Oft übersehen und ungenutzt – die produktiven Kräfte des Alters
Die heutige gesellschaftliche Auseinandersetzung über das Alter wird primär aus der Sicht möglicher Belastungen des sozialen Sicherungssystems geführt. Hingegen werden die möglichen Gewinne, die der Gesellschaft aus dem sozialen Engagement vieler älterer Menschen erwachsen, zu selten berücksichtigt. Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie beschreibt die produktiven Kräfte des Alters und plädiert dafür, unser bisheriges gesellschaftliches Altersbild zu korrigieren.
Altern wird in unserer Kultur
hauptsächlich im Sinne von Defiziten interpretiert und nicht im Sinne
der Entwicklung von seelischen und geistigen Ressourcen. Mit dieser
einseitigen Sicht des Alterns und Alters ist das Problem verbunden,
dass die potenzielle gesellschaftliche Produktivität des Alters
unerkannt bleibt: Erfahrungen und Wissenssysteme älterer Menschen
werden in unserer Gesellschaft viel zu selten genutzt. Als Mitglied des
vom Generalsekretär der Vereinten Nationen einberufenen, 15-köpfigen
wissenschaftlichen Komitees zur Erstellung des "International Plan of
Action on Aging", der im April 2002 von den Vereinten Nationen
verabschiedet wurde, hatte ich die Möglichkeit, altersfreundliche
Kulturen in anderen Gesellschaften kennen zu lernen. Als
altersfreundlich erschienen mir diese Kulturen vor allem in der
Hinsicht, als die Erfahrungen und das Wissen älterer Menschen in den
verschiedenen sozialen Systemen – von der Familie bis hin in politische
Entscheidungsorgane – nicht nur genutzt, sondern ausdrücklich
nachgefragt wurden. Hinzu kam, dass in diesen Kulturen
Generationenbeziehungen vorherrschend waren, in denen Ältere ebenso wie
Jüngere Verantwortung übernahmen, vor allem die Vermittlung von Wissen,
die Mitwirkung bei der Lösung von Konflikten innerhalb der Familie, der
Nachbarschaft oder der Gemeinde, sowie die Unterstützung nachfolgender
Generationen bei der Bewältigung alltagspraktischer oder psychischer
Probleme. Besonders eindrucksvoll waren die Beispiele des "aktiven"
oder "mitverantwortlichen Lebens" – um hier einen von Hannah Arendt
verwendeten Begriff zu wählen – in zentralafrikanischen Ländern, in
denen aufgrund der Aidsepidemie die mittlere Generation stark
geschrumpft oder gesundheitlich geschwächt ist. Hier übernimmt vielfach
die ältere Generation die Betreuung der jüngsten Generation und –
sofern die Angehörigen der mittleren Generation noch leben – zugleich
die Betreuung der mittleren Generation. Die möglichen "Stärken" oder
"Kräfte" des Alters sind hier besonders deutlich sichtbar.
In mehreren interdisziplinären Forschungsprojekten haben wir uns
bemüht, die Analyse objektiver Entwicklungsverläufe in
biologisch-physiologischen, psychologischen und soziologischen
Parametern um die Innensicht der Person zu ergänzen. Für diese
Forschungsprojekte ist es also typisch, dass den
Untersuchungsteilnehmern auch die Möglichkeit gegeben wird, ausführlich
über das subjektive Erleben des eigenen Alters zu berichten.
