Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

"Und jedem Ende wohnt ein Anfang inne"

Ein Architekturhistoriker und ein Indologe erforschen in einer seltenen fächerübergreifenden Kooperation seit Jahren lebenszyklische Übergangsrituale der alten Stadtkulturen Nepals. Niels Gutschow und Axel Michaels vom Südasien-Institut, beide Mitglieder des Sonderforschungsbereichs "Ritualdynamik" der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sind zunächst Totenritualen nachgegangen. Nun widmen sie sich den Initiationen, die in ähnlicher Weise einen Abschied markieren - als Voraussetzung für eine neue Lebensphase.

Noch bevor die Ausläufer der mächtigen Gipfel des Himalaja das indischen Tiefland erreichen, erstreckt sich auf der Strecke zwischen Burma und Kaschmir ein Tal, in dem sich vor rund zweitausend Jahren eine charakteristische Stadtkultur etablieren konnte. Wir wissen nicht, woher die dort siedelnden Newars kamen, die eine tibeto-burmanische Sprache sprechen. Sie standen jedoch schon sehr früh unter dem kulturellen Einfluss der nordindischen Kushana- und Gupta-Dynastien. Eingewanderte Brahmanen-Priester prägten das hinduistische Hofritual und die Verwaltung, während die Bevölkerung weitgehend die Lehre des Buddha beherzigte. Ungemein kompakte Siedlungen mit einem urbanen Lebensstil entwickelten sich vor etwa tausend Jahren. In diesem Kathmandu-Tal haben sich Rituale erhalten und entfaltet, wie sie sonst in Südasien kaum noch zu sehen sind.

Auf einer Fläche, die der des Stadtstaates Hamburg entspricht, wetteiferten drei Königreiche, deren Einflussbereiche nur wenig über die Grenzen des Tals hinausreichten. Die Ablagerungen eines urzeitlichen Sees boten günstigste Voraussetzungen für eine Überschuss erwirtschaftende Landwirtschaft. Bauern siedelten nicht jenseits, sondern in der Stadt. Die Verbindungswege zwischen Indien und China beziehungsweise Tibet sorgten für einen florierenden Handel. Newarische Maler, Juweliere und Baumeister prägten die Kunst Tibets und wirkten am kaiserlichen Hof in Beijing. Überhaupt erlangten die Handwerker einen Aufschwung, der nach wie vor im Kathmandu-Tal sichtbar ist. Kunstvolle Fenster und Türen der Holzschnitzer, prächtige Statuen der Bronze- und Gelbgießer, fein ziselierte Objekte der Goldschmiede, farbenfrohe Gemälde der Thangka- und Miniaturen-Maler zeugen davon.

Symbolische Hochzeit der Mädchen  

Symbolische Hochzeit der Mädchen: Am Schrein des Ahnengottes legen Mädchen die Frucht des Holzapfelbaumes ab, mit der sie einige Monate zuvor durch ein Hochzeitsritual verbunden worden sind.

Nach einer Blütezeit im 17. und frühen 18. Jahrhundert, die zahllose hinduistische Tempel und buddhistische Klöster entstehen ließ, vereinnahmte ein in indischer Tradition stehendes Herrscherhaus, die noch heute regierende Shaha-Dynastie, das Tal und begründete das Land Nepal, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den britischen Kolonialherren als eine Art Protektorat in seine heutigen Grenzen verwiesen wurde. Erst durch die Mitgliedschaft in der UNO im Jahr 1948 betrat das Land die internationale Bühne. Nie kolonisiert und deshalb erst jüngst internationalen Normen, Werten und Arbeitsweisen ausgesetzt, konnten sich bei den Newars soziale und religiöse Strukturen erhalten, die seit den sechziger Jahren besonders von Wissenschaftlern aus Deutschland erforscht werden. Wir arbeiten seit über dreißig Jahren kontinuierlich im Tal von Kathmandu und haben kommunikative Strukturen schaffen können, die es erlauben, auch die oft intimen, familiären Übergangsrituale zu dokumentieren: Das sind unter anderem Geburt, erste Speisung, Namensgebung, Initiation, Aufnahme in den Klan, Hochzeit, Altersrituale und Tod.

