„Ich und meine Stadt“
Die Araber, die Autobiographie und die Heimatstädte der Autoren
von Susanne Enderwitz
Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Ägypten die Nahda, eine Bewegung, die mit „Renaissance“ übersetzt werden kann und den „Rückhalt im Eigenen“ betont – auch in der Literatur. Eine besonders rasante Entwicklung durchläuft seither der ägyptische Roman, der stark von den autobiographischen Erfahrungen seiner Autoren zehrt. Verglichen mit westlichen Autobiographien ist ein Charakterzug arabischer Autobiographien besonders ausgeprägt: die Identifikation des Autors mit seiner Heimatstadt. Die enge Verbundenheit von Autobiographie und Stadtbiographie macht ägyptische Romane zu zeitgenössischen Quellen ersten Ranges.
Ein Diktum in der Islamwissenschaft besagt, dass die Biographie die eigentliche Form der arabisch-islamischen Geschichtsschreibung sei. Tatsächlich spielt die Biographie für die Historiographie eine kaum zu überschätzende Rolle, aber sie unterscheidet sich von unserem modernen Biographieverständnis. Zumeist handelt es sich um eine Hagiographie oder um eine Gelehrtenbiographie, in deren Zentrum die Leistung eines Menschen steht, während seine persönlichen und vor allem privaten Umstände im Dunkel bleiben. Biographie und Autobiographie im modernen, individuellen oder gar individualistischen Sinn sind eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts und hängen eng mit der Entwicklung des modernen Romans zusammen. Daher empfiehlt es sich, zunächst einen Blick auf die Entstehungsbedingungen der modernen arabischen Literatur zu werfen.
Das Jahr 1798 gilt als Zäsur in der arabischen und islamischen Geschichte, als dasjenige Datum, an dem die Moderne zuerst in Ägypten einbrach. Es war ein Einbrechen im wortwörtlichen Sinn. In diesem Jahr unternahm Napoleon mit einem Heer von rund 40 000 Mann einen Feldzug nach Ägypten, der ihn von Alexandria über die Schlacht bei den Pyramiden bis nach Kairo führte. Die Mamluken, die damaligen Herrscher Ägyptens, wurden bis weit nach Oberägypten zurückgeschlagen. Das ägyptische Abenteuer der Franzosen sollte allerdings von kurzer Dauer sein, da bereits 1801 die Briten die Franzosen zum Rückzug zwangen, weil sie ihren Zugang zu Indien gefährdet sahen. Für die Europäer war die französische Expedition dennoch ein großer Erfolg. Napoleon führte in seinem Tross etwa tausend Zivilisten mit, Maler und Poeten, Botaniker und Zoologen, Geometer und Ingenieure, aus deren Arbeit die Description de l’Egypte hervorging. Es ist ein monumentales Werk, das vornehmlich dazu gedacht war, eine Bestandsaufnahme der altägyptischen Altertümer vorzunehmen, aber auch eine minutiöse Erfassung der Flora und Fauna Ägyptens enthält.
