alle molekularen Systeme einschließlich der Proteine unterliegen wärmebedingten Gleichgewichtsfluktuationen. Da Proteine im Körpertemperaturbereich leben, bedeutet dies mit anderen Worten, dass sich die Atome permanent in Bewegung befinden müssen, in sich zittern und unablässig von benachbarten Atomen angestoßen werden.
Will man versuchen, diese Bewegung zu beschreiben, muss man zunächst einen theoretischen Rahmen für einen Denkansatz erstellen. Besitzt ein Protein N Atome, so hat es 3 N "Freiheitsgrade" oder Koordinaten, entlang derer sich Atome bewegen können (x, y und z sind drei Koordinaten für jedes Atom). Bei einem Protein mit N ~ 1000 sind daher viele Bewegungen möglich. Wird ein Atom in einem Protein bewegt, ändern sich seine Wechselwirkungen mit den anderen Atomen. Damit ändert sich die potenzielle Energie des Systems. Der 3 N-dimensionale Konfigurationsraum definiert auf diese Weise eine potenzielle Energie-"Landschaft".
Eine Energielandschaft besitzt Gebirgszüge, deren Gipfel Regionen mit hoher Energie entsprechen, wo zum Beispiel Bindungen überdehnt werden oder Atome aneinander stoßen. In der Energielandschaft gibt es auch Täler, welche Regionen mit niedriger Energie entsprechen. Hier treten die Atome in füreinander günstige Wechselwirkungen, beispielsweise über die Anziehung zwischen positiven und negativen Ladungen und entspannten Bindungen sowie über die kompakte Anordnung von Atomen. Da mechanische Systeme bestrebt sind, ihre Energie zu minimieren, wird man Proteine am ehesten in den Tälern mit niedriger Energie antreffen. Es ist hingegen sehr unwahrscheinlich, dass sie die Berggipfel stürmen.
Vereinfachte Protein-Energielandschaft |
Zurück zum Flickern der Struktur: Viele Fluktuationen innerhalb der Proteine sind für die Funktion ohne Bedeutung. Zum Beispiel wird die Schwingung, durch die eine von einer aktiven Stelle im Protein weit entfernte Bindung abwechselnd gedehnt und komprimiert wird, keine funktionalen Schritte beeinflussen. Bei anderen Schwingungen mit größerer Amplitude und niedrigerer Frequenz sind jedoch oft Atomklumpen beteiligt, die sich in Beziehung zueinander gemeinsam bewegen. Bei diesen Bewegungen ist eine Beteiligung an funktionalen Phänomenen wahrscheinlicher, wie zum Beispiel der kurzlebigen Öffnung und Schließung von Kanälen, durch die kleine Moleküle ihre Bindungsstellen finden können.
Physiker haben ihr Augenmerk zunehmend auf die flickernden Bewegungen innerhalb der Proteine gerichtet. Man hat interessante Gemeinsamkeiten zwischen den für die Proteinfunktion erforderlichen Bewegungen und einem Prozess festgestellt, der als "Flüssig-Glas-Übergang" bekannt ist. Anschaulich zeigt dies das Diagramm unten, das eine vereinfachte Energielandschaft darstellt. Bei hohen Temperaturen besitzen Proteine viel Wärmeenergie (kinetische Energie). Mit Hilfe dieser Wärmeenergie können sie Barrieren zwischen Energietöpfen überwinden, was zu starken durchschnittlichen Atombewegungen führt. Dieses Verhalten ähnelt dem Verhalten in einer Flüssigkeit. Bei einem Absinken der Temperatur verlieren die Atome an Wärmeenergie, sie fallen in die Töpfe hinunter und können nicht entkommen. Dies ist die Glasphase. Wenn die Temperaturen niedrig genug sind, tendieren die Atome auf Grund ihrer geringen Wärmeenergie dazu, am Boden der Energietöpfe zu verharren, wo sie mit geringer Amplitude ruhig und brav einfach hin und her schwingen.