Die Arbeitsweise unseres Teams greift weit aus: Zum einen geht es uns um die städtische soziale und sakrale Topographie mit ihren eigenen Siedlungsformen und ihren zahlreichen Tempeln und Heiligtümern. Zugleich nehmen wir uns der Topographie der äußerst komplexen Feste und lebenszyklischen Rituale an, die schon auf wenigen Kilometern teilweise erheblich voneinander abweichen, nicht zuletzt weil sich Hinduismus, Buddhismus und Volksreligion auf engstem Raum mischen. Dabei konzentrieren wir uns meist auf jeweils ein exemplarisches und teilweise seltenes Ritual an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und mit identifizierbaren Protagonisten, Priestern und deren Klientel, wollen wir doch das einzelne Ritual zu seinem Recht kommen lassen und nicht vor lauter Verallgemeinerungen das Besondere übersehen.

Den Verstorbenen bringt man Klöße dar  

Alljährlich im Herbst wird nicht nur der jüngst Verstorbenen, sondern aller erinnerten Ahnen gedacht. Den Verstorbenen bringt man dazu Klöße dar.

Wichtig ist auch, dass wir auf einer weiteren Ebene die Texttraditionen einbeziehen, denn selbst der erfahrene Priester trägt ein Notizbuch bei sich, um die Reihenfolge ritueller Anweisungen nachzuvollziehen und die Stichworte für Rezitationen zu finden. Diese meist auf Sanskrit, Newari oder Nepali verfassten Handschriften, die in der alten Ritualtradition Indiens stehen, sind in gewissem Sinne Skripte für die Handlungsabläufe, aber noch mehr Wissen wird mündlich von dem Vater an den Sohn, von dem Lehrer an den Schüler weitergegeben. Am Ende ergänzen sich Text und aktuelle Praxis sowie das Geschehen in Haus und Stadt zu der facettenreichen Darstellung einer Ritualpraxis, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer rasanten sozialen Dynamik und Bedrohung ausgesetzt ist. Längst beginnen Ritualspezialisten, die etwa in einem Todesfall durch ihre Arbeit Unreinheit absorbieren und deshalb stigmatisiert sind, ihre traditionellen Pflichten zu vernachlässigen oder gar aufzugeben. Immer wieder auch wollen die Söhne nicht mehr von ihrem Vater das Altüberlieferte lernen.

Wir versuchen, diese traditionelle Ritualpraxis Nepals unter Einbezug der nach wie vor gebräuchlichen traditionellen Texte aufzuarbeiten, das heißt zu beschreiben, zu analysieren und mit Worten sowie filmisch zu dokumentieren. Wir fühlen uns dazu ermutigt, weil die UNESCO in einer 1998 verbreiteten Erklärung nicht nur gefährdete Bauten, sondern auch "weiche", im Grunde nicht greifbare Ereignisse zu schützenswerten Teilen eines Kulturerbes erhoben hat.

Im Tal von Kathmandu (Nepal) entstanden vor etwa 1000 Jahren kompakte Siedlungen  

Im Tal von Kathmandu (Nepal) entstanden vor etwa 1000 Jahren kompakte Siedlungen, in denen sich Rituale erhalten und entfaltet haben, wie sie sonst in Südasien kaum noch zu sehen sind. Breite Hauptstraßen und Plätze, wie in der Mitte der Stadt Bhaktapur zu sehen, sind die Bühne zur Inszenierung der jahreszeitlichen Stadtrituale.

Im Tal von Kathmandu (Nepal) entstanden vor etwa 1000 Jahren kompakte Siedlungen

Man hat sich daran gewöhnt, indische Vorstellungen vom Leben nach dem Tod vor allem mit den Begriffen Karma und Reinkarnation zu verbinden. Dabei geht man zumeist von einer Vergeltungskausalität der Taten aus, wonach das jetzige Leben das Schicksal des zukünftigen Lebens bestimmt. Die Praxis der Toten- und Ahnenrituale zeigt aber, dass die nachtodliche Welt keineswegs so vergeltungskausal geregelt ist, wie es nach den philosophischen und mythologischen Texten erscheint. Stattdessen kommen eher vage Verortungen des Toten und Vorstellungen von Totengeleit, Unreinheit, Himmel und Hölle, Sühne, Vertreibung oder Befriedung der Toten, seine Neuschöpfung oder gar Opferung zur Geltung. Auch wird der Tod eher zu einem sozialen als zu einem individuellen Ereignis.

Schon bei der Aufbahrung des Leichnams im Erdgeschoss des Hauses übernehmen in Bhaktapur die Mitglieder der Totengesellschaft, zu der die Familie des Verstorbenen seit Generationen gehört, alle weiteren Aufgaben. Ein vorgeschriebener Weg führt vom Haus zur Verbrennungsstätte jenseits des Flusses im Süden der Stadt. Der Haupttrauernde, meist der Sohn, der durch das Feuergeben die Nachfolge begründet, umrundet den Scheiterhaufen, bevor wiederum die Mitglieder der Totengesellschaft das Feuer unterhalten.