Die napoleonische Expedition öffnete Ägypten für Europa, aber auch umgekehrt bildete sich in Ägypten ein Interesse an Europa heraus. Mohammed Ali, der erste moderne Herrscher Ägyptens, der im Jahr 1811 der Mamlukenherrschaft ein Ende setzte und die Dynastie der ägyptischen Khediven oder Vizekönige begründete, schickte Studienmissionen nach Paris. Sein Interesse galt vornehmlich dem Militärwesen, der Ingenieurskunst und dem Maschinenbau. Aber ein glücklicher Zufall wollte es, dass ausgerechnet der geistliche Beistand der ersten dieser Studienmissionen (1826-31), der Scheich Rifa’a Tahtawi, ein offenes Auge für die französische Zivilgesellschaft hatte. Er interessierte sich für die Politik, das Rechtssystem, die Wissenschaft, die Kunst und das Alltagsleben. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er einen Bericht über seine Pariser Zeit, der zum Vorbild für die meisten späteren Europaberichte arabischer Reisender werden sollte. Außerdem gründete er eine Übersetzerschule, die sich systematisch der Erschließung europäischsprachiger Literatur technischer und, in geringerem Umfang, auch literarischer Art widmete.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts fand europäisches Kapital seinen Weg nach Ägypten, was sowohl positive als auch negative Auswirkungen für das Land hatte. Auf der einen Seite beförderte der Bedarf der englischen Textilproduktion den Export von Baumwolle und damit eine Hebung des Lebensstandards, die neben dem Königshaus einer neuen städtischen Mittelschicht zugute kam. Auf der anderen Seite geriet das Land in eine Staatsverschuldung und schließlich in einen Staatsbankrott hinein, der in die britische Besatzung (1882) mündete. Die Verzahnung von Ägypten mit Europa, die in der Eröffnung des Suezkanals (1869) ihren sichtbarsten Ausdruck fand, setzte jedoch auch eine Dynamisierung der ägyptischen Kultur in Gang. Es wurden Zeitungen und Zeitschriften gegründet, die in der erwähnten Mittelschicht ein interessiertes Lesepublikum fanden und nationale Fragen verhandelten, die bis dahin noch nie gestellt worden waren. Wo lag Ägyptens Identität oder Seele begründet? War sie pharaonisch, arabisch, islamisch, mittelmeerisch, modern? Und was bedeutete das im Einzelnen? Stand Ägypten als Nation für sich, oder gehörte es den Arabern, die es mit dem Islam zum Teil einer weit nach Asien reichenden Kultur gemacht hatten? Und umgekehrt: War Ägypten ein genuiner Teil des Mittelmeers, möglicherweise schon unter den Pharaonen, die ähnlich den Griechen an der Wiege Europas standen? Die Auseinandersetzung über solche Fragen führte im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zur Herausbildung zahlreicher politischer Parteien und Strömungen und erwies sich als besonders fruchtbar für die Entstehung der modernen Literatur.
Der erste ägyptische Roman
In diesem Zeitraum von etwa fünfzig Jahren entstand die Nahda, ein Wort, das häufig mit „Renaissance“ übersetzt wird und eine Bewegung bezeichnet, die außer Ägypten auch die Levante und Nordafrika erfasste. Der Ausdruck trifft jedenfalls auf jenen Teil der Bewegung zu, der den „Rückhalt im Eigenen“ (Walter Braune) suchte und sich für seine Revitalisierung einsetzte, um Ägypten (den Libanon, Tunesien etc.) für das 20. Jahrhundert anschlussfähig zu machen. Dabei entstanden nach den ersten Übersetzungen aus europäischen Sprachen vor allem Editionen arabischer Klassiker und Adaptionen europäischer Literaturgattungen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielte die Dichtung, die über die Jahrhunderte hinweg die arabische Literaturgattung par excellence gewesen war, die erste Geige, aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekamen die Kurzgeschichte, das Drama und der Roman ihre Gelegenheit zum Auftritt. Der erste ägyptische Roman, Zainab von Muhammad Haikal (geboren 1889), eine romantische Schilderung des ägyptischen Landlebens, wurde 1914/15 veröffentlicht. Ein breiteres Lesepublikum fand er jedoch erst mit der Wiederauflage von 1925/6, und zwar zeitgleich mit der Erstveröffentlichung von Taha Husains (geboren 1889) Kindheitstage, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem bäuerlichen Ägypten.
Identifikation mit der Heimatstadt
Mit der Veröffentlichung der Kindheitstage war der Weg frei für den Roman, und in den folgenden siebzig Jahren sollte der arabische Roman im Allgemeinen und der ägyptische Roman im Besonderen eine rasante Entwicklung durchlaufen, die ihn vom sozialen Realismus über die sozialkritische littérature engagée hin zu einer „neuen Sensibilität“ in der Gegenwart führte. Und nicht nur die Form, auch die Sujets des Romans veränderten sich. Aus dem Landroman wurde ein Stadtroman, der nicht mehr das, je nach Standpunkt, entweder ewige oder rückständige Ägypten beschrieb. Der Stadtroman, für den vor allem der Name Nagib Machfus (geboren 1911) mit seinen Kairo-Romanen und insbesondere der Kairoer Trilogie aus den Jahren 1956/7 steht, wandte sich vielmehr dem Zusammenprall von traditioneller und moderner Lebensweise und der unaufhaltsamen Dynamisierung auch des traditionellen Sektors zu.