Produktivität im Beruf
Die Frage nach der beruflichen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer hat uns in mehreren empirischen Untersuchungen beschäftigt. In einer dieser Untersuchungen haben wir eine ausführliche Unternehmensbefragung durchgeführt, die dazu dienen sollte, aus der Sicht der Betriebs- und Unternehmensleitung eine Bewertung der beruflichen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhalten. Auf der Grundlage einer umfangreichen Pilotstudie wurde ein Kategoriensystem entwickelt, mit dessen Hilfe in einer für die Bundesrepublik Deutschland repräsentativen Fragebogenuntersuchung spezifische berufliche Stärken älterer Arbeitnehmer identifiziert wurden. Vertreter von 750 Betrieben und Unternehmen aus der ganzen Bundesrepublik Deutschland wurden zunächst um eine allgemeine Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Vergleich zu jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gebeten, ehe sie Aussagen zu spezifischen Stärken älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer treffen sollten. Im Folgenden sind jene acht Bereiche, in denen besondere Stärken gesehen werden, nach der Häufigkeit ihrer Nennung geordnet aufgeführt:- Integration verschiedenartiger Arbeitsabläufe im Sinne synthetischen Denkens
- Überblick über ein Arbeitsgebiet
- Elaborierte, gut organisierte und leicht abrufbare Wissenssysteme in Bezug auf ein Arbeitsgebiet
- Hoch effektive Handlungsstrategien in Bezug auf ein Arbeitsgebiet
- Sozialkommunikative Kompetenz
- Hohe Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitsplatz
- Hohe Arbeitsmotivation
- Vorbildfunktion für jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Im nachberuflichen Bereich ist vor allem das zivilgesellschaftliche Engagement als eine Form der Produktivität zu nennen, in der sich Kräfte des Alters zeigen können. Im Kontext einer mehrjährigen interdisziplinären Interventionsstudie hatten wir die Aufgabe, in zwei Modellstädten die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement älterer Menschen sowie Effekte dieses Engagements auf das Selbstkonzept im Alter zu erfassen. Es wurden 400 Personen im Alter von 60 bis 82 Jahren bis zu fünfmal untersucht, wobei sich 300 Personen zivilgesellschaftlich engagierten und 100 Personen (als Vergleichsgruppe) kein bürgerschaftliches Engagement zeigten. Die Analysen zeigten, dass sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern durch die Möglichkeit zum zivilgesellschaftlichen Engagement statistisch hoch signifikante Effekte in verschiedenen Bereichen des Selbstkonzepts erzielt werden. Positive Effekte ermittelten wir sowohl im "leistungsbezogenen Selbst" als auch im "sozialen Selbst", das heißt, diese Art des Engagements fördert das subjektive Leistungserleben sowie die subjektiv gedeutete soziale Teilhabe. Darüber hinaus ermittelten wir einen signifikanten Anstieg in der Lebenszufriedenheit sowie eine signifikante Abnahme in psychologischen Belastungswerten und psychosomatischen Störungen.
Mitverantwortliches Leben
Bedeutende Hinweise auf mögliche Formen der Produktivität älterer Menschen fanden wir auch in einem Projekt, das sich mit Fragen der sozialen Identität und des Lebensrückblicks von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung beschäftigt. Im Laufe dieses Projekts haben wir mehr als 300 zum Teil mehrtägige Interviews mit ehemaligen jüdischen Lagerhäftlingen und ehemaligen jüdischen Emigranten in verschiedenen Ländern der Welt (USA, Argentinien, Israel, Polen, Deutschland) geführt. Im Anschluss an umfangreiche Voruntersuchungen, in deren Verlauf wir auch von der Zusammenarbeit mit mehreren jüdischen Flüchtlingsorganisationen und Hilfsvereinen, Historikern und Fachkollegen in Ost- und West-Europa, Israel, Südamerika und den Vereinigten Staaten profitierten, wurden Formen psychischer Auseinandersetzung mit reaktivierten Traumata in einer Stichprobe von insgesamt 68 ehemaligen Lagerhäftlingen und 180 ehemaligen Emigranten analysiert. Mit Hilfe gruppierender statistischer Verfahren (Clusteranalysen) konnten wir fünf Formen psychischer Auseinandersetzung differenzieren. Eine Form der Auseinandersetzung ließ sich mit dem Begriff der "Erlebten Mitverantwortung" umschreiben. Hier dominierte das Engagement für andere Menschen – vor allem für Angehörige jüngerer Generationen – mit dem Ziel, deren Eintreten für Demokratie zu fördern. Dieses Engagement kam zum Beispiel darin zum Ausdruck, dass sie an einzelnen Unterrichtsstunden teilnahmen und mit den Schülerinnen und Schülern über historische ebenso wie über politische Fragen diskutierten. In diesem Engagement erblickten sie auch eine bedeutende Hilfe für die bessere psychische Bewältigung der Erinnerungen an Verfolgung und Internierung.Altersbilder
Wie wird Alter in unserer Gesellschaft wahrgenommen? Inwieweit lassen sich unterschiedliche Deutungen von Alter und Altern auf die Ausprägung unterschiedlicher sozialstruktureller Merkmale zurückführen? Inwieweit werden in unserer Gesellschaft Konflikte zwischen den Generationen beobachtet oder befürchtet? Diesen Fragen sind wir in einer nach sechs sozialstrukturellen Merkmalen geschichteten, für Gesamtdeutschland repräsentativen Stichprobe von insgesamt 1.275 Menschen im Alter zwischen 45 und 75 Jahren nachgegangen. Wir fanden in dieser Studie vier grundlegende Deutungsmuster des Alters. Eine Übersicht über diese Altersstereotype gibt unten stehende Tabelle.Wir sind nun der Frage nachgegangen, inwieweit Merkmale der objektiven Lebenssituation und der subjektiv wahrgenommenen Lebenssituation Einfluss darauf ausüben, mit welchen Deutungsmustern des Alters sich Menschen primär identifizieren. Die Ergebnisse der statistischen Analyse (multiple Regressionsanalyse) zeigten, dass unter den objektiven Lebensbedingungen vor allem der Erwerbstätigkeitsstatus, der Familienstand, finanzielle Ressourcen, die Arbeitslosenquote in der Region und die Zugehörigkeit zu den neuen vs. alten Bundesländern bedeutsame Vorhersagefaktoren der vier Deutungsmuster des Alters bilden. Die objektiv gegebenen Lebensbedingungen üben also großen Einfluss darauf aus, ob Alter eher im Sinne des "Gewinns" oder des "Verlusts" bzw. eher im Sinne eines "Potenzials für unsere Gesellschaft" oder eher im Sinne "gesellschaftlicher Belastungen" interpretiert wird. Unter den subjektiv wahrgenommenen Lebensbedingungen waren die soziale Integration, Potenziale und Barrieren eines mitverantwortlichen Lebens, die Leistungsfähigkeit sowie die finanzielle Situation statistisch bedeutsam.
Zudem ließ sich nachweisen, dass gerade jene Menschen, die arbeitslos geworden waren, dazu tendieren, das Alter als eine Lebensphase zu deuten, in der Menschen in besonderem Maße von gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt sind. Auffällig war, dass sich in dieser Gruppe Menschen als "alt" erlebten – und dies im negativen Sinne, also im Sinne der mit Alter einhergehenden Risiken und Verluste -, die erst 45 oder 50 Jahre alt waren.
Rehabilitationspotenziale
Erste Ergebnisse einer Untersuchung, in der Aussagen zu den Rehabilitationspotenzialen im Alter auf der Grundlage von Rehabilitationsverläufen bei N = 250 Schlaganfallpatienten (Altersbereich: 65 bis 90 Jahre) getroffen werden sollen, deuten darauf hin, dass Rehabilitationspotenziale bis in das höchste Alter gegeben sind. Zu vier Messzeitpunkten werden die kognitive Leistungsfähigkeit, alltagspraktische Fertigkeiten, der körperliche und psychische Gesundheitszustand sowie spezifische körperliche, kognitive und psychische Symptome erfasst. Unabhängig vom Lebensalter lassen sich in den genannten Merkmalen statistisch signifikante Verbesserungen nachweisen. Die Ablehnung einer Rehabilitationsmaßnahme allein aufgrund des fortgeschrittenen Alters ist somit nicht zu rechtfertigen. Analysen zum Einfluss von Begleiterkrankungen (Komorbidität) auf den Rehabilitationsverlauf machen deutlich, dass sich vor allem das Vorliegen einer depressiven Störung negativ auf den Rehabilitationsverlauf auswirkt.Den Gegenstand weiterer Forschungsprojekte bildet die Frage, inwieweit bei demenzkranken Menschen durch eine aktivierende Betreuung und Pflege zur Linderung der kognitiven Symptomatik und der Verhaltensauffälligkeiten beigetragen werden kann. Dabei konzentrieren wir uns mehr und mehr auf demenzkranke Patienten, bei denen die verbale Kommunikationsfähigkeit erheblich verringert ist und die aus diesem Grunde vorwiegend auf dem Wege der nonverbalen Kommunikation angesprochen werden. Hier wurde in unserem Institut die in den USA entwickelte Methode der mimischen Ausdrucksanalyse (Facial Action Coding System) speziell auf die Analyse des mimischen Ausdrucksverhaltens demenzkranker Menschen adaptiert. Dabei konnten wir in Studien, die in stationären Einrichtungen der Altenhilfe durchgeführt wurden, bislang 50 demenzkranke Menschen in ihrer Interaktion mit dem Pflegepersonal videogestützt beobachten. Die bislang vorliegenden Daten zeigen, dass in jenen Fällen, in denen es gelingt, individuelle mimische Ausdrucksskripte zu erstellen und auf deren Grundlage mit demenzkranken Menschen zu kommunizieren, eine deutliche Linderung von Verhaltensauffälligkeiten sowie eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit erzielt wird.
Die Ausdrucksskriptanalyse bildet auch eine bedeutende methodische Komponente zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenzerkrankung. Wir entwickeln derzeit ein multimodales Instrument zur Bestimmung von Lebensqualität bei Demenzerkrankung, das neben der mimischen Analyse eine ausführliche psychopathologische und internistische Untersuchung sowie eine differenzierte Analyse der räumlichen, sozialen und infrastrukturellen Umwelt einschließt.
Die skizzierten Befunde verdeutlichen in ihrer Gesamtheit nicht nur produktive, im Interesse unserer Gesellschaft nutzbare Potenziale des Alters. Sie zeigen auch, dass vorhandene Potenziale älterer Menschen nach wie vor zu selten erkannt und genutzt werden. Einseitig negativ akzentuierte Sichtweisen des Alters tragen dazu bei, dass älteren Menschen persönlich zufrieden stellende gesellschaftliche Rollen vorenthalten bleiben und im Alter auftretende körperliche und kognitive Einbußen allzu schnell hingenommen werden. Dies ist nicht nur aus ethischen Gründen, sondern auch aus Kosten-Nutzenerwägungen abzulehnen. In einer alternden Gesellschaft wird man sich auf Dauer den Verzicht auf die Potenziale des Alters nicht leisten können; zu denken ist hier vor allem an die Arbeitswelt sowie an das zivilgesellschaftliche Engagement. Zudem sind effektive medizinische und pflegerische Versorgungsangebote unverzichtbar, da diese nicht nur zur Erhaltung von Lebensqualität, Gesundheit und Selbstständigkeit im Alter beitragen, sondern durch Vermeidung von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit auch Familien entlasten.
Aus den genannten Gründen zählt die Korrektur gesellschaftlicher Altersbilder nach wie vor zu den vorrangigen Aufgaben gerontologischer Forschung. Nachdem die Existenz produktiver Potenziale des Alters durch zahlreiche gerontologische Forschungsarbeiten nachgewiesen werden konnte, wird es zukünftig vor allem darum gehen, die Voraussetzungen zu schaffen, um diese Potenziale zu verwirklichen und damit zur Entwicklung einer altersfreundlichen Kultur beizutragen.
Autor:
Professor Dr. Andreas Kruse,
Direktor des Instituts für Gerontologie, Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 81 81,
e-mail: andreas.kruse@urz.uni-heidelberg.de