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Wie die Jungfrau zum Staat kam

Geschichtswissenschaftler bleiben gern auf Distanz zu Bildern: Sie gelten ihnen als unzuverlässige Illustrationen, sind als historische Quelle nicht zu vergleichen mit Wort und Text. Thomas Maissen, Professor für Neuere Geschichte, plädiert dafür, das Misstrauen gegenüber dem Bild zu überwinden. Dazu greift er bis auf die mittelalterliche Bildersprache zurück und erläutert an eindrucksvollen Beispielen, wie die Jungfrau einst zum Staate kam.

Bilder, Bilder, Bilder. Man mag sie begrüßen oder bedauern, die Bilderflut, welche die Revolution der Informationstechnologien in den letzten Jahren mit sich gebracht hat: ungezählte Fernsehprogramme per Satellit, Videoinstallationen, Webcams, Digitalphotographien im Netz oder per Handy. Das "Icon" auf der PC-Benutzeroberfläche ist nicht nur ein konkretes Symbol, das den Zugang zu einer großen Informationsmenge eröffnet. Das Phänomen "Icon" entspricht ganz allgemein einer Zeit, in der visuelle Information an die Stelle von sprachlicher tritt, ja, wie manche befürchten, das gut geschnittene Video das gefeilte Argument abzulösen droht. Die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung, die heutzutage jedem Bastler am Heimcomputer die Schöpfung "virtueller" Welten und die Manipulation alter Photographien erlaubt, sensibilisieren zugleich für die Tatsache, dass noch so authentische Aufnahmen nicht einfach die Realität abbilden. Die Bedeutung und die Gefahren der Bilder – nicht zuletzt in den Massenmedien – haben also gleichermaßen dazu beigetragen, dass visuelle Intelligenz systematisch analysiert und visuelle Kompetenz eingefordert wird.

In den Kulturwissenschaften schlägt sich diese Entwicklung im Reden über einen "Pictorial Turn", "Visual Turn" oder "Iconic Turn" nieder – keine Synonyme, aber vergleichbare Versuche, ein Phänomen zu erfassen, das alle Fächergrenzen überschreitet. Die Ausdrücke sind dem "Linguistic Turn" nachgebildet, also der postmodernen Hinwendung zur Sprache, die nicht einfach eine reale äußere Welt präzise wiedergibt, sondern das problematische, unscharfe Medium darstellt, in dem Wirklichkeit erst entsteht. Diese Wirklichkeit ist ein sich stets wandelndes soziales Konstrukt, denn Sprache setzt Kommunikation voraus und damit sprachliche Konventionen, Regelverstöße, Missverständnisse und so weiter. Die eine, konsensfähige Realität ist damit im Sinn der Postmoderne illusorisch, und damit muss Sprachkritik – eine philosophisch fundierte allgemeine Sprachwissenschaft – die Entstehungsbedingungen gesellschaftlicher Wirklichkeit erörtern.

Gibt es nun analog einen Pictorial, Visual oder Iconic Turn, aus dem eine allgemeine Bildwissenschaft erwachsen würde, um die Entstehung und Funktion, Rezeption und Diffusion von Bildern zu analysieren? Wird gar das Bild den Text als epistemologische Grundlage der Wissenschaft ablösen? Für solche Ankündigungen ist es noch etwas früh. Doch es besteht offenbar ein Bedürfnis, Methoden der Visualisierung und Sehweisen für zahlreiche Disziplinen von der Mathematik über die Neurologie bis zur Jurisprudenz zu erörtern. Ein unumgänglicher Orientierungspunkt ist dabei die altehrwürdige Disziplin der Bildbetrachtung und Bildbeurteilung, die Kunstgeschichte. Wesensgemäß richtet sich ihr Instrumentarium allerdings nur auf ganz bestimmte Artefakte und die entsprechenden Sehtechniken, nämlich auf das, was als Kunst produziert oder nachträglich – durch Kunsthistoriker – mit diesem Prädikat ausgezeichnet worden ist. Eine allgemeine Bildwissenschaft würde diese Einschränkung überwinden und damit die Bedeutung der Ästhetik als wichtiges, aber problematisches Kriterium der Kunstgeschichte stark relativieren. Die stets willkürliche Trennung von Kunst und Massenmedium, von Erbauung und Konsum wäre damit hinfällig.

Auf dem Bild von Jan Tengnagel aus dem Jahr 1623 thront eine selbstbewusste Hollandia neben Moritz von Oranien, dem militärischen Führer des Landes.

Auf dem Bild von Jan Tengnagel aus dem Jahr 1623 thront eine selbstbewusste Hollandia neben Moritz von Oranien, dem militärischen Führer des Landes.


Davon profitieren kann nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft, wenn sie ihr Misstrauen gegenüber dem Bild überwindet – ein Misstrauen, das in der protestantisch geprägten deutschsprachigen Historiographie besonders ausgeprägt ist, weil in der Tradition des lutherischen "sola scriptura" das Wort als wahre Offenbarung Gottes gegenüber dem Bild als verführerischem Menschenwerk wohl überschätzt wird. Das hat vor allem in der praktizierten Forschung dazu geführt, dass man auf Distanz zu Bildern blieb, auch wenn sie in der Theorie durchaus als Quellen angesehen wurden, zumindest für die Realienkunde. Doch darauf braucht man sich nicht zu beschränken. Gerade wenn man im Sinne des "Linguistic Turn" die objektive Beschreibbarkeit der Welt als illusorisch ansieht, nähern sich die Medien Wort und Bild einander an – mit ihren gattungsbedingten Limiten, mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen, in ihrer oft allzumenschlichen Produktion. Bilder sind damit für Historiker, für historisch arbeitende Kulturwissenschaftler, nicht länger bloß unzuverlässige Illustration solider Erkenntnisse, die auf anderer, textueller oder statistischer Basis gewonnen wurden. Vielmehr werden Bilder über die reine Realienkunde hinaus zu einer vollwertigen Quelle menschlicher Weltdeutung und Sinnstiftung. Zeichen, Symbol, Code, Diskurs – die Lieblingswörter der postmodernen Kulturwissenschaften beziehen sich auf Texte gleichermaßen wie auf Bilder.

Die Jungfräulichkeit ist die entscheidende Analogie zwischen Marienbild und staatlicher Souveränität

Die Jungfräulichkeit ist die entscheidende Analogie zwischen Marienbild und staatlicher Souveränität: Nur wer seinen politischen Körper unversehrt erhalten kann, ist souverän. Seit dem Hochmittelalter verbreitet ist die Darstellung des "hortus conclusus": Maria steht in einem Paradiesgarten ("hortus"), der von einem Zaum umschlossen ("conclusus") ist.


Ganz unbesehen von Moden ist es hilfreich, systematisch Bilder als Quellen zu berücksichtigen, um soziale Lernprozesse historisch zu verstehen. Individuen und Gruppen sind beim Lernen keine unbeschriebenen Blätter; sie erwerben neue Kenntnisse, indem sie diese mit bestehendem Wissen verknüpfen oder assoziieren. Das gilt auch für Konzepte, die uns selbstverständlich und zeitlos erscheinen mochten, obwohl sie es nicht sind – etwa der Staat. Die Tatsache, dass der moderne Nationalstaat gegenüber supranationalen Instanzen wie privaten Unternehmen schleichend an Bedeutung verliert, führt die Historizität dieser Organisationsform des Politischen vor Augen. Wie das Phänomen selbst, so ist das Wort "Staat" ein Produkt der Frühen Neuzeit. Seit der italienischen Renaissance taucht "stato" etwa bei Machiavelli auf, und in Auseinandersetzung mit ihm und der "ragione di stato", der umstrittenen Staatsraison, breitet sich das Wort im Deutschen – erst – in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus.

Der Kern des modernen Staatsverständnisses ist die Souveränität, die "Kompetenzkompetenz" des Herrschers. Definiert wird dieses fundamentale staatsrechtliche Konzept erstmals 1578 vom Franzosen Jean Bodin: "La souveraineté est la puissance absolue et perpétuelle d'une République" – die Souveränität ist die uneingeschränkte und zeitlich unbegrenzte Gewalt in einem Staat. Uneingeschränkt bedeutet, dass diese Gewalt unmittelbar zu Gott ist, dass kein irdischer Herrscher einem Souverän etwas dreinzureden hat und dass keine untergeordnete Institution von seiner Gesetzgebung ausgespart ist. Das lässt sich leicht postulieren. Doch im 16. Jahrhundert ist es alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Gibt es nicht Kaiser und Papst, die sich als Stellvertreter Gottes in die weltliche und geistliche Universalherrschaft teilen? Gibt es nicht Adlige, Städte, Klöster oder Universitäten, die alle dank wohlgehüteter Privilegien einen besonderen Rechtsstatus beanspruchen können?

Das Testament des Friedens oder Anstands

"Das Testament des Friedens oder Anstands" aus dem Jahr 1615: Bild und Text weisen das Flugblatt als antispanische Propaganda aus.


Die Souveränität ist also umstritten, als das Konzept auftaucht, denn es widerspricht – zumal im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – den herkömmlichen, gültigen Ordnungsvorstellungen und der Verfassungsrealität. Die Souveränität wird von vielen Menschen als fremdartig und bedrohlich empfunden, während ihre Anhänger betonen, dass die souveräne Obrigkeit mit ihrem Gewaltmonopol die Erlösung von (religiösen) Bürgerkriegen und äußeren Invasionen darstellt. In Monarchien lässt sich diese Macht problemlos darstellen: Dies geschieht durch den Fürsten in Rüstung, der Feldherr, der siegreich über die erschlagenen Feinde einherreitet, oder der thronende König, zu dessen Füßen eine demütige Landespersonifikation kniet, die seinen Schutz genießt – wie Francia bei Simon Vouët vor Ludwig XIII.

Eine Medaille von 1583 erfasst die wenig harmonische Paarbeziehung zwischen den Niederlanden und Spanien

Eine Medaille von 1583 erfasst die wenig harmonische Paarbeziehung zwischen den Niederlanden und Spanien: Auf der Vorderseite legt ein Spanier unter den Augenseines Königs Phillipp II. die weibliche Landespersonifikation in Ketten. Die Rückseite der Medaille zeigt Hollandia, wie sie dem König den Ehering zurückgibt – die abgenommenen Fußfesseln liegen auf dem Boden.


Für einen republikanischen Souverän, ein Ratsregiment von gleichgestellten Männern, ist diese Form monokratischer Selbstdarstellung allerdings nicht brauchbar. Aber auch hier liegt die ikonographische Lösung des Problems beim Motiv der schützenswerten Landespersonifikation. Was, wenn diese Allegorie nicht unterwürfig kniet, sondern gleichwertig neben dem Mann thront oder steht, wie auf zahlreichen niederländischen Bildern, die, etwa 1623 bei Jan Tengnagel, den Statthalter aus dem Haus Oranien – den militärischen Führer des Landes – neben eine selbstbewusste Hollandia hinstellen? Noch klarer ist Tintorettos Hierarchie in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes: Venetia, mit dem Zepter in der Hand auf einer Wolke thronend, reicht dem knienden Dogen Nicolò del Ponte einen Lorbeerkranz. Die Staatspersonifikation ist dem höchsten Repräsentanten der Lagunenrepublik übergeordnet. Sie steht da als die entscheidende Mittlerin zwischen den Venezianern und dem Allmächtigen, dessen göttliches Licht in der Aureole direkt über ihr durchbricht – Venetia ist unmittelbar bei Gott, während der Doge wie auf einem Votivbild zu ihr emporblickt. Ikonographisch handelt es sich bei Tintorettos Venetia tatsächlich um einen Marientypus, um die "Regina coeli", die Himmelsherrscherin. Die Nähe von Venetia und Doge zu mariologischen Votivbildern macht die Differenzierung bereits für Zeitgenossen schwierig. So identifiziert der durchreisende Engländer Thomas Coryate 1608 Tintorettos Venetia als "the Virgin Mary". Derselbe Coryate nennt die Lagunenstadt in mariologischer Metaphorik "a pure Virgin and incontamined mayde", eine Jungfrau, die ihre Schönheit unbefleckt über mehr als tausend Jahre bewahrt habe, obwohl viele fremde Potentaten versucht hätten, sie zu entjungfern.

Die Jungfräulichkeit ist die entscheidende Analogie zwischen Marienbild und staatlicher Souveränität. Nur wer seinen politischen Körper unversehrt behalten kann, ist souverän. Nicht nur Maria, auch Athene/ Minerva werden damit zur ikonographischen Vorlage von (republikanischen) Staatspersonifikationen. Im geschilderten Sinn handelt es sich dabei anfangs aber nicht um eine einsame Jungfrau, sondern um eine Paarbeziehung: Doge und Venetia, Statthalter und Hollandia. Das Muster dieser keuschen Ehe entstammt ebenfalls der Marienikonographie: Es ist der seit dem Hochmittelalter verbreitete hortus conclusus. Maria sitzt oder steht in einem (Paradies-)Garten (hortus), der von einem Zaun umschlossen (conclusus) ist. Das Motiv geht auf die Auslegung des Hohenlieds zurück, und entsprechend der dortigen Liebesmetaphorik kann Maria auch als Kirche (Ecclesia) verstanden werden, die als keusche Braut (so genannte Maria sponsa) dem Bräutigam Christus in symbolischer Ehe verbunden ist.

Sehr populär ist der hortus conclusus in den Niederlanden; und dort wird er während des jahrzehntelangen Unabhängigkeitskriegs gegen Spanien in ein politisches Umfeld verlegt. Nun ist es nicht mehr die (katholische) Maria, sondern in den (reformierten) Generalstaaten Hollandia, die in einem Garten sitzt. Und bei den Bildern handelt es sich, anders als bei Tintoretto, um Flugblätter, Massenprodukte patriotischer Propaganda ohne höhere künstlerische Ambitionen und ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit. Das hier gezeigte Beispiel, das Testament des Friedens von 1615, zeigt die so genannte niederländische Magd, die von einem Engel mit Lorbeer gekrönt wird. An ihrer Seite hat sie das niederländische Wappentier, den Löwen, der sie und den Freiheitshut auf der Lanze mit dem Schwert gegen ihre Peiniger verteidigt. Der Führer des Widerstands ist im Orangenbaum symbolisiert, der Statthalter aus dem Haus Oranien. Ihnen gegenüber, außerhalb des Zaunes, sieht man die Angreifer, welche die – körperliche, territoriale – Integrität der holländischen Jungfrau beeinträchtigen wollen: eine Gruppe katholischer Prälaten, ganz links spanische Soldaten. Unzweideutig ist die erotische Metaphorik beim Soldaten, der seine Kanone zwischen den gespreizten Beinen auf das Zauntor und durch dieses auf die Landespersonifikation richtet, die aber in Zaun und Löwe gleichsam einen schutzbereitenden Keuschheitsgürtel um sich hat.

Ein französischer und ein spanischer Adeliger machen Hollandia vergeblich den Hof

Im Vorfeld des Westfälischen Friedens von 1648 entstand ein Stich von Crsipijn van de Passe d.J.: Ein französischer und ein spanischer Adeliger machen Hollandia vergeblich den Hof. Die Botschaft lautet: ie souveränen und neutralen Niederlande lassen sich nicht mit den Großmächten ein – schon gar nicht in eine Ehe.


Hollandia ist frei, jungfräulich und keusch und will das bleiben. Dafür braucht sie nach den Vorstellungen der Zeit einen Partner, einen Bräutigam, der diesen Wunsch in einer symbolischen und damit rein platonischen, nicht vollzogenen Ehe liebevoll respektiert – so wie Christus das mit Maria/Ecclesia tut. Die spanischen Herrscher haben, nach Ansicht der Niederländer, genau das nicht gemacht, und deshalb ist der niederländische Unabhängigkeitskampf entbrannt, zur Verteidigung von missachteten Freiheitsrechten, nicht aber zur Abschaffung der Monarchie. Eine Medaille von 1583 erfasst diese wenig harmonische Paarbeziehung ebenfalls mit der Ehemetaphorik. Auf der Vorderseite legt ein Spanier unter den Augen seines Königs Philipp II. die weibliche Landespersonifikation in Ketten. Die Umschrift lautet: UBI REX IN POPULUM TIRANNUS, was die Rückseite fortsetzt mit POPULO JURE D[IVINO] ET H[UMANO] DIVORTIUM – wo der König gegenüber dem Volk zum Tyrannen wird, dort steht dem Volk nach göttlichem und menschlichem Recht die Scheidung zu. Die Rückseite der Medaille zeigt entsprechend Hollandia, erneut mit dem beschützenden Löwen, wie sie dem König den Ehering zurückgibt, während die abgenommenen Fußfesseln am Boden liegen. Wie Maria/Ecclesia in eine mystische Ehe mit Christus eintritt, so hat sich Hollandia dem Spanier verbunden, doch dann ihre mystische Ehe aufgelöst, als sich dieser als tyrannischer Landesherr entpuppte. An seine Stelle tritt nun der fürsorgliche Beschützer aus dem Volk Oranien, denn die Niederländer gehen noch lange davon aus, dass ein Land oder Volk einen Fürsten braucht oder dann zumindest dessen Stellvertreter – eben den Statthalter. In dieser Funktion steht, ganz ähnlich wie bei Tengnagel, auf vielen Bildern höherer oder durchschnittlicher Qualität der Oranier neben einer gleichwertigen Hollandia.

Das Ölgemälde eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1665 zeigt Helvetia, die Personifikation der Schweiz, umworben von europäischen Potentaten.

Das Ölgemälde eines unbekannten Künstlers aus dem Jahr 1665 zeigt Helvetia, die Personifikation der Schweiz, umworben von europäischen Potentaten.


Neben einem solchen selbstlosen, nicht an fleischlicher Lust interessierten Mann bleiben die aggressiven ausländischen Bewerber erfolglos. Das zeigt ein Stich Crispijn van de Passes d. J., der im Vorfeld des Westfälischen Friedens von 1648 entsteht. Ein französischer (links) und ein spanischer Adliger (rechts) machen Hollandia den Hof. Der niederländische Löwe zu ihren Füßen und ein einheimischer Bürger hinter ihr helfen der gekrönten Jungfrau, den unwillkommenen Freiern zu widerstehen. Die Botschaft ist klar: Die souveränen und neutralen Niederlande lassen sich mit den Großmächten nicht ein, schon gar nicht in eine Ehe.

Wie die Niederländer nicht zielstrebig eine Republik einführen, sondern sich nach längeren Verfassungswirren in einer solchen gleichsam wiederfinden, so ist auch die republikanische Ikonographie das Ergebnis eines Suchprozesses. Interessanterweise werden solch neue Bildtraditionen nun auch anderswo übernommen, und zwar dort, wo ebenfalls das neuartige Konzept einer souveränen Republik ausgedrückt werden muss. Wie die niederländischen Generalstaaten, so wird im Westfälischen Frieden von 1648 auch die schweizerische Eidgenossenschaft aus dem Reichsverband herausgelöst, was allmählich im Sinn Bodins als Souveränität interpretiert wird. Wenig später taucht Helvetia als Landespersonifikation auf, die wohl früheste Darstellung dürfte etwa auf 1665 zu datieren sein. Der Text auf ihrer Schürze weist sie aus als "wunder Schweizerland, werthster Freyheit höchste Zier" in "alter Keüschheitstracht", die "Königreichern gleich" unter "Frömbde Stände" tritt. Als frisch gebackenes Völkerrechtssubjekt steht Helvetia damit inmitten von männlichen Werbern, zumeist Fürstenvertretern, die um ihre Hand anhalten, von links nach rechts Spanien, die Niederlande, Savoyen, der Kaiser, Frankreich und Venedig – eine analoge Szene wie zuvor bei den Niederländern.

Der Zürcher Jacob Wurmann bringt mit seinem Titelbild zu einer Fluschrift aus dem Jahr 1676 einmal mehr die Keuschheitsmetaphorik zum Ausdruck: Helvetia ist eine resolute Dame, die fremde Freier entschieden abwehrt.

Der Zürcher Jacob Wurmann bringt mit seinem Titelbild zu einer Fluschrift aus dem Jahr 1676 einmal mehr die Keuschheitsmetaphorik zum Ausdruck: Helvetia ist eine resolute Dame, die fremde Freier entschieden abwehrt.

Es ist kein Zufall, dass dieses Gemälde in dieselbe Zeit fällt wie die erste offizielle Neutralitätserklärung der Eidgenossenschaft, die 1674 verkündet, "dass wir uns als ein Neutral Standt halten wollen". Helvetia will sich für keinen der fremden Freier entscheiden, sie ist, wie andere Gebrauchsprodukte der politischen Propaganda zeigen, eine resolute Dame, die dazu auch selbst zu den Waffen zu greifen bereit ist. Einmal mehr mit der Ehemetaphorik bringt dies der Zürcher Jacob Wurmann zum Ausdruck, als er 1676 eine Flugschrift mit dem abgebildeten Titelblatt vorlegt: Bulschafft der sich representirenden Eidtgnössischen Dam, welche einer hochloblichen Eidgnoschaft ihre Herzensgedanken in treuen eröffnet, mit vermelden, dass sie Ihr verlobte tragende Jungfrauschaft gegen allen ihren aussländischen Bulen rein behalten, sich in Ehestand nit einlassen, sonder by ihrem bis dahin tragenden Kranz ihr Leib, Ehr, Gut und Blut aufsezen, darbei leben und sterben wolle.

Nicht nur bei Wurmann ergänzen sich Text und Bild. Sie sind unterschiedliche, aber gleichwertige Quellen, wenn man verstehen will, wie neuartige staatsrechtliche Wörter breiteren Bevölkerungskreisen vermittelt werden. Konzeptionen wie "Staat", "Republik", "Neutralität" oder eben "Souveränität" werden im Gefolge des "Linguistic Turn" und dann des "Iconic Turn" nicht länger als zeitlose Kategorien der Verfassungsgeschichte gedeutet, sondern als kulturelle Leistungen, mit denen Gesellschaften sich Ordnung geben und diese Ordnung symbolisch zum Ausdruck bringen. Das Beispiel der souveränen Jungfrau belegt die erwähnte Tatsache, dass man Neues nicht einfach aus dem Nichts schaffen kann: Um in der Frühen Neuzeit das neuartige, von Bodin definierte Konzept der Souveränität zu vermitteln, muss man auf die mittelalterliche Bildersprache zurückgreifen und sie als Analogie zur Jungfräulichkeit der zu Gott unmittelbaren Braut Maria präsentieren.

Autor:
Prof. Dr. Thomas Maissen
Lehrstuhl für Neuere Geschichte
Grabengasse 3-5, 69 117 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 54 22 69
E-Mail: thomas.maissen@urz.uni-heidelberg.de

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