Der ununterbrochene Dialog: Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida
In der Philosophie sind Beruhiger und Verführer wie Fisch und Vogel: Sie begegnen sich selten, noch seltener unternehmen sie es, ein gemeinsames Nest zu bauen. Wo dies aber dennoch versucht wird, handelt es sich um einen spannenden Moment der Philosophiegeschichte, den Martin Gessmann vom Philosophischen Seminar am Beispiel von Hans-Georg Gadamer und des unlängst verstorbenen französischen Intellektuellen Jacques Derrida beschreibt.
Jaques Derrida während seiner Trauerrede auf seinen Freund und Weggenossen Hans-Georg Gadamer, der im Jahr 2002 in biblischem Alter verstarb. Als Vertreter der Gadamer-Professur sollte Derrida im Sommer 2005 Gast in Heidelberg sein. Dazu ist es nicht mehr gekommen: Jaques Derrida starb Anfang Oktober in Paris. |
In der Philosophie gibt es Beruhiger und Verführer. Für die Beruhiger ist grundsätzlich alles schon einmal da gewesen, wirklich Neues in der Welt gibt es nicht. Überall lassen sich Vorläufer und Vorbereiter finden, die uns das Unbekannte auch wiederum bekannt vorkommen lassen, vermittelt durch Kontext, Herkunft und Tradition. Der Beruhiger will, dass wir uns philosophisch in der Welt einrichten, und jedes dazu beigebrachte Fundstück taugt durch geschicktes Arrangement am Ende zur weiteren Möblierung unserer geschichtlichen Erdenwelt.
Die Auseinandersetzung zwischen Hans-Georg Gadamer und Jaques Derrida begann in den frühen 80er Jahren. Im Grunde ging es darum, auf das gemeinsame Erbe Heideggers zurückzublicken und sich gegenseitig Rechenschaft über die Trennung der Wege abzulegen. |
Der Verführer dagegen findet alles grundsätzlich staunenswert, noch nie da gewesen, unberechenbar und ereignishaft über uns hereinbrechend. Deshalb muss jeder Stein aufgehoben und ans Licht gehalten werden, so als sei er gerade vom Himmel gefallen und als könnte er von geheimnisvoller Herkunft und dunkel leuchtenden Seiten unseres Daseins Kunde geben. Im Grunde ist für den Verführer die ganze Welt fremd und eine Art Exil, und seine philosophische Aufgabe ist es beständig, uns die Notausgänge zu weisen.
Beruhiger und Verführer in der Philosophie sind wie Fisch und Vogel. Sie begegnen sich äußerst selten, noch seltener unternehmen sie es, ein gemeinsames Nest zu bauen: Aber wo dies auch nur versucht wird, handelt es sich klarerweise um einen der spannenden Momente der Philosophiegeschichte. Ein solcher könnte die Begegnung zwischen dem Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer und dem Pariser Intellektuellen Jacques Derrida gewesen sein – ganz sicher zumindest mit Blick auf den staunenswerten Ausgang, den das Heidelberger Publikum vor einem Jahr miterleben durfte, als kein anderer als Jacques Derrida die Trauerrede auf den im biblischen Alter verstorbenen Freund und Weggenossen gehalten hat.
Auch im Falle Gadamer und Derrida war es nicht anders, als dass die Wege erst einmal konsequent aneinander vorbeiliefen – verständlicherweise in gewissem Sinn, wenn man voraussetzt, dass rechts- wie linksrheinisch jeder für sich erst einmal die philosophischen Nachkriegsverhältnisse neu sortieren musste. Derridas Pariser Anfänge fallen in die 60er Jahre, in eine Phase intellektueller Austreibung der "spectres de Marx", durch die eine neuerliche Öffnung der Geschichte nach den Katastrophen der Weltkriege wieder denkbar werden sollte. Gadamers Wirkung als Rektor in Leipzig, später als Doyen der Hermeneutik in Heidelberg verdankt sich nicht zuletzt dem Willen zum Wiederaufbau und zur Konsolidierung der Geisteswissenschaften.
Die Auseinandersetzung beider beginnt erst in den frühen 80er Jahren und erscheint damit fast schon in Form einer Retrospektive. Im Grunde geht es in der Tat schon darum, auf das gemeinsame Erbe Heideggers zurückzublicken und sich gegenseitig Rechenschaft über die Trennung der Wege abzulegen. Der entscheidende Impuls für beide war Heideggers Opposition zur modernen Wissenschaftsgläubigkeit. Diese geht nach Heidegger schon soweit, dass wir den Kontakt zur Welt, wie sie von sich aus wirklich ist, bereits verloren haben, indem wir unsere Gitternetze der Verrechnung und möglichen Vernutzung über sie legen und überhaupt nur als wirklich akzeptieren, was sich wissenschaftlich explizieren lässt. Als mögliche Therapie schlägt der frühe Heidegger eine radikale Sprachkritik vor, in der die modernen Schichten der sprachlichen Verstellung solange abgetragen werden, bis wir wieder auf den ontologischen Grund einer scheinbar intakt gebliebenen "Lebenswelt" stoßen. Der späte Heidegger wird sich eingestehen, dass diese "Destruktion" eine herkulische und zuletzt unlösbare Aufgabe ist, die keinem Denker der Moderne mehr gelingen kann. Aus der Ernüchterung folgt, dass man sich mit einer internen "Verwindung" des Technik-"Gestells", in dem wir allseits gefangen bleiben, begnügen muss.
Gadamer wie Derrida haben aus diesem Scheitern strategisch unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Gadamer meint, das Heidegger'sche Unternehmen müsse konsequent heruntergestimmt werden. Die Vorstellung vom existenzialistischen Kraftakt sei falsch, es gelte vielmehr, die Last kulturellen Neuanfangs von den Schultern der Riesen zurück in die Hände der bewährten humanistischen Bildung zu geben. Nur im geduldigen Gespräch mit der Tradition könne uns auf verlässliche Weise eine Besinnung auf das gelingen, was in der Moderne für immer verloren scheint.
Ganz anders Derrida. Heideggers hochgestimmter Turmbau sei das einzig Richtige gewesen, nur gelte es jetzt, die späte Verzweiflung am Irrlauf der Moderne noch als Signal zum Aufbruch zu werten. Der bei Heidegger schon verloren gegebene Horizont zukünftiger Kulturwende wird umgedeutet zu einer vorweggenommenen Gegenwart der Postmoderne. Aus dem Rückschein ontologischer Abendstimmung gewinnt Derrida noch das Zwielicht, in dem jetzt schon alle Dinge eine Verheißung in sich bergen, wie paradox diese auch immer sein mag.
Auf lange Sicht schien die Frage um die wahre Erbfolge wohl unausweichlich, und als es dann tatsächlich zum ersten Treffen in Paris im April 1981 kam, hat das Goetheinstitut, als dessen Veranstalter, entsprechend gleich auf eine mögliche Konfrontation gesetzt. Das damalige Tagungsthema lautete "Text und Interpretation", und die Fragen um Verstehen und Auslegen von Schrift und Bedeutung sind, wenn man so will, einerseits der "common ground", andererseits aber auch ein "marching field", auf dem sich die ungleich gewordenen Brüder im Geiste gleichermaßen begegnen können sollten. Heideggers Monitum war es ja schon gewesen, dass wir in gewissem Sinne nicht mehr in der Lage sind, die Welt richtig zu "lesen" – derart, dass wir in unserer wissenschaftlichen Voreingenommenheit nicht mehr das richtige Wort finden können, mit dem wir angemessen sprechen, und zwar so, dass es auch unserer Lebenswirklichkeit entspricht.
Gadamers humanistisches Bildungsprogramm hat daraus eine Ethik des Gesprächs entwickelt, die er gegen das monologische Diktat der Wissenschaftssprache gestellt sehen wollte. Wenn es uns nur gelingt, in ein ernsthaftes Gespräch über den "Text-Sinn" unserer Welt zu kommen, ließe sich, das ist Gadamers methodische Hoffnung, die Borniertheit des Szientismus, seine Einsilbigkeit der Weltdeutung, das Immer-Gleiche seiner schematischen Weltauffassung, auf Dauer gesehen vielleicht nicht ganz überwinden, aber doch in den Konsequenzen, für uns Humanisten zumindest, erträglich machen. Ausgangspunkt dafür sollte eine Relektüre der Art und Weise werden, wie wir überhaupt mit dem Anspruch auf Sinnvermittlung mit Texten umgehen. So gewinnt das Projekt der Modernekritik Anschluss an das uralte Unternehmen der "Hermeneutik", der es ja seit Menschengedenken um die rechte Art der Auslegung von Text und Überlieferung geht.
Erstaunlich ist hier, dass Derrida auch in diesen Auslegungsfragen wiederum dem späten Heidegger zumindest der Intention nach näher steht. Heidegger hatte als Reaktion auf die moderne Sinnentleerung unserer Welterfahrung es auch nicht mehr auf sich nehmen wollen, Gadamers Option des "deuteros plous" zu folgen, also eine zweite, umwegige Fahrt "gegen den Wind" aufzunehmen, wie es bei Platon heißt: gemeint als Einübung einer seriösen Gesprächskultur, die lange Wege der Urbanisierung gehen muss, um als ein abendländisches Generationenprojekt erneut zu gelingen. Heidegger sah die Zuflucht vielmehr – und wie schon vor ihm mancher Romantiker und im Grunde auch Nietzsche noch – in der Hoffnung auf das einmalige Aussprechen eines uns für immer erlösenden "Zauberwortes", zu finden für Heidegger nur noch in wirklich großer Dichtung, vor allem in den späten Hymnen Hölderlins. Nur durch eine poetische Stilisierung der Sprache, die so weit geht, dass alle Formen der wissenschaftlichen Sprachherrschaft schließlich in eine dichterische Schwebe gebracht werden, nur unter Voraussetzung dieser Künstlichkeit ließe sich angesichts einer bevorstehenden "Weltnacht" noch das "Ohr" für die vergessenen Seinsbotschaften wieder freibekommen.
Wer ihm gegenüber "auf Differenz besteht", sagte Gadamer einmal, "steht am Anfang eines Gespräches, nicht an seinem Ziele".
Derrida geht es auch hier darum, zuerst einmal wieder die Heidegger'sche Hochstimmung von Philosophie zur Dichtung grundsätzlich beizubehalten. Gleichzeitig geht es Derrida aber auch darum, den lyrischen Rest deutscher Romantik in der Heidegger'schen Allianz von "Dichten und Denken" im besten Sinne noch "herauszulesen". Die Suche nach dem "Zauberwort", mit dem die Welt für Heidegger dermaleinst wieder zum seinsgeschichtlichen Klingen gebracht werden sollte, ist für Derrida selbst noch der Ausdruck eines letzten Andenkens an philosophische Fabelwelten. Denn nach dem Scheitern der Utopien der Moderne wissen wir schon nicht einmal mehr, wo, in welcher Richtung, an welchem fernen Ort der verlassene Gral überhaupt gelegen haben mag, und schon die Deutung der Dichtung setzt demnach ein Vertrauen in das Wort voraus, das wir philosophisch gar nicht mehr einlösen können. An die Stelle des Zauberwortes tritt deshalb für Derrida konsequent ein postmoderner Wortzauber, in dem in allem und jedem Begriff – also nicht nur im Dichter- und Denkerwort – ein tief verborgen Lied "schlummert", das es zu erwecken gilt. Wie der einstige Kultusminister Jack Lang seit den 80er Jahren die Alltagskultur zu einer französischen Erfindung gemacht hat, deren Dauerfeier inzwischen zum grenzüberschreitenden Gesamtkulturprojekt geworden ist, so hat auch Derrida in den uns vertraut scheinenden Alltagsgesten, wie zum Beispiel jenen der "Gabe", des "Schenkens", des "Vertrauens" oder der "Freundschaft" bis heute immer neue Feierstücke vorzuführen gewusst.
Man darf sich dabei vom äußerlichen Charakter der Veranstaltung allerdings nicht täuschen lassen: Jene lustvolle Demokratisierung im "dekonstruktiven" Wettstreit macht im Vergleich zum hymnischen Denken Heideggers den Orientierungsverlust in der Moderne nicht geringer, im Gegenteil. Die virtuose Inszenierung des Alltäglichen gelingt umso besser, je mehr die Dinge im täglichen Umgang mit ihnen bereits wesentlich an Konsistenz verloren haben. Nur wenn wir schon nicht mehr unmittelbar und unvoreingenommen wissen, was es heißt, einen echten Freund zu haben, wenn wir den Sinn für das wahre Geschenk verlieren und Vertauen nur noch eine strategische Vokabel ist; nur dann gelingt es uns auch wirklich, über die philosophische Vielgesichtigkeit, das Changierende und Schillernde, Gemeine und Abgründige wie Sublime und Unerreichbare in jenen Begriffen ohne Bitterkeit zu staunen.
Weil da gar kein Wesen mehr hinter der Maske zum Vorschein kommt, wenn sie wie spielerisch den Gegenständen vom Gesicht genommen wird, spricht Derrida von seiner Philosophie auch konsequenterweise als von einer Art Spurensuche. Nur das, was den vermeintlichen Abdruck bildet von dem, was wir einmal als wirklich vorübergegangen glauben, steht unserer Analyse noch zur Verfügung. Und es ist das Paradox auch dieses philosophischen Spurenlesens, dass dort der Ehrgeiz nur weiter wächst, wo die Spuren immer ungewisser, sprich "unleserlicher" werden. Je mehr wir vermuten, deuten, spekulieren müssen, was hier gewesen sein und in welcher Wesensrichtung es sich uns entzogen haben mag, umso unerlässlicher wird die Suche und umso unbegrenzter die Mittel, die wir gewillt sind einzusetzen als Reaktion auf den Schmerz des unvermeidlichen Versagens.
Die postmoderne Entzauberung von Heideggers später Begriffslyrik scheint diesen Preis zu verlangen: dass wir schließlich auch noch aus dem Fuchsbau der Melancholie über das "pereat mundus" herausgetrieben werden und in unendlichem Eifer über eine irre gewordene Moderne nicht anders können, als ständig und immer wieder schon längst "verlorene Schlachten", wie Derrida sagt, von neuem zu schlagen, gerade so, als wäre es das erste Mal. Es ist dies auch eine Form der Anamnese dessen, was Heidegger die abendländische "Seinsvergessenheit" genannt hat, aber eine solche, die, weil schon nichts mehr in Wahrheit ab- und aufzuarbeiten ist, nur noch in einer Dauervergewisserung unserer eigenen Ortlosigkeit innerhalb jener "Seinsgeschichte" enden kann. Aber auch so, könnte man es noch einmal mit Derrida zumindest positiv verstehen, sind wir immerhin noch auf dem Grenz-Wege unterwegs zu dem, was sich uns als die endliche und endgültige Erfüllung unserer Sinnerwartungen an die Welt ständig entzieht. Wir probieren beständig von neuem wieder die unterschiedlichsten Schlüssel, die das Tor zum verheißenen Land aufstoßen könnten, auch wenn wir schon vorher wissen, dass uns das Rätsel des Öffnungsmechanismus nur jedes Mal undurchdringlicher erscheinen wird. Und die Aufgabe der Philosophie ist es, jene Verführung, es nochmals und von vorn beginnend zu versuchen, nie enden zu lassen. Die Philosophie nach Derrida ist gar nichts anderes als jene Verführung.
Verführer und Beruhiger haben fast zwei Jahrzehnte miteinander gerungen. Der eine mit der Versuchung, wie verführerisch es sein könnte, doch noch in der großen Runde humanistischer Traditionsbildner Platz zu nehmen, vielleicht auf dem speziell ausgezeichneten Ehrenplatz des Dissidenten – der andere mit der Möglichkeit einer Beruhigung, selbst doch auch noch zu jenen Verführern zu gehören, die mit der Kraft der außerordentlichen Vision das Abendland immer wieder aus kulturellen Wüsteneien geführt haben. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass die Versuchung lange Zeit von Seiten Gadamers größer war als umgekehrt. Ausgeschlagene Einladungen, abgebrochene Gespräche – das "couper court" Derridas ließ in Gadamer in gesteigertem Maße den Wunsch aufkeimen, endlich zu verstehen, was sich ihm in Gestalt von Derrida beständig entziehen wollte.
Wer ihm gegenüber "auf Differenz besteht", sagte Gadamer einmal, "steht am Anfang eines Gespräches, nicht an seinem Ziele". Vielleicht ist es gerade jene paradoxe Hoffnung auf Zusammenkunft gewesen, die im Scheitern des Gesprächs offensichtlich neue Nahrung zum wiederholten Versuch gewonnen hat, die am Ende Derrida von einer geheimen Seelenverwandtschaft überzeugt haben mag. Dass Gadamer sich hier verführen ließ, musste Derrida beruhigen, und umgekehrt musste es Gadamer später zur Beruhigung werden, dass sich auch Derrida dabei offenbar selbst verführen ließ: Indem noch der Abbruch und die Unterbrechung des Gesprächs, sein wiederholtes Scheitern, als dessen paradoxe Fortsetzung zu begreifen war. Wenn es überhaupt eine Überschrift über jene philosophische Freundschaft geben kann, die jenem Paradox angemessen erscheint, dann ist sie sicher schon im Titel von Derridas Trauerrede auf Gadamer gültig festgeschrieben: Le dialogue ininterrompu – Der ununterbrochene Dialog ist nichts anderes als jenes von Gadamer immer herbeigewünschte Gespräch, das sich aus der Sicht Derridas alleine durch die doppelte Verneinung des ununterbrochenen Versuchs eines ununterbrochenen Gesprächs auf eine einzigartige Weise realisieren konnte.
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