Mitunter sind Hunderte von weit verzweigten Verwandten durch einen Todesfall rituell befleckt. Bei den meisten können am Tag nach dem Tod wenige Handreichungen mit pulverisierten Ölkuchen diese Verunreinigung beseitigen. Aber enge Verwandte sind zehn Tage lang unrein. Sie unterliegen strikten Einschränkungen im sozialen Verkehr und beim Einnehmen von Speisen. Der Sohn des oder der Verstorbenen hat zudem in dieser Periode die Aufgabe, dem Verstorbenen durch das Herstellen von Klößen aus gekochtem Reis einen jenseitigen Körper zusammenzusetzen, mit dem jener die Welt der Ahnen erreicht.

Im hinduistischen Totenritual geht es also um Totengeleit und Befriedung. Der Tote befindet sich auf einer Jenseitsreise, die ihn durch die Unterwelt ins Reich der Ahnen führt. Der Sohn soll ihm dabei die Reise durch Gaben von Speise und Wasser erleichtern und ihn vor Unheil schützen. Aber der Sohn muss den Geist des Toten auch gehen lassen, er muss ihm sogar zusetzen, damit er den Lebensraum der Hinterbliebenen verlässt und nicht als unbefriedeter Geist Unruhe stiftet.

Im  

Im "Ritual der Kloßgemeinschaft" wird dem Dahingegangenen ein mit schwarzem Sesam bestreuter Mehlkloß gewidmet. Anschließend wird der Kloß in drei Teile geteilt und mit bereitliegenden anderen Klößen vermengt. Jetzt hat der Verstorbene die Welt der Ahnen erreicht.

Im entscheidenden "Ritual der Kloßgenossenschaft" (Sanskrit sapindikarana) formt am 45. Tag nach dem Tod der Sohn und Feuergeber Klöße aus Weizenmehl, Honig und Butter mit eigener Hand. Drei Klöße sind den vorangegangenen Generationen gewidmet. Dann erst wird sorgfältig ein größerer Kloß geformt, der den verstorbenen Vater oder die Mutter repräsentiert. Nach den Vorgaben und unter Mithilfe des brahmanischen Hauspriesters wird der Kloß in drei Teile geteilt. Je ein Teil wird mit den Klößen vermengt, die die vorangegangenen Generationen repräsentieren. Mit dieser Vereinigung ist der Verstorbene in die Gemeinschaft der Ahnen aufgegangen. Dass die Jenseitsreise eigentlich 360 Tage benötigt, ficht das bereits nach drei Mondphasen vollzogene Ritual nicht an. Ritualzeit hat ihre eigenen Gesetze.

Am 45. Tag nach dem Tod wird dem Verstorbenen für jeden Tag seiner Jenseitsreise ein kleiner Topf mit Wasser bereitgestellt.  

Am 45. Tag nach dem Tod wird dem Verstorbenen für jeden Tag seiner Jenseitsreise ein kleiner Topf mit Wasser bereitgestellt.

Am gleichen Tag wird dem Toten für jeden Tag der ein Jahr währenden Reise ein kleiner Wasserkrug gefüllt. Auch wird ihm ein Bett gegeben, alle zum Kochen benötigten Geräte und ein Wanderstab. Zu jeder weiteren Mondphase werden weitere Gerätschaften gegeben, auch ein winziges goldenes Boot, um die Überquerung eines gefährlichen Höllenflusses zu ermöglichen. Die Angehörigen begleiten den Verstorbenen voller Sorge auf seiner Reise ungeachtet des Umstandes, dass er rituell ja bereits am 45. Tag mit den Ahnen vereint wurde. Das Ritual entzieht sich der Alltagslogik und vereint problemlos solche "Widersprüche". Die Ritualspezialisten stoßen sich nicht daran. Sie haben vorrangig den vorgegebenen Ablauf zu sichern.

Die Totenrituale zeigen, dass es also nicht nur vom eigenen Karma und den eigenen Taten abhängig ist, ob ein Dahingegangener die Ahnen- oder Himmelswelt erreicht, sondern auch davon, ob und wie die Nachkommen die Toten- und Ahnenrituale durchführen. Und doch bleibt es auch im Ritual weitgehend offen, wohin die Toten zu welchem Zeitpunkt gelangen: in die Geisterwelt, Ahnenwelt, Vorväterwelt, Götterwelt, die Höllen oder in die Himmel von Brahma, Shiva beziehungsweise Vishnu.

