Ein elektronisches Rezeptschreibewerkzeug
Immer häufiger werden in der Medizin mehrere Arzneimittel gleichzeitig verabreicht. Ohne solche Medikamentenkombinationen ist die Behandlung einiger Krankheiten heute undenkbar. Es kann dabei jedoch zu unerwünschten, manchmal lebensbedrohlichen Wechselwirkungen kommen. Eine optimale Therapie bei minimalen Nebenwirkungen verspricht das "elektronische Rezeptschreibewerkzeug", das kürzlich im Universitätsklinikum Heidelberg in Betrieb genommen wurde. Walter Haefeli, Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie, erläutert, warum ein solches System notwendig ist, und wie es dazu beitragen kann, die Arzneimittelsicherheit zu verbessern.
Gründe, warum in der Medizin immer häufiger Arzneimittel in Kombination eingesetzt werden, gibt es viele: Die Menschen werden immer älter, leiden häufig an mehreren Krankheiten gleichzeitig und werden in zunehmendem Maße mit vorbeugenden Arzneimitteln versorgt, damit Krankheiten erst gar nicht entstehen. Hinzu kommt, dass viele Krankheiten mittlerweile rigoroser behandelt werden, um die epidemiologisch besten Zielwerte, beispielsweise von Blutdruck oder Blutfetten, zu erreichen, welche die größte Überlebenswahrscheinlichkeit eines Menschen versprechen. Schließlich gibt es Krankheiten, etwa Tumorleiden, die erst durch Kombinationstherapien günstig zu beeinflussen sind. In all diesen Fällen geht man davon aus, dass sich die günstigen Effekte einer einzelnen Therapie in der Kombination summieren oder sogar vervielfachen. Dadurch sollen bessere Ergebnisse erzielt werden als sie mit einer Monotherapie, dem Verwenden einer einzelnen Substanz, möglich wären. Tatsächlich werden heute über die Hälfte der Patienten in der allgemeinmedizinischen Praxis mit Arzneimittelkombinationen behandelt; im Krankenhaus sind es praktisch alle Patienten: Internistische Patienten erhalten während eines Krankenhausaufenthaltes durchschnittlich zwölf verschiedene Substanzen.
In den letzten Jahren hat man jedoch zunehmend erkannt, dass sich kombiniert verabreichte Arzneimittel auch ungünstig auswirken können. Solche Interaktionen, Wechselwirkungen, kommen in vielfältigster Weise zustande. So kann die Wirkung des einen Arzneimittels durch ein anderes aufgehoben werden, was zur Folge hat, dass die Therapie versagt. Oder die Arznei wird nur verzögert aus dem Körper ausgeschieden, wodurch es zur Akkumulation dieses Medikamentes und zu Vergiftungserscheinungen kommen kann. Die Wechselwirkungen können so ausgeprägt sein, dass sie bei unsachgemäßem Einsatz der Arzneimittel das Leben des Patienten gefährden.
In jüngster Zeit haben sich deshalb die Zulassungsbehörden, aber auch Arzneimittelhersteller, wiederholt dazu entschlossen, wirksame Präparate vom Markt zu nehmen. Beispiele sind Lipobay® (Cerivastatin), Posicor® (Mibefradil), Propulsin® (Cisaprid) oder Nefadar® (Nefazodon). Einige Kombinationen sollten unter allen Umständen vermieden werden, viele Kombinationen machen es erforderlich, die Dosierung der kombinierten Arzneimittel zu ändern, zahlreiche andere Kombinationen beeinflussen sich nicht gegenseitig und können deshalb unverändert dosiert werden.
Die Grafik zeigt die Paarbildungen, die bei der Kombination mehrerer Arzneimittel entstehen. Um sicher und wirksam therapieren zu können, müssen die möglichen Wechselwirkungen der gleichzeitig verabreichten Medikamente bekannt sein. |
Werden Kombinationstherapien verordnet, ist es also wichtig, vorab zu wissen, wie sich die Präparate gegenseitig beeinflussen. Wie umfassend diese Kenntnisse sein sollten, ist Folgendem zu entnehmen: Wenn gleichzeitig drei Präparate (A, B, C) eingenommen werden, müssen die Wechselwirkungen zwischen drei möglichen Paarbildungen – AB, AC, BC – berücksichtigt werden. Werden fünf Arzneimittel verordnet – wie es etwa bei der Entlassung eines internistischen Patienten aus dem Krankenhaus üblich ist – sind es bereits zehn Paarbildungen und so fort.
Der Arzt, der Medikamente verschreibt, aber auch der Patient, der eigenständig Arzneimittel zu einer ärztlich verordneten Therapie hinzufügt, stehen also vor einem Problem: Sie müssen in kurzer Frist einen umfassenden Überblick über die Wechselwirkungen der entstehenden Paare erhalten, um die Wirksamkeit der Therapie nicht zu verringern und die Sicherheit zu beeinträchtigen. Dies ist eine besondere Herausforderung, da die verschriebenen Kombinationen zahlreiche Wechselwirkungspaare ermöglichen und die Fülle der dazu benötigten Informationen unüberblickbar groß geworden ist. Wie groß das Problem ist, zeigt das Beispiel typischer allgemeinmedizinischer Praxen im Saarland mit 9481 Patienten zwischen 50 und 75 Jahren. Es wurden 13 672 verschiedene Arzneimittelpaare verschrieben, für nur 7,5 Prozent von ihnen lagen Informationen zur gegenseitigen Beeinflussung vor. Jede zwanzigste Kombination machte spezifische Maßnahmen, beispielsweise eine Dosisanpassung, erforderlich und eine von 200 war kontraindiziert, also nicht anwendbar, wurde aber dennoch verschrieben.
In allgemeinmedizinisachen Praxen wurde ermittelt, welche Arzneimittelpaare der Arzt verordnet. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass eine von 200 Kombinationen kontraindiziert, also nicht anwendbar, war. Verschrieben wurde sie dennoch. (A = Arzneimittelpaare, B = Informationen über die gegenseitige Beeinflussung, C = jede zwanzigste Kombination, D = kontraindiziert) |
Die Analyse zeigt, dass zwar für viele Kombinationen bereits wissenschaftliche Daten vorhanden sind (in der Weltliteratur gegenwärtig für ungefähr 6000 Paare) – sie decken aber nur eine Minderheit der tatsächlich verschriebenen Medikamentenpaare ab. Neue Informationen erhält man durch das sorgfältige Beobachten einzelner Patienten während der alltäglichen Therapie, vor allem aber durch das gezielte Untersuchen bestimmter Arzneimittelpaare, bei denen aus unterschiedlichen Gründen Anlass besteht, eine Arzneimittelinteraktion zu vermuten.
Wenn sich bei einem Patienten während einer Kombinationstherapie mit mehreren Arzneimitteln unerwartete Störungen des Befindens oder gar eindeutige Krankheitszeichen entwickeln, liegt es nahe, die Ursache auch bei den ärztlich verordneten oder bei den vom Patienten in Selbstmedikation hinzugefügten Arzneimitteln zu suchen. Die sorgfältige Dokumentation von Arzneimittelinteraktionen, die auf diesem Weg entdeckt werden, und ihre Veröffentlichung in einer so genannten Fallbeschreibung sind eine wichtige Wissensquelle. Solche Informationen werden ergänzt durch prospektive epidemiologische Erhebungen in großen Gruppen ambulanter Patienten, bei denen über längere Zeit systematisch beobachtet wird, wie sich die verschiedenen Kombinationstherapien auswirken.
Medikamentencocktails – und ihre Folgen
Es ist auch möglich, während eines Krankenhausaufenthaltes gezielt zusätzliche Daten über die Einnahme von Arzneimitteln zu erheben. Untersuchungen bei stationären internistischen Patienten in Heidelberg ergaben etwa, dass ein Teil der Patienten (sechs Prozent) ohne Wissen des medizinischen Personals ein Johanniskraut-Präparat einnahm. Vom Johanniskraut aber ist bekannt, dass es den Abbau lebenswichtiger Arzneimittel massiv beschleunigen kann, beispielsweise eines Mittels, das die körpereigene Abwehr vorübergehend hemmt. Dadurch verliert das Medikament an Wirksamkeit; der Erfolg der Therapie, beispielsweise einer Organtransplantation, kann dadurch gefährdet werden. In solchen Fällen ist die zusätzliche Selbstmedikation eine erhebliche Gefahr. Ergeben sich aus der Pharmakokinetik, den bereits bekannten Abbau- und Verteilungswegen eines Arzneimittels im menschlichen Körper, oder aus bestimmten Wirkmechanismen von vorn herein Anhaltspunkte für ein relevantes Interaktionspotenzial von Arzneistoffen oder einer bestimmten Darreichungsform, lassen sich entsprechende Wechselwirkungen oft am besten an gesunden Personen charakterisieren. Denn bei ihnen werden die Ergebnisse nicht durch eine zugrunde liegende Erkrankung beeinflusst. Solche gezielten Studien beim Menschen eignen sich zum Beispiel, um Interaktionen zwischen Arzneistoffen zu erfassen, die ihre Metabolisierung, ihre Verstoffwechselung, in der Leber gegenseitig hemmen oder sie beschleunigen. Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Ritonavir (ein Arzneimittel, das eingesetzt wird, um die Immunschwächekrankheit AIDS zu behandeln) den Abbau von Loperamid, eines zweiten Medikamentes, hemmt und damit dessen Inaktivierung verzögert. Da Loperamid bei AIDS-Patienten häufig zur Behandlung von Durchfällen eingesetzt wird, kann die längere Verweildauer im Körper klinisch relevant sein.
Ein zweites Beispiel: Der Dünndarm verfügt über ein wichtiges Arzneimittel-Transportsystem, das den Übertritt von Arzneimitteln aus dem Darm in die Blutbahn kontrolliert. Als man untersuchte, wie das Antibiotikum Clarithromycin mit dem herzwirksamen Arzneimittel Digoxin wechselwirkt, ergab sich, dass die Hemmung des Transportsystems durch Clarithomycin nur dann zu einer relevanten Interaktion führt, wenn Digoxin oral, als durch den Mund, eingenommen wird. Wird das Antibiotikum hingegen über eine Vene verabreicht, wird das Arzneimitteltransportsystem im Dünndarm umgangen und es kann zu keiner Wechselwirkung kommen. Das Beispiel zeigt: Ob eine Interaktion auftritt oder nicht, kann auch von der Darreichung des Arzneimittels abhängig sein.
Studien, an denen gesunde Personen teilnehmen, sind auch geeignet, um gezielt das Fehlen relevanter Informationen zu dokumentieren. Ein Beispiel ist die nicht vorhandene Wechselwirkung zwischen oralen Kontrazeptiva, empfängnisverhütenden Mitteln, und Medikamenten zur Eindämmung einer Infektion mit dem Aids verursachenden HI-Virus. Darüber hinaus lassen sich mit diesem Ansatz Interaktionen untersuchen, bei denen nicht nur wirksame Arzneistoffe, sondern auch pharmazeutische Hilfsstoffe eine Rolle spielen. Schließlich tragen Untersuchungen auf molekularbiologischer Ebene dazu bei, die Mechanismen aufzuklären, die zu Arzneimittelinteraktionen führen. Unabdingbare Voraussetzungen für alle Studien sind ein spezialisiertes analytisch-chemisches Labor, in dem die hoch empfindlichen Messmethoden zur Quantifizierung der Arzneimittelkonzentrationen in verschiedenen biologischen Matrices (vor allem Blut) entwickelt werden können, sowie Spezialeinrichtungen, um Arzneimittelwirkungen direkt zu erfassen.
Aus dem Umfang des bereits vorliegenden Informationsmaterials lässt sich schließen, dass es schwierig ist, die Fülle an benötigten Informationen ohne Hilfsmittel zeitnah verfügbar zu haben. Um die Sicherheit und Wirksamkeit von Kombinationstherapien zu gewährleisten, ist schon zum Zeitpunkt des Verschreibens ein spezifisches Wissen erforderlich, das über spezielle Computersysteme verfügbar gemacht werden kann. Die Computersysteme verknüpfen Arzneimitteldaten mit Wissen und entlasten den Arzt von dem mühseligen und zeitraubenden Beschaffen von Informationen. Idealerweise wird ein solches System bereits aktiv, wenn das Rezept ausgeschrieben wird. Es prüft kontinuierlich alle Arzneimittelpaare auf Risiken ab und meldet umgehend jeden klinisch relevanten Mangel.
Mitarbeiter des Universitätsklinikums Heidelberg haben ein "elektronisches Rezeptschreibewerkzeug" entwickelt und kürzlich in Betrieb genommen. Es ist geeignet, in Sekundenschnelle aus über 60 000 Präparaten, die in Deutschland auf dem Markt sind, Arzneimittel auszuwählen und auf ein Rezeptformular zu drucken. Gleichzeitig werden die Präparate von qualitätssichernden Wissensbasen geprüft, gegebenenfalls wird vor Gefahren gewarnt und auf Mängel aufmerksam gemacht.
Entlastung im ärztlichen Alltag
Inzwischen wurden über 12 700 Rezepte mit dem elektronischen System erstellt. Erste Analysen zeigen, dass das Ausschreiben der Rezepte sehr schnell erfolgt und viele inhaltliche Fehler vermieden werden können. Die Qualitätsverbesserung zeigte sich darin, dass keine kontraindizierten Kombinationen, keine Präparate der Negativliste und keine Präparate verschrieben wurden, die nicht mehr im Handel sind. In jeder achten Verschreibung wurde nach einer Warnmeldung zu unerwünschten Arzneimittelinteraktionen die Zusammenstellung optimiert und das Interaktionspotenzial reduziert.
Komplexe elektronische Hilfsmittel, die die Fülle an kontinuierlich wachsendem Wissen nutzbar abbilden, können die Qualität der Arzneimittelverschreibung nachhaltig unterstützen. Eine repräsentative Umfrage bei 2000 Ärzten in Baden-Württemberg hat vor kurzem gezeigt, dass ein derartiges Wissen im ärztlichen Alltag dringend gebraucht wird – aber kaum verfügbar ist. Benutzerfreundlich gestaltet, können diese Hilfsmittel so effizient sein, dass sie wichtige Prozesse nicht nur qualitativ verbessern, sondern sogar beschleunigen. Mit geeigneten Datenbankmodellen dienen sie darüber hinaus zur Dosisberechnung und -anpassung. Da sie über Computernetzwerke verfügbar gemacht werden können, sind sie wenig personalintensiv und können, flächendeckend eingesetzt, den wichtigsten medizinischen Fehler – Dosierungsfehler – minimieren und Ärzte bei einer zeitlich anders nicht mehr zu bewerkstelligenden Aufgabe effektvoll entlasten.
Autor:
Prof. Dr. Walter E. Haefeli,
Abteilung Innere Medizin VI, Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie,
Im Neuenheimer Feld 410, 69120 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 56 87 22,
e-mail: walter.emil.haefeli@med.uni-heidelberg.de