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Wenn Blicke sprechen

Wissenschaftler, die sich dafür interessieren, wie das Gehirn denkt, haben es schwer: Sie können das Hirn nicht unmittelbar dabei beobachten, wie es Informationen verarbeitet und Probleme löst, sondern sind darauf angewiesen, ihm auf indirekten Wegen seine Geheimnisse zu entlocken. Eine bislang wenig genutzte Methode, die auf Verarbeitungsprozesse im Hirn rückschließen lässt, ist die Blickbewegungsmessung. Joachim Funke vom Psychologischen Institut erklärt, wie man Blicke präzise erfassen kann, was sie von der Arbeitsweise des Gehirns verraten – und was Blickbewegungen mit der Verständlichkeit von Texten zu tun haben.

Was geschieht im Gehirn, wenn wir überlegen oder reden, wenn wir uns an unseren letzten Urlaub erinnern, ein Gedicht auswendig lernen oder einen Geruch wahrnehmen, wenn wir wütend sind oder uns freuen? Auf solche Fragen will die kognitive Psychologie eine Antwort geben – und steht dabei vor einer großen methodischen Herausforderung. Denn was im Gehirn passiert, lässt sich nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt erfassen, beispielsweise mit einem Elektroenzephalogramm, kurz EEG, das die schwachen elektrischen Ströme aufzeichnet, die die Gehirntätigkeit begleiten. Hirnprozesse kann das stark verrauschte EEG jedoch erst nach komplizierten Mittelungen sichtbar machen. Das EEG und andere Methoden, die ins Gehirn blicken lassen, gleichen Fenstern, die eingetrübt sind und Bilder nur verschwommen erkennen lassen. Einen klareren Blick ins Gehirn ermöglicht die Analyse der "Blickbewegungen". Sie lassen sich heute präzise erfassen und erlauben es, auf Verarbeitungsprozesse im Gehirn rückzuschließen. Im Psychologischen Institut der Universität Heidelberg wenden wir die Methode der Blickbewegungsmessung an, um beispielsweise nachzuvollziehen, was im Gehirn geschieht, wenn wir Texte lesen und verstehen oder wenn wir Probleme lösen.

Der Durchmesser der Pupillen lässt darauf schließen, wie sehr sich das Gehirn auf eine Aufgabe konzentriert.

Der Durchmesser der Pupillen lässt darauf schließen, wie sehr sich das Gehirn auf eine Aufgabe konzentriert. Spezielle Messapparaturen bestimmen bis auf die Millisekunde genau, wie lange das Gehirn die Augen auf einer Textstelle verweilen lässt.

Vereinfacht dargestellt setzen sich Blickbewegungen aus "sakkadischen" Augenbewegungen und Fixationen zusammen. Sakkaden sind sehr schnelle und kurze Bewegungen des Augapfels. Sie dienen dazu, den zentralen Bereich der Fovea – der Stelle des schärfsten Sehens auf der Netzhaut – auf Sehziele auszurichten. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass die erste Sakkade, die so genannte Primärsakkade, rund 100 bis 200 Millisekunden (Sakkadenlatenz) nach dem Auftreten eines Reizes ausgeführt wird. Gelegentlich findet man auch kürzere Latenzen, das heißt, die Sakkade tritt bereits nach 60 bis 80 Millisekunden auf (Express-Sakkaden). Während der sich anschließenden Fixation bleibt der Augapfel ruhig. Die Fixation dauert 250 bis 300 Millisekunden. In dieser Zeit, wird angenommen, erfolgt der Großteil der visuellen Informationsverarbeitung.

Fenster zum Gehirn

Fenster zum Gehirn: Mitarbeiter des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg messen die Blickbewegungen von Versuchspersonen, denen die Aufgabe gestellt wurde, einen Text zu interpretieren.

Fenster zum GehirnFenster zum Gehirn

Auch beim Lesen kommt es zu sakkadischen Augenbewegungen und zu Momenten des Stillstands, den Fixationen. Eine grundlegende Idee ist, dass das Auge jeweils die Texteinheit fixiert, die gerade vom Gehirn verarbeitet wird. In der Kognitionswissenschaft spricht man von der "Eye-Mind-Hypothese". Sie geht davon aus, dass die Fixation und das Verarbeiten der Information im Gehirn eng miteinander verknüpft sind. Werden die Blickbewegungen während des Lesens erfasst und gemessen – das geht bis auf einzelne Silben genau -, erhält man ein Abbild des Lese- und Verstehensprozesses in hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung. Nach der Eye-Mind-Hypothese ist ein verzögertes Lesen – die Fixationszeiten sind verlängert, das Auge springt immer wieder auf bereits gelesene Textstellen zurück – auf Schwierigkeiten beim Verarbeiten bestimmter Textstellen zurückzuführen. Die Blickbewegungsmuster können deshalb auch herangezogen werden, um zu untersuchen, wie verständlich ein Text geschrieben ist.

Wir benutzen im Psychologischen Institut die Blickbewegungsanlage "EyeLink II". Sie hat eine hervorragende räumliche und zeitliche Auflösung und ist damit ein Messinstrument, das hohe Anforderungen an das Datenmanagement und das Auswerten der Daten stellt. Auch pupillometrische Daten ziehen wir für unsere Untersuchungen heran: Der Durchmesser der Pupillen lässt darauf rückschließen, wie stark das Arbeitsgedächtnis belastet ist, wie sehr wir uns konzentrieren oder wie groß unsere Motivation ist. Dazu ziehen wir "Laut-Denkstudien" heran: Beim "lauten Denken" wird eine Person gebeten, alle Gedanken auszusprechen, die auftauchen, während sie ein Problem bearbeitet. Auf diese Weise entstehen Laut-Denk-Protokolle der problemlösenden Person, die mit ihrem Blickverhalten verglichen werden können.

Unter Leitung von Dr. Lisa Irmen sind in unserem Institut bislang zahlreiche Studien im Bereich des Textverstehens erfolgt. Diese Studien untersuchen unter anderem, welche Rolle das grammatische Geschlecht (Genus) bei der Interpretation von Personenbezeichnungen spielt. Dazu liest eine Testperson einen Text, und während sie liest, werden ihre Blickbewegungen aufgezeichnet.

"Oft werden Autoren um ihren Beruf beneidet. Nur selten wird dabei berücksichtigt, wie schwer es diese Männer haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen."

Eine andere Testperson erhält den Text mit folgendem Wortlaut: "Oft werden Autoren um ihren Beruf beneidet. Nur selten wird dabei berücksichtigt, wie schwer es diese Frauen haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen".

Die Frage ist nun: Führt die im Text verwendete maskuline Form ("Autoren") zu einer Vorstellung männlicher Personen? Wenn ja, sollte der Ausdruck "diese Männer" gut in den Kontext passen, der Ausdruck "diese Frauen" jedoch nicht. Wirkt sich das Genus der Personenbezeichnung dagegen nicht auf die Geschlechtsbezogenheit der Interpretation aus, sollten beide Ausdrücke gleich gut passen.

Was ist das Ergebnis, wenn man die Fixationszeiten für "diese Männer" mit "diese Frauen" vergleicht? Wurden beide Ausdrücke gleich lange fixiert? Oder wurde einer von beiden länger fixiert, was auf einen schwierigeren Verarbeitungsprozess und eine schlechtere Passung hinweist. Die Auswertung ergab, dass mit einem bestimmten Genus eher die Vorstellung des dazu passenden Geschlechts verbunden ist. Das Maskulinum führt also eher zur Vorstellung von Männern; das Femininum zur Vorstellung von Frauen. Mit anderen Worten: Im oben genannten Beispiel stellten die Testpersonen nach "Autoren" schneller den Bezug zu "diese Männer" her als zu "diese Frauen".

Die Blickbewegungsmessung ist nicht nur ein wichtiges Instrument der Grundlagenforschung. Sie hat auch zahlreiche konkrete Anwendungsbezüge. Eine Studie des Psychologischen Instituts befasste sich beispielsweise mit dem Betrachten von Kunstwerken, wobei eine Gruppe der Testpersonen zuvor Informationen über die betreffende Kunstepoche erhalten hatte und ein andere nicht. Die Frage war: Betrachten Testpersonen, die gezielt über eine Epoche und ihre Stilelemente informiert wurden, entsprechende Bildregionen länger oder gezielter als Testpersonen, die man darüber nicht informiert hatte? Die Daten zeigten tatsächlich eine Tendenz in Richtung längerer Bildbetrachtung. Ein verfeinertes experimentelles Design soll es künftig möglich machen, museumspädagogische Texte mit dem Instrument der Blickbewegungen zu untersuchen und gezielt zu verbessern. Eine weitere Anwendung der Blickbewegungsmessung wird derzeit in einer Pilotstudie untersucht. Sie vergleicht das Blickverhalten von fehlsichtigen Personen mit dem normalsichtiger Menschen. Das Ziel dabei ist, Trainingsmaßnahmen und gezielte Instruktionen hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Blickverhalten zu testen. Künftig wollen wir auch im Bereich der kognitiven Ergonomie, also der menschengerechten Gestaltung von Arbeitsumgebungen, arbeiten. Hier können Blickbewegungsmessungen beispielsweise darauf hinweisen, wie Displays gestaltet werden müssen, damit der Benutzer Daten rasch lesen und Kausalbeziehungen schnell erfassen kann.

In einem anderen Gebiet, der Problemlöseforschung, wurden Blickbewegungen bisher herangezogen, um zu untersuchen, wie Testpersonen beispielsweise Schach-, Würfel- oder Streichholzaufgaben lösen. Solche Aufgaben sind vergleichsweise einfach; sie entsprechen nicht den Kriterien komplexer Probleme. Was bislang fehlt, ist das systematische Untersuchen derjenigen kognitiven Prozesse, die dem Lösen komplexer Probleme und dem Treffen von Entscheidungen zugrunde liegen. Ein Schwerpunkt unserer künftigen Arbeiten wird sein, die Blickbewegungsmethode zu nutzen, um Strategien zum Problemlösen in komplexen Realitätsbereichen zu untersuchen.

Eine große Schwierigkeit bisheriger Problemlösestudien ist das Fehlen eines Prozessmaßes. Bislang mangelt es außerdem an der systematischen Analyse einzelner Prozess-Schritte, etwa wie Informationen aufgenommen und integriert werden. Der klassische Fall ist, dass sich eine Versuchsperson mit einem Problem befasst, den Problemraum durch Ausprobieren eingrenzt und irgendwann eine Lösung nennt. Die mentalen Prozesse, die währenddessen ablaufen, müssen durch die Methode des lauten Denkens erfasst, die Erprobungs- und Lösungsschritte der Testperson müssen aufgezeichnet beziehungsweise durch nachträgliches Befragen ermittelt werden. Diese Verfahren haben jedoch einige methodische Nachteile: Das laute Denken strukturiert die im Gehirn ablaufenden Prozesse in einer der Sprache angenäherten Form und belastet das Arbeitsgedächtnis. Das Aufzeichnen der Erprobungsschritte wiederum spiegelt vermutlich nicht die tatsächlich ablaufenden mentalen Prozesse wider. Und bei dem Befragen im Nachhinein kommt ein großes Spektrum von Gedächtniseffekten zum Tragen. Die Blickbewegungsanalyse bietet hier einen entscheidenden Vorteil: Sie ermöglicht es, die Aufnahme und das Verarbeiten von Informationen während des Lösungsprozesses in "Echtzeit" zu erheben. Und die Fixationen lassen abschätzen, ob eine Versuchsperson gerade eine Hypothese bildet und prüft oder ob sie Lösungsschritte bewertet.

Zurzeit erfolgt in unserem Institut eine Vorstudie zum Thema Problemlösung, für die wir ein Spiel namens "RushHour" nutzen. Die Fixationen auf den Zielpositionen der Spielsteine dienen uns dabei als Indikatoren für die mentale Repräsentation angedachter Lösungsschritte. Ein Beispiel für ein "Rushhour-Problem", das es zu lösen gilt, ist folgende Situation (siehe Abbildung): Die Testperson sieht auf dem Spielfeld ein rotes Autos, das nach rechts aus dem Feld fahren soll. Die Ausfahrt wird allerdings von einem quer stehenden Lastwagen versperrt. Der LKW müsste nach unten fahren, um den Weg frei zu machen, doch das ist nicht möglich, weil dort ein grünes Auto steht. Um das Problem zu lösen, muss die Testperson das am unteren Spielfeldrand stehende gelbe Fahrzeug um einen Platz nach oben schieben.

 

"Rushhour-Probem": Das rote Auto soll nach rechts aus dem Ausgang hinausfahren. Wie müssen die übrigen Fahrzeuge umsortiert werden, damit das gelingt? Allein die Blicke geben im Versuch die Lösungsgedanken der Testpersonen preis.

Die skizzierte Lösungssequenz spiegelt sich in den Fixationssequenzen unserer Testpersonen: Allein ihre Blicke geben die Lösungsgedanken preis; auf sprachliche Äußerungen muss nicht zurückgegriffen werden. Ein derart unmittelbarer Zugang auf das Verarbeiten der Informationen im Gehirn der Versuchsperson ist mit keiner anderen Methode zu realisieren.

Die Feinanalyse einzelner Teilschritte eines Problemlöseprozesses liefert weitere Indikatoren, die die Tiefe des kognitiven Verarbeitens anzeigen. Bei den "RushHour"-Untersuchungen ermöglicht es dieses Vorgehen, die Schwierigkeitsmerkmale einer Aufgabe zu bewerten. In einem nächsten Schritt wollen wir diese Informationen benutzen, um Aufgaben mit einer zuvor definierten Schwierigkeit zu konstruieren. Die auf diese Weise gewonnenen Daten wollen wir mit Daten aus bildgebenden Verfahren verknüpfen. Diese Arbeiten erfolgen gemeinsam mit der Arbeitsgruppe "Kognitive Neurologie" unter Leitung von Werner Hacke und in Kooperation mit der Heidelberger Neurologischen Klinik, den Kliniken Speyerer Hof, der Pädiatrie und dem Psychologischen Institut.

Auch eine "Online-Analyse" des Problemlöseverhaltens einer Versuchsperson wird durch die Blickbewegungsmessung möglich. Sie kann beispielsweise eingesetzt werden, um aus einem Pool bestimmte Reizvorlagen für den weiteren Verlauf des Experiments auszuwählen. Auch adaptive Verfahren sind möglich, die es erlauben, die Aufgabenstellung während des Bearbeitens eines Problems individuell anzupassen. Dies impliziert die Chance, Testverfahren zum Problemlöseverhalten gezielt auf eine Person zuzuschneiden (adaptives Testen) und sehr viel effizienter diagnostische Kennwerte zu bestimmen.

Zusammen mit der Klinischen Psychologie wollen wir beispielsweise Patienten mit Angststörungen oder mit so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörungen untersuchen. Wir interessieren uns dafür, ob die Patienten emotionale Bilder unterschiedlich beurteilen und ob dieser Unterschied mithilfe von Blickbewegungsmustern diagnostiziert werden kann. Eine spannende Frage ist beispielsweise, ob eine Person mit Spinnenphobie eine Spinne, die in einer Reizvorlage versteckt ist, schneller entdeckt als eine Testperson, die nicht unter einer derartigen Angsterkrankung leidet. Neuere Forschungsarbeiten haben bereits ein unterschiedliches Blickbewegungsverhalten bei solchen emotional besetzten Stimuli festgestellt. Das Verwenden von Reizvorlagen, die – ähnlich wie im Alltag – emotional besetzte Teilreize neben neutralen oder positiv besetzten Reizen präsentieren, sind ein nächster Schritt: Möglicherweise lässt die Auswahl der fixierten Teilreize auf die mentale Einstellung einer Person rückschließen, zum Beispiel, ob sie negative Reize meidet. Die bei der Blickbewegungsmessung gleichsam als Nebenprodukt anfallenden pupillometrischen Daten können zur inhaltlichen Analyse benutzt werden.

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeiten sind entwicklungspsychologische Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen, beispielsweise im Bereich der Leseforschung. Sie sollen uns auf sprachgebundene Informationsverarbeitungsprozesse hinweisen. Die Analyse der Blickbewegung kann hier dazu dienen, Schlüsselkompetenzen zu identifizieren, die für die Schulleistung erforderlich sind. Sie sollen helfen zu erkennen, warum Schüler Probleme beim Lesen vom Texten, beim Rechnen oder beim Bearbeiten naturwissenschaftlicher Aufgaben haben.

Autor:
Prof. Dr. Joachim Funke
Allgemeine und Theoretische Psychologie
Psychologisches Institut
Hauptstr. 47-51, 69117 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 54 73 88
E-Mail: joachim.funke@psychologie.uni-heidelberg.de

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