Der dynamische Übergang vom glasförmigen in den flüssigen Zustand wird mit der Proteinfunktion in Zusammenhang gebracht. Gemäß dieser Theorie ist ein Protein beim Schwingen am Boden der Energietöpfe nicht flexibel genug, um kleine Moleküle zu binden, Reaktionen zu katalysieren etc. Liegt die Temperatur über dem Schwellenwert, können die Atome springen. Dadurch gelangt ein Protein für einen kurzen Moment in eine Struktur, in der es eine Funktion ausüben kann. |
Mögliche Wege für strukturelle Änderungen in Proteinen vom Edukt (E) zum Produkt (P) |
Ras p21 – an (oben) / Ras p21 – aus (unten) |
Was treibt den dynamischen Übergang der Proteine an? Neue Erkenntnisse zu dieser Frage haben sich durch Computersimulationen ergeben, die Alex Tournier aus unserem Labor zur "Molekulardynamik" durchführte. Bei der Molekulardynamik werden die Bewegungsbahnen aller Atome aus den Kräften berechnet, die auf jedes Atom einwirken. Durch die Berechnung und Untersuchung dieser Bahnen zeigte Tournier, dass der dynamische Übergang im Protein durch die Schwerpunktdiffusion der hydratisierenden Wassermoleküle angetrieben wird, die das Protein umgeben. Eine Aktivierung dieser Schwerpunktdiffusion löst das "Springen zwischen Minima" der Proteinatome aus. Tournier wies ebenfalls nach, dass das "Springen zwischen Minima" der kinetischen Energie der Proteine, das am Übergang aktiviert wird, einfach durch eine geringe Anzahl gemeinsamer Proteinbewegungen aus jeweils 900 bis 1000 Atomen beschrieben werden kann. Auch wenn diese Bewegungen durch das externe Lösungsmittel aktiviert werden, setzen sie sich leicht bis in die Mitte des Proteins fort. Somit kann das Proteinhydratwasser eine entscheidende Rolle bei der Aktivierung funktionaler Bewegungen im Zentrum des Proteins spielen.
Die oben genannten flüssigkeitsartigen, flickernden Proteinbewegungen sind entscheidend für die Proteinfunktion. Daneben gibt es aber auch langsamere Bewegungen, die eine der wohl rätselhaftesten Proteinaktivitäten auslösen können. Es ist seit langem bekannt, dass eine Bindung an kleine Moleküle beziehungsweise eine Katalyse an einer Stelle innerhalb eines Proteins häufig zu einer Veränderung der Eigenschaften an einer anderen, entfernten Stelle in demselben Protein führt. Anders ausgedrückt werden Informationen irgendwie durch die Proteinstruktur weitergegeben. Dies wird durch den berühmten "allosterischen" Effekt beim Hämoglobin veranschaulicht. Hier beeinflusst die Sauerstoffbindung an eine Untereinheit die Sauerstoffbindungsaffinität in den anderen Untereinheiten. Dadurch kann Hämoglobin in der Lunge Sauerstoff aufnehmen und an andere Gewebe abgeben. Es ist nun deutlich geworden, dass viele Zellprozesse durch eine solche Informationsübertragung initiiert und gesteuert werden.
Kann man die Informationsübertragung mittels eines statischen Vorgangs entsprechend dem Schlüssel-Schloss-Prinzip erklären? Dies ist theoretisch vorstellbar. Wenn beispielsweise ein an ein Protein gebundenes kleines Molekül stark elektrostatisch aufgeladen ist, kann es sein, dass diese Ladung an einer Bindungsstelle auf der anderen Seite des Proteins spürbar ist und sich dadurch dessen Bindungseigenschaften ändern. Eindeutige theoretische und experimentelle Beweise zeigen jedoch, dass die Informationsübertragung in den meisten Fällen anders verläuft, und zwar über eine Änderung der Proteinstruktur ("Konformation"). In den vergangenen zehn Jahren wurden die experimentellen Strukturen einer Vielzahl von Proteinen veröffentlicht, die parallel zu einer Änderung des Funktionszustands ihre Struktur ändern. Viele Enzyme besitzen ein Scharnier, das bei der Bindung dicht um ein kleines Molekül schließt. Manchmal führt eine Bindung oder eine Katalyse dazu, dass ein Protein seine Struktur so ändert, dass es sich stärker oder schwächer an ein anderes Protein binden kann, wodurch Aktivität von einem Protein zum anderen innerhalb einer Zelle weitergegeben wird. Eine Änderung der Struktur ist also der häufigste Mechanismus einer Informationsübertragung.
Wie finden diese Strukturänderungen statt? Mehrere Mitglieder unserer Gruppe arbeiten seit geraumer Zeit mit Stefan Fischer zusammen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Hier hilft uns wiederum das Bild der Energielandschaft weiter. Zu einer Änderung der Struktur gehören die Übergänge zwischen zwei deutlich abgegrenzten Senken in der Energielandschaft. Man kann sich diese Übergänge mittels zweier konträrer Modelle vorstellen. Beim ersten Modell ist das Protein eine winzig kleine molekulare Maschine mit sich bewegenden mechanischen Teilen (Helices, Strängen etc.). Auf dem Weg zur Änderung der Funktion bewegen sich die starren Körper in einer klar definierten Abfolge von Ereignissen relativ zueinander, in etwa vergleichbar mit der Bewegung im Inneren eines Automotors. Übertragen auf das Bild der Energielandschaft entspricht dies einem einzigartigen Weg zwischen den Zuständen, wie in der Abbildung oben dargestellt. Der Übergang zwischen diesen beiden Endzuständen beschreibt einen Weg durch Täler und über niedrige Pässe ("Sattelpunkte") der Energielandschaft. Fischers Methode zur Ermittlung dieser Wege, das so genann-te "conjugate peak refinement", wird derzeit im Labor weiter entwickelt und auf mehrere strukturelle Änderungen von biologischer Bedeutung einschließlich des Kraftschlags bei der Muskelkontraktion angewandt.