Unter den Bauern von Bhaktapur, deren Totenrituale wir dokumentiert haben, gibt es jedenfalls nur sehr dunkle Vorstellungen über den Weg der Dahingegangenen. Am ausgeprägtesten ist noch die Idee, dass die Toten "hinüber" müssen in eine andere Welt, von der man sich keine genaue Vorstellung macht. Die Hinterbliebenen sind in der Pflicht, den Toten auf den rechten Weg zu bringen, etwa durch das goldene Boot, das das "Hinüber" begreifbar macht. Auch werden am Tag nach dem Vollmond im August alle Verstorbenen des Jahres kollektiv aus der Stadt verabschiedet, indem ihnen die Verwandten eine symbolische Kuh geben, die sie sicher über den Höllenfluss leiten soll. Das Ritual vermag beim Umgang mit den Dahingegangenen und den Ahnen helfen. Aber lösen kann es die Ratlosigkeit, die der Tod bedeutet, nicht.

Totenrituale sind Rituale des Übergangs vom Leben in den Tod beziehungsweise in ein nach-todliches Leben. Ähnliches gilt für Initiationen im Hinduismus. Auch diese markieren einen wichtigen Lebenseinschnitt, bei dem man das kindliche, rituell kaum geregelte Leben hinter sich lässt und in ein neues Leben, das rituell fast vollständig bestimmte Leben eines Erwachsenen, tritt. Die kommenden Jahre unseres alle wichtigen lebenszyklischen Übergangsrituale umfassenden Forschungsprojektes sind Geburtsritualen gewidmet. Auch die Initiationen von Knaben und Mädchen zählen dazu, denn sie bedeuten in einem gewissen Sinne eine neue, zweite Geburt.

Initiation eines Knaben  

Initiation eines Knaben: Ausgestattet mit einer Halskrause aus Glück bringendem Gras erwartet der Junge den Segen des Mutterbruders.

Bei den Knaben handelt es sich um ein vorpubertäres Mannbarkeitsritual, das im Anlegen des Lendentuches gipfelt. Indem der Vater nach den Anweisungen des brahmanischen Hauspriesters den Knoten verehrt, mit dem das Lendentuch umgebunden wird, wird der Knabe zum mannbaren, heiratsfähigen Jüngling. Es bedarf freilich einiger Vorbereitungen: Tags zuvor vollzieht der Vater zuerst ein Totenritual, um die Ahnen zu befrieden, denn aus dem Knaben wird ein potenzieller Ahn. Erst die Initiation und die einige Monate darauf folgende Aufnahme in den Klan am Schrein der Ahnengottheit machen ihn zu einem rituell aktionsfähigen Mitglied der Gesellschaft.

Der eigentlichen Initiation gehen zahlreiche Reinigungsrituale voraus, der sich der Knabe erstmals unterzieht. So setzt der Bruder seiner Mutter ein symbolisches goldenes Messer, ersatzweise auch eine Banknote, an das Haupthaar des Knaben an, bevor ein Barbier als Ritualspezialist die Kopfrasur durchführt. Dabei bleibt ein Haarzipfel stehen, der die Patrilinie und die Verbindung zu den Ahnen darstellt: Früher unterschieden sich die Klans durch die Art und Weise, wie diese Haarzipfel gestaltet waren. Die Frau des Barbiers schneidet zudem die Fußnägel. Haare und Fußnägel gelten als unrein, sie werden von der rituell neutralen, das heißt nicht befleckten Schwester des Vaters aufgefangen und an einem dafür vorgesehenen Orten dem Fluss übergeben. Solche Zeichen von Unreinheit müssen wie beim Tod aus dem Lebensraum der Menschen verbannt werden.

Über mehrere Tage hinweg übernimmt im Haus des Initianden die Schwester der Mutter das Regiment. Als Repräsentant der Frauengeber legt der Mutterbruder zudem seinem Neffen einen zweiten Lendenschurz an. Der Mutterbruder ist in der Gesellschaft der Newars so etwas wie ein zweiter Vater: weitaus aktionsfähiger als der leibliche Vater, weil er in einem unbefleckten Bereich agiert. Unbefleckt sind auch die verheirateten Schwestern des Vaters, die als "lebende Ahnen" gelten. Sie sind im elterlichen Haus immer wieder zu Gast, haben dort sogar viele Pflichten, aber rituell gesehen sind sie bereits tot, gehören sie doch mit der Heirat dem Ahnengott des Mannes an.