Von Anfang an zehrte der ägyptische Roman, wie der arabische Roman insgesamt, sehr stark von den autobiographischen Erfahrungen seiner Autoren. Das nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, dass er in Ländern entstand, in denen die politische Zensur bis heute wirksam ist, und in einer Kultur, die persönliche Bekenntnisse als unehrenhaft betrachtet. Für beides bot die fiction einen willkommenen Ausweg. Zum einen ließ sich soziale und politische Kritik hinter einer „erfundenen“ Handlung verbergen, und zum andern konnte man private und intime Dinge auf dieselbe „erfundene“ Ebene transponieren. Während der erste Umstand bis in unsere Tage hinein Geltung beansprucht und dazu führte, dass die arabische Literatur mit einer gesellschaftlichen Verantwortung befrachtet ist, die man sich im Westen gar nicht mehr vorstellen kann, hatte die Lockerung der sozialen Kontrolle zumindest in den Städten zur Folge, dass sich die Autobiographie allmählich vom Roman zu lösen begann und zu einer Literaturgattung eigenen Rechts wurde. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend Autobiographien von Schriftstellern veröffentlicht, die den Schwerpunkt auf die Kindheit und Jugend ihrer Autoren legten und sich so von den unpersönlichen, auf Zeitzeugenschaft bedachten Memoiren der Politiker oder Kulturfunktionäre deutlich unterschieden.
Aufs Ganze gesehen, weist die arabische Autobiographie der vergangenen fünfzig Jahre einen Charakterzug auf, der im Vergleich mit der westlichen Autobiographie besonders ausgeprägt ist: die Identifikation des Autobiographen mit seiner Heimatstadt. Schon der Tunesier Albert Memmi (geboren 1920), der im Jahr 1953 auf Französisch Die Salzsäule veröffentlichte, widmet sich in diesem ersten Buch intensiv seiner Prägung durch das Judenviertel von Tunis. Diese literarische Autobiographie ist indessen auch ein Dokument der Transgression. Memmi beschreibt die Enge des Ghettos, die Armut des Elternhauses, die Schwüle der Festzeremonien und dann seinen Ausbruch aus diesem angestammten Milieu, der ihn zunächst an ein Gymnasium in Tunis, danach an die Universität von Algier und schließlich an die Sorbonne in Paris führte. Eine neue Heimat erwarb er sich nirgendwo, sondern er blieb ein Wanderer zwischen den Welten von Juden, Arabern und Franzosen. Ungeachtet oder sogar in Umkehrung des Titels, der auf Lots Weib in der Bibel und damit auf das Motiv beziehungsweise das Verbot des Zurückschauens anspielt, veröffentlichte Memmi jedoch nur zwei Jahre später den autobiographischen Roman Die Fremde. Darin misslingt die Reintegration des Helden in die Tradition seiner jüdischen Familie in Tunis vor allem aus dem Grund, dass er die Fremde in Gestalt seiner französisch-katholischen Ehefrau zum Teil seines Lebens gemacht hat. Aber es ist ein guter Grund für die Loslösung von der Tradition, im Leben anscheinend noch mehr als im Roman. Im Roman beschließen der Held und seine Frau Marie, sich scheiden zu lassen, während im Leben Memmi und seine Frau Marie übereinkamen, gemeinsam weiterzuleben, allerdings in Paris und nicht in Tunis.
War Memmis Salzsäule noch stärker vom europäischen Bildungsroman als von der arabischen Literaturtradition inspiriert, so kehrte sich das Verhältnis der jeweiligen Einflüsse in den folgenden Jahrzehnten um. Der langfristige Erfolg der arabischen Renaissance machte sich bemerkbar, denn die arabische Tradition floss nicht etwa unbemerkt in die neuen Literaturgattungen ein, sondern wurde bewusst aufgegriffen und umgesetzt. Diese Tradition bot für die Identifikation eines Autors mit seiner Stadt gleich mehrere Anknüpfungspunkte. „Stadtdichtung“ geht bis ins arabisch-islamische Mittelalter zurück; im Rahmen poetischer Gattungen wie Lob-, Schmäh- oder Trauerdichtung spielte die Stadt seit jeher eine wichtige Rolle.
Elegien auf Städte
Lobdichtung auf Städte wie Jerusalem, Damaskus, Kairo und andere Städte, vornehmlich Zentren islamischer Gelehrsamkeit, waren eher die Regel als die Ausnahme. Die Schmähung von Städten wiederum konnte einen quasi offiziellen Charakter aufweisen, wenn sie sich als Beitrag zur Rivalität zwischen kulturellen Zentren innerhalb des Reiches verstand, sie taucht aber auch in Fragmenten von Gelegenheits- oder Stegreifdichtung auf. Auch Elegien auf Städte wurden in den kriegerischen Jahrhunderten des Mittelalters gedichtet, wenn durch feindlichen Angriff eine Stadt beschädigt oder zerstört worden war, wie es unter anderem während der spanischen Reconquista mehrfach geschah.
Es ist jedoch nicht die Dichtung allein, sondern es sind auch die Historiographie, Geographie und Biographie, die uns ein Gefühl dafür vermitteln, wie stark sich die Menschen des arabisch-islamischen Mittelalters mit einer spezifischen Lokalität verbunden fühlten. Der Aufenthalt in einem kulturellen Zentrum und damit bei einem Mäzen, vor allem aber die Bindung an die Familie beziehungsweise den Clan und den Stamm schufen lokale oder regionale Zugehörigkeiten, die bis heute inner- und außerhalb der Literatur Bestand haben. Für diesen Konservatismus spielt sicher eine Rolle, dass die Nation im arabischen Raum ein junges Phänomen ist, dass die Ländergrenzen häufig auf willkürliche Setzungen der europäischen Kolonialmächte zurückgehen und dass die arabischen Regime des 20. Jahrhunderts nur selten zur Identifikation mit dem Staat einluden.
Alexandria: eine Stadt und ihr kulturelles Gedächtnis
Wenn die Dichtung und Prosa des Mittelalters dem Lokalpatriotismus auch das Muster vorgaben, so bedurfte es doch etlicher anderer Gründe, damit dieses Muster in der modernen Literatur wirksam werden konnte. Ein solcher Grund war, literaturimmanent gesprochen, die Intertextualität, aber bei näherer Betrachtung stammte das Motiv dafür direkt aus der Politik. Edward Kharrat (geboren 1926), der mit Safranerde im Jahr 1986 Kindheits- und Jugenderinnerungen aus Alexandria vorlegte, die er ausdrücklich als Gegenentwurf zu Lawrence Durrells Alexandria Quartett (1957-60) verstanden wissen will, ist so ein Fall. Durrells Alexandria, insbesondere im ersten Band Justine, spielt im kolonialen Ägypten, ist aus der Perspektive eines Engländers geschrieben und bezieht auch sein Personal weitgehend aus den Kreisen der Ausländer. Nessim, Justines Ehemann, ist als Ägypter eine Ausnahme, aber er ist eine Ausnahme auch unter den Ägyptern, denn er ist Kopte, Bankier und Großgrundbesitzer. Kharrat hingegen, dem die literarische ebenso wie die soziale und politische Binnenperspektive vertraut ist, nahm sich mit seiner Familie die Einheimischen zum Vorbild seiner Literatur und beabsichtigte, damit einen Beitrag zur Dekolonialisierung der Köpfe in Ost und West zu leisten.
Alexandria ist für die Frage nach der Autobiographie als Stadtbiographie ohnehin besonders interessant, weil es von vornherein so viele verschiedene kulturelle Gedächtnisse hervorbrachte. Kharrat ist nicht der einzige gebürtige Alexandriner, der die Stadt für sich reklamiert. André Aciman (geboren 1951) beschreibt in Damals in Alexandria von 1994 die Geschichte seiner jüdischen Familie, die gegen Ende der fünfziger Jahre vor dem Nasser’schen Nationalismus kapitulierte und das amerikanische Exil wählte. Ähnlich Harry Tzalas (geboren 1936), der in Abschied von Alexandria von 2000 Erinnerungen an die griechische Gemeinschaft verarbeitet, deren allmähliche Auflösung in der Mitte der fünfziger Jahre seine Familie ins brasilianische Exil führte. Die Heimatlosigkeit des Kosmopoliten, die alle diese Bücher durchzieht, ist dabei ein Bestandteil der Alexandriner Wurzeln. Sie schlägt eine Brücke zu Triest, das sich auf der anderen Seite des Mittelmeers zum Vergleich anbietet, weil es auf eine ähnlich kosmopolitische Vergangenheit zurückblicken kann, einen ähnlich gelagerten Niedergang erlebte und eine ähnlich reiche Erinnerungsliteratur stimulierte. Nur zum Star einer neuen Art Kriminalroman hat es Alexandria noch nicht gebracht. Das ist anders bei den Triest-Krimis von Veit Heinichen, der wie Donna Leon mit ihren Venedig-Krimis ein Zugezogener ist und aus dem Zusammenspiel von vergangener Pracht, abgeschiedener Lage und italienisch/osteuropäischer Mafia seine Fälle konstruiert. Mafiastrukturen weist Alexandria nicht auf, und Ägypten ist zu sehr mit seinen Problemen befasst, um Ausländer zum Zuzug anzuregen. Ein entsprechendes Milieu findet sich eher in den Erinnerungen von Mohamed Choukri (geboren 1935) an die marokkanische Stadt Tanger wieder (Das nackte Brot und Zeit der Fehler), die in den fünfziger und sechziger Jahren ein Eldorado für Glückssucher, Schmuggler und „Pop“-Literaten war und sich seit kurzem wieder im Aufwind befindet.
Noch einmal zurück zur Frage nach der engen Verbundenheit von Autobiographie und Stadtbiographie in der arabischen Literatur. Die Tradition spielt hierbei zweifellos eine Rolle, sie fällt aber auch auf einen fruchtbaren Boden. Arabische Städte sind vielfältig und weisen neben ihrer eigenen arabisch-islamischen Tradition häufig auch Spuren früherer (römischer, griechischer) Besiedlung ebenso wie der späteren (osmanischen) Herrschaft und kolonialen (britischen, französischen) Vergangenheit auf. Es ist ein rezentes Phänomen, dass diese historischen Schichten im Zeitalter der Globalisierung rigoros abgetragen werden, um Platz für eine städtische Neuordnung zu schaffen. Für Beirut, wo überdies der Bürgerkrieg die Altstadt niederwalzte, gibt es zahlreiche Beispiele literarischer Spurensicherung als unmittelbare Reaktion. Das gilt aber auch für andere arabische Städte. Der libanesische Soziologe Khalid Ziyadeh (geboren 1951) hatte, als er 1994 seine Kindheits- und Jugenderinnerungen Freitag, Sonntag veröffentlichte, genau eine solche Vermessung von Tripoli in den fünfziger und sechziger Jahren im Sinn. Befördert wird diese Verbindung des individuellen mit dem kollektiven Gedächtnis noch zusätzlich durch eine Scheu innerhalb der arabischen Kultur, das Individuum und schon gar den Individualismus zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Für einen modernen Schriftsteller, der nicht mehr seine Vaterfamilie im Zentrum seines Lebens sieht und sich ebenso wenig als Teil eines Clans oder einer Klientel betrachtet, bietet daher die Identifikation mit seiner Stadt auch einen Schutz vor der Gefahr, von seinem Lesepublikum als Egomane oder Eskapist abgestempelt zu werden. Dies alles, die literarische Tradition, das historische Interesse und die moderne Gruppenidentität zusammengenommen, macht die arabische Autobiographie, auch und gerade als Stadtbiographie im Sinn des Titels, zu einer zeitgenössischen Quelle ersten Ranges.
Ein Diktum in der Islamwissenschaft besagt, dass die Biographie die eigentliche Form der arabisch-islamischen Geschichtsschreibung sei. Tatsächlich spielt die Biographie für die Historiographie eine kaum zu überschätzende Rolle, aber sie unterscheidet sich von unserem modernen Biographieverständnis. Zumeist handelt es sich um eine Hagiographie oder um eine Gelehrtenbiographie, in deren Zentrum die Leistung eines Menschen steht, während seine persönlichen und vor allem privaten Umstände im Dunkel bleiben. Biographie und Autobiographie im modernen, individuellen oder gar individualistischen Sinn sind eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts und hängen eng mit der Entwicklung des modernen Romans zusammen. Daher empfiehlt es sich, zunächst einen Blick auf die Entstehungsbedingungen der modernen arabischen Literatur zu werfen.
Das Jahr 1798 gilt als Zäsur in der arabischen und islamischen Geschichte, als dasjenige Datum, an dem die Moderne zuerst in Ägypten einbrach. Es war ein Einbrechen im wortwörtlichen Sinn. In diesem Jahr unternahm Napoleon mit einem Heer von rund 40 000 Mann einen Feldzug nach Ägypten, der ihn von Alexandria über die Schlacht bei den Pyramiden bis nach Kairo führte. Die Mamluken, die damaligen Herrscher Ägyptens, wurden bis weit nach Oberägypten zurückgeschlagen. Das ägyptische Abenteuer der Franzosen sollte allerdings von kurzer Dauer sein, da bereits 1801 die Briten die Franzosen zum Rückzug zwangen, weil sie ihren Zugang zu Indien gefährdet sahen. Für die Europäer war die französische Expedition dennoch ein großer Erfolg. Napoleon führte in seinem Tross etwa tausend Zivilisten mit, Maler und Poeten, Botaniker und Zoologen, Geometer und Ingenieure, aus deren Arbeit die Description de l’Egypte hervorging. Es ist ein monumentales Werk, das vornehmlich dazu gedacht war, eine Bestandsaufnahme der altägyptischen Altertümer vorzunehmen, aber auch eine minutiöse Erfassung der Flora und Fauna Ägyptens enthält.
Die napoleonische Expedition öffnete Ägypten für Europa, aber auch umgekehrt bildete sich in Ägypten ein Interesse an Europa heraus. Mohammed Ali, der erste moderne Herrscher Ägyptens, der im Jahr 1811 der Mamlukenherrschaft ein Ende setzte und die Dynastie der ägyptischen Khediven oder Vizekönige begründete, schickte Studienmissionen nach Paris. Sein Interesse galt vornehmlich dem Militärwesen, der Ingenieurskunst und dem Maschinenbau. Aber ein glücklicher Zufall wollte es, dass ausgerechnet der geistliche Beistand der ersten dieser Studienmissionen (1826-31), der Scheich Rifa’a Tahtawi, ein offenes Auge für die französische Zivilgesellschaft hatte. Er interessierte sich für die Politik, das Rechtssystem, die Wissenschaft, die Kunst und das Alltagsleben. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er einen Bericht über seine Pariser Zeit, der zum Vorbild für die meisten späteren Europaberichte arabischer Reisender werden sollte. Außerdem gründete er eine Übersetzerschule, die sich systematisch der Erschließung europäischsprachiger Literatur technischer und, in geringerem Umfang, auch literarischer Art widmete.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts fand europäisches Kapital seinen Weg nach Ägypten, was sowohl positive als auch negative Auswirkungen für das Land hatte. Auf der einen Seite beförderte der Bedarf der englischen Textilproduktion den Export von Baumwolle und damit eine Hebung des Lebensstandards, die neben dem Königshaus einer neuen städtischen Mittelschicht zugute kam. Auf der anderen Seite geriet das Land in eine Staatsverschuldung und schließlich in einen Staatsbankrott hinein, der in die britische Besatzung (1882) mündete. Die Verzahnung von Ägypten mit Europa, die in der Eröffnung des Suezkanals (1869) ihren sichtbarsten Ausdruck fand, setzte jedoch auch eine Dynamisierung der ägyptischen Kultur in Gang. Es wurden Zeitungen und Zeitschriften gegründet, die in der erwähnten Mittelschicht ein interessiertes Lesepublikum fanden und nationale Fragen verhandelten, die bis dahin noch nie gestellt worden waren. Wo lag Ägyptens Identität oder Seele begründet? War sie pharaonisch, arabisch, islamisch, mittelmeerisch, modern? Und was bedeutete das im Einzelnen? Stand Ägypten als Nation für sich, oder gehörte es den Arabern, die es mit dem Islam zum Teil einer weit nach Asien reichenden Kultur gemacht hatten? Und umgekehrt: War Ägypten ein genuiner Teil des Mittelmeers, möglicherweise schon unter den Pharaonen, die ähnlich den Griechen an der Wiege Europas standen? Die Auseinandersetzung über solche Fragen führte im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zur Herausbildung zahlreicher politischer Parteien und Strömungen und erwies sich als besonders fruchtbar für die Entstehung der modernen Literatur.
Der erste ägyptische Roman
In diesem Zeitraum von etwa fünfzig Jahren entstand die Nahda, ein Wort, das häufig mit „Renaissance“ übersetzt wird und eine Bewegung bezeichnet, die außer Ägypten auch die Levante und Nordafrika erfasste. Der Ausdruck trifft jedenfalls auf jenen Teil der Bewegung zu, der den „Rückhalt im Eigenen“ (Walter Braune) suchte und sich für seine Revitalisierung einsetzte, um Ägypten (den Libanon, Tunesien etc.) für das 20. Jahrhundert anschlussfähig zu machen. Dabei entstanden nach den ersten Übersetzungen aus europäischen Sprachen vor allem Editionen arabischer Klassiker und Adaptionen europäischer Literaturgattungen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielte die Dichtung, die über die Jahrhunderte hinweg die arabische Literaturgattung par excellence gewesen war, die erste Geige, aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekamen die Kurzgeschichte, das Drama und der Roman ihre Gelegenheit zum Auftritt. Der erste ägyptische Roman, Zainab von Muhammad Haikal (geboren 1889), eine romantische Schilderung des ägyptischen Landlebens, wurde 1914/15 veröffentlicht. Ein breiteres Lesepublikum fand er jedoch erst mit der Wiederauflage von 1925/6, und zwar zeitgleich mit der Erstveröffentlichung von Taha Husains (geboren 1889) Kindheitstage, einer kritischen Auseinandersetzung mit dem bäuerlichen Ägypten.
Identifikation mit der Heimatstadt
Mit der Veröffentlichung der Kindheitstage war der Weg frei für den Roman, und in den folgenden siebzig Jahren sollte der arabische Roman im Allgemeinen und der ägyptische Roman im Besonderen eine rasante Entwicklung durchlaufen, die ihn vom sozialen Realismus über die sozialkritische littérature engagée hin zu einer „neuen Sensibilität“ in der Gegenwart führte. Und nicht nur die Form, auch die Sujets des Romans veränderten sich. Aus dem Landroman wurde ein Stadtroman, der nicht mehr das, je nach Standpunkt, entweder ewige oder rückständige Ägypten beschrieb. Der Stadtroman, für den vor allem der Name Nagib Machfus (geboren 1911) mit seinen Kairo-Romanen und insbesondere der Kairoer Trilogie aus den Jahren 1956/7 steht, wandte sich vielmehr dem Zusammenprall von traditioneller und moderner Lebensweise und der unaufhaltsamen Dynamisierung auch des traditionellen Sektors zu.
Von Anfang an zehrte der ägyptische Roman, wie der arabische Roman insgesamt, sehr stark von den autobiographischen Erfahrungen seiner Autoren. Das nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, dass er in Ländern entstand, in denen die politische Zensur bis heute wirksam ist, und in einer Kultur, die persönliche Bekenntnisse als unehrenhaft betrachtet. Für beides bot die fiction einen willkommenen Ausweg. Zum einen ließ sich soziale und politische Kritik hinter einer „erfundenen“ Handlung verbergen, und zum andern konnte man private und intime Dinge auf dieselbe „erfundene“ Ebene transponieren. Während der erste Umstand bis in unsere Tage hinein Geltung beansprucht und dazu führte, dass die arabische Literatur mit einer gesellschaftlichen Verantwortung befrachtet ist, die man sich im Westen gar nicht mehr vorstellen kann, hatte die Lockerung der sozialen Kontrolle zumindest in den Städten zur Folge, dass sich die Autobiographie allmählich vom Roman zu lösen begann und zu einer Literaturgattung eigenen Rechts wurde. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend Autobiographien von Schriftstellern veröffentlicht, die den Schwerpunkt auf die Kindheit und Jugend ihrer Autoren legten und sich so von den unpersönlichen, auf Zeitzeugenschaft bedachten Memoiren der Politiker oder Kulturfunktionäre deutlich unterschieden.
Aufs Ganze gesehen, weist die arabische Autobiographie der vergangenen fünfzig Jahre einen Charakterzug auf, der im Vergleich mit der westlichen Autobiographie besonders ausgeprägt ist: die Identifikation des Autobiographen mit seiner Heimatstadt. Schon der Tunesier Albert