In manchen Fällen kann jedoch die Vorstellung, dass ein Protein seine Struktur in einer klar definierten Abfolge von mechanischen Ereignissen ändert, irreführend sein. Bei dem zweiten, entgegengesetzten Modell wird angenommen, dass sich das Protein zwischen den einzelnen Zuständen teilweise entfaltet und sich in einer flachen Landschaft austobt. Wie immer liegt die Wirklichkeit vermutlich zwischen diesen beiden Modellen. Das vollständig mechanische Bild lässt sich auf Grund der großen, zufälligen Wärmefluktuationen, die stattfinden müssen, nicht auf mikroskopische Systeme übertragen. Ebenso wird die Energielandschaft in der Tat vollständig eingeebnet, wenn diese Fluktuationen derart im Vordergrund stehen, und die vektorielle Darstellung einer strukturellen Veränderung wäre unmöglich. Ein allgemein gültiges Energielandschaftsbild könnte wie in der Abbildung auf Seite 6 dargestellt aussehen. Bei diesem von Frank Noe aus unserem Labor entworfenen Modell bündeln sich Wege zu Röhren, die in der Energielandschaft durch Täler mit niedriger Energie verlaufen und die sich gelegentlich an mechanisch starren Punkten kreuzen. Weitere Erkenntnisse zur Frage der Informationsübertragung werden sich aus der Arbeit von Noe ergeben, die darauf ausgerichtet ist, die Funktionsweise von "Ras p21", einem kleinen Protein, zu erkunden. Ras existiert in zwei Zuständen (siehe Abbildung rechts. Zum einen ist Ras gebunden an ein kleines Molekül, das GTP. In diesem Zustand ist Ras aktiv und "AN" geschaltet und bindet sich an ein weiteres Protein. Auf diese Weise löst es eine Flut von Ereignissen aus, die zu Zellwachstum führen. Die Hydrolyse von GTP (bei der GDP gebildet wird) bewirkt, dass die Struktur des Proteins zu der räumlichen Anordnung "AUS" zurückkehrt, so dass es sich nicht mehr an das andere Protein binden kann. Ras ist somit ein "molekularer Schalter". Es gibt viele solcher molekularen Schalter in der Zelle, die zahlreiche Funktionen wie Zellstoffwechsel und Stofftransport durch Membranen regeln.
Die Hydrolyse von GTP ist eine chemische Reaktion, die durch Ras katalysiert wird. Das Ergebnis dieser Reaktion ist eine strukturelle molekulare Schalterumstellung. Wie läuft dieser Vorgang physikalisch ab? Ist dazu die Freisetzung von Energie aus einer energiereichen Bindung notwendig? Energie, die vorzugsweise irgendwie gezielt durch das Protein geschleust wird, um die mechanische Änderung der Funktion zu bewirken? Oder ist die Hydrolyse grundsätzlich ein Gleichgewichtsprozess, bei dem die Spaltung der GTP-Bindung einfach zu einer systematischen Verschiebung in der strukturellen Wahrscheinlichkeitsverteilung in Richtung von Zuständen führt, die als "AUS" erscheinen? Antworten auf diese grundlegenden Fragen zum Ras-Übergang werden vermutlich mehr Klarheit darüber bringen, wie viele Proteine chemische Energie in mechanische Informationsübertragung umwandeln. Seit der Aufklärung der Doppelhelixstruktur der DNA vor 50 Jahren gab es einen beispiellosen Fortschritt im Verständnis der Struktur biologischer Makromoleküle auf atomarer Ebene. In den letzten Jahren kam man jedoch mehr und mehr zu der Einsicht, dass Proteine keinesfalls statisch sind, sondern dass sich innerhalb ihrer Struktur eine reiche Vielfalt von Bewegungen abspielt. Die Beschreibung der biologischen Funktion muss demnach eine dynamische Komponente enthalten, bei der sich Teile von Proteinen relativ zueinander bewegen. Ohne diese dynamische Komponente würden die meisten Proteine nicht funktionieren, und ein Großteil der Proteinfunktion könnte überhaupt nicht erklärt werden, insbesondere die entscheidende Komponente der biologischen Aktivität, bei der sich ein Protein von einer Struktur in eine andere umwandelt. Erst wenn wir ein vollständiges Bild davon haben, wie diese komplexen dynamischen Prozesse in einem Protein ablaufen, können wir endgültig behaupten, dass wir verstehen, wie ein Protein funktioniert. Das Konzept einer "Energielandschaft" bildet den theoretischen Rahmen, um unser Denken in dieser Hinsicht zu beflügeln.
Autor:
Prof. Dr.
Jeremy C. Smith
Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftliches
Rechnen (IWR), Im Neuenheimer Feld 368, 69120 Heidelberg,
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