Während mit dieser so genannten Zweiten Geburt die Jungen zu vollwertigen Mitgliedern des Klans geworden sind, müssen die Mädchen der Newars zwei prämenstruale Initiationsrituale durchführen. Im Alter von neun bis zwölf Jahren, noch vor der ersten Monatsblutung, müssen sie sich einem Ritual unterziehen, das auf ihre Rolle als gebärfähige Frau vorbereitet und einer Initiation gleichkommt. Dabei werden sie bis zu elf Tage in einen dunklen Raum gesperrt, nur begleitet von einer Tante. Am zwölften Tag reinigt der Barbier mit seiner Frau das ganze Haus. Danach verehren die Mädchen auf der Terrasse die Sonne. Anschließend wird ihnen ein gelber Faden um den Kopf gebunden, in dem eine Pfauenfeder steckt. Und schließlich bekommen sie rotes Puder in den Haarscheitel gerieben: Zeichen einer heiratsfähigen Frau und Abschied vom Kindsein.

Zuvor, im Alter von drei bis zehn Jahren werden sie aber noch in einem rätselhaften Ritual, "Ihi" genannt, mit einer Gottheit verheiratet. Rätselhaft ist vor allem die frühe Gabe des Mädchens durch den Vater an die Gottheit. Die Ritualtexte sprechen ganz explizit von einer Hochzeit, aber es wird keineswegs klar, warum das geschieht und wer eigentlich der symbolische Bräutigam ist. Im entscheidenden Moment halten die Mädchen die Frucht des Holzapfelbaumes in den Händen, die wiederum in den Händen des Vaters ruhen, während die Mutter ein Plättchen aus Gold ins Haar steckt. Ist das Mädchen nun dem Gott Shiva gegeben, dem die Bel-Frucht des Holzapfelbaumes gewidmet ist, oder ist es Shivas Sohn Suvarna Kumar, der "Goldene Knabe"?

Und welche Verankerung in der Gesellschaft bewirkt die göttlich anmutende Hochzeit, die kollektiv über zwei Tage hinweg auf öffentlichen Plätzen zelebriert wird? Bis zu 150 prächtig gekleidete und mit Schmuck geradezu überladene Mädchen verleihen der Stadt in solchen Momenten einen ungeahnten Glanz. Die Nähe zu den Göttern schafft offenbar über den verletzlichen Rahmen dieser Welt hinaus eine Sicherheit, die die Gesellschaft den Mädchen und Frauen in Nepal gewährt. In Indien werden solche Mädchenrituale weitaus seltener praktiziert.

In der westlichen Gesellschaft sieht man die lebenszyklischen Übergangsrituale oft als Mittel an, um Übergänge des Lebens zu bewältigen oder gar Lebenskrisen zu meistern. Das gilt für die von uns untersuchten Gruppierungen nicht. Vielmehr geben die Rituale Ordnungen vor, über die selten weiter nachgedacht wird und werden muss. In den Riten markieren die Menschen ihre Zuordnungen zu Kasten, Alters- und Geschlechtergruppen, Berufsgenossenschaften oder Religionsgemeinschaften. So sehr die Rituale an biologischen Veränderungen hängen, wird mit diesen doch rituell umgegangen. Sie werden in ein gemeinsam akzeptiertes Geschehen gebracht und damit der Befindlichkeit des einzelnen Menschen entzogen. Das Natürliche - Tod, Geburt oder Menarche - wird noch einmal rituell vollzogen oder begleitet und damit der sterblichen, vergänglichen Welt enthoben. Weil die Rituale zudem mit großem Aufwand festlich und öffentlich durchgeführt werden, ist es wichtig, dass sie auch sinnlich überzeugen. Erst dadurch werden alltägliche Handlungen wie etwa eine Waschung oder Speisung zu überhöhten, außergewöhnlichen Vorgängen. Dabei bedienen sich die Veranstalter der Rituale bestehender kultureller Gestaltungsmuster, mit denen sie aber durchaus spielerisch und kreativ umgehen. Rituale sind daher, wie es in der ritualwissenschaftlichen Literatur oft heißt, nicht als starr stereotyp oder gar langweilig anzusehen. Im Gegenteil, ein genauer Blick zeigt sie als äußerst lebendige und lebenskräftige Ereignisse.

Autoren:
Prof. Dr. Niels Gutschow und Prof. Dr. Axel Michaels
Südasien-Institut, Abteilung Klassische Indologie
Im Neuenheimer Feld 330, 69120 Heidelberg
Telefon: (0 62 21) 54 89 17 (Axel Michaels)
E-Mail: gutschow@t-online.de; axel.michaels@urz.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang