Meinungen
Ein Solitär für die Krebsmedizin und die Krebsforschung
Mehrere Erhebungen weisen darauf hin, dass die Heilungschancen für deutsche Krebspatienten im internationalen Vergleich nicht zufrieden stellend sind. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass die Krebsmedizin nach wie vor im traditionellen Fachdenken verharrt. Tumoren halten sich jedoch häufig nicht an Fach- beziehungsweise Organgrenzen. In den USA und anderen Ländern hat man sehr gute Erfahrungen mit fachübergreifenden Zentren zur Betreuung von Krebspatienten und Erforschung von Krebserkrankungen gemacht, in denen jeder Patient von einem Expertenteam betreut wird – so genannte "Comprehensive Cancer Centers" (CCC).
Im Juli 2003 ist eine einzigartige Kooperation zwischen dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), dem Universitätsklinikum Heidelberg sowie der Thoraxklinik Heidelberg an den Start gegangen. Aus dieser gemeinsamen Initiative entwickelt sich nach und nach ein interdisziplinäres onkologisches Zentrum nach dem Modell der CCC. Ziel ist die enge Verknüpfung von Patientenversorgung und hochkarätiger Forschung, die es in dieser Form in Deutschland noch nicht gibt. Die neue Einrichtung wird den Namen "Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg" (NCT) tragen.
Im Mittelpunkt des NCT steht eine interdisziplinäre Tumorambulanz, die sich zur zentralen Anlaufstelle für Krebspatienten in Heidelberg entwickeln soll. In dieser Einrichtung untersucht ein interdisziplinäres Team von Spezialisten alle Patienten und legt gemeinsam den weiteren Diagnose- und Therapieplan nach dem bestmöglichen Standard fest. Beteiligt sind Vertreter aller Fachdisziplinen, die der Patient auf seinem weiteren Weg braucht, also Chirurgen, Internisten, Radiologen, je nach Tumorart auch Gynäkologen, HNO-Ärzte, Dermatologen etc. Schon jetzt werden in den Heidelberger Kliniken jährlich mehr als 8000 Tumorpatienten behandelt, die künftig alle an diese zentrale Adresse verwiesen werden sollen. Die Attraktivität einer solchen zentralen Einrichtung wird in Zukunft weitere Patienten nach Heidelberg ziehen, zum Beispiel Betroffene, die sich vor Beginn einer Therapie eine zweite Meinung einholen möchten. Auch möchte das NCT mit Krankenhäusern der Umgebung und niedergelassenen Ärzten zusammenarbeiten.
In einer Pilotphase ist das NCT bereits angelaufen. Seit Juli 2003 werden erste interdisziplinäre Sprechstunden im Otto-Meyerhof-Zentrum der Universität Heidelberg angeboten, das dem Gemeinschaftsprojekt ein vorläufiges Zuhause bietet. Zunächst können aus organisatorischen Gründen nur Patienten mit Leukämien, Lymphdrüsen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie Knochenmarks-, Weichteil- und Dickdarmtumoren diese Möglichkeit in Anspruch nehmen. Nach und nach wird das Angebot auf alle Tumorarten ausgeweitet. Spätestens bis Ende 2005 sollen alle Fachkliniken der Universität ihre jeweiligen Tumorambulanzen in die interdisziplinäre Kooperation des neuen Zentrums transferiert haben. Ich möchte ganz ausdrücklich betonen, dass ohne das große Engagement unserer klinischen Partner, die hier ein erhebliches Maß an Vorleistung erbringen, die Realisierung unserer ehrgeizigen Pläne noch in weiter Ferne läge. Für die kommissarische Leitung des NCT in dieser wichtigen Aufbauphase konnten wir Professor Volker Diehl gewinnen, den ehemaligen Direktor der Medizinischen Klinik I der Universität zu Köln. Der renommierte Arzt, Wissenschaftler und Forschungsmanager wird seine Erfahrung dazu nutzen, um das Heidelberger NCT zu einer Einrichtung von nationaler Bedeutung auszubauen.
Den einmaligen Charakter des neuen Zentrums macht jedoch nicht allein die klinische Komponente mit der interdisziplinären Tumorambulanz aus. Ein zweites wesentliches Element ist die enge Verknüpfung mit der hochkarätigen Forschung am Deutschen Krebsforschungszentrum. Das DKFZ bringt zwei anwendungsnahe Forschungsbereiche sowie Technologien, Service- und Informationsdienste in das NCT ein. Im Bereich "Experimentelle Diagnostik und Therapie" sollen neue Strategien gegen bösartige Tumoren entwickelt werden, die das bestehende Spektrum von Chirurgie, Bestrahlung und Chemotherapie ergänzen. Aufgaben des zweiten Bereichs, der "Präventiven Onkologie", sind vor allem die Früherkennung und Prävention von Krebskrankheiten. Hier sollen zunächst Risikofaktoren aus Beruf und Umwelt, Ernährung und individueller Gen-Ausstattung identifiziert werden, die zur Entwicklung einer Krebserkrankung beitragen.
Es ist das erklärte Ziel unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deutlich näher an die Klinik heranzurücken, um die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung gezielter und schneller in die Patientenversorgung übertragen zu können. Denn trotz viel beachteter Fortschritte in der Krebsforschung gelingt uns diese Translation noch nicht in ausreichendem Umfang. Dies mag nicht zuletzt durch die mangelhafte Verknüpfung zwischen Klinik und Forschung bedingt sein. Bis ein viel versprechender neuer Ansatz in die Krankenversorgung integriert ist, vergeht in Deutschland zuviel Zeit – Zeit, die für die Prognose der Patienten unter Umständen entscheidend ist.
Aus dem Blickwinkel der Forschung verspricht das NCT erhebliche wissenschaftliche Synergien, unter anderem durch die Möglichkeit, klinische Studien mit hohem Qualitätsanspruch realisieren zu können. Von elementarer Bedeutung ist dabei die zentrale Dokumentation der klinischen Daten und der parallele Aufbau einer Tumorgewebe- und Serumbank nach modernstem Standard, die der Forschung zur Verfügung stehen wird. Aus dem Blickwinkel des Universitätsklinikums ergibt sich die Möglichkeit der realen Verknüpfung von Fachdisziplinen, der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen, einer neuen Fort- und Weiterbildung für das gesamte Feld der Onkologie und der Profilierung als überregionales onkologisches Zentrum mit einem umfassenden Beratungsangebot.
Was die Finanzierung des neuen Zentrums angeht, sind wir optimistisch. Vonseiten des DKFZ bringt die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V. (HGF) zunächst etwa 15 Millionen Euro in das NCT ein. Das Universitätsklinikum beteiligt sich im Gegenzug mit weiteren zehn Millionen Euro. Natürlich braucht das neue Zentrum auch ein gemeinsames Dach. Derzeit laufen Gespräche mit einer großen Förderorganisation, die sich sehr wahrscheinlich mit der Finanzierung eines Gebäudes für das NCT im Neuenheimer Feld einbringen wird. Dieses möchten wir bereits Ende 2005 fertig gestellt sehen.
Wir sind sehr zuversichtlich, dass durch die enge Partnerschaft von Deutschem Krebsforschungszentrum und Universitätsklinikum eine deutschlandweit einmalige Einrichtung entsteht, von der letztlich alle Beteiligten profitieren werden. Sie soll Modellcharakter für weitere onkologische Zentren in Deutschland haben und auch die Zusammenarbeit zwischen der HGF und der Universität auf eine neue Grundlage stellen. Im Mittelpunkt der gebündelten Aktivitäten stehen jedoch die Krebspatienten, deren Prognose und Lebensqualität wir gemeinsam verbessern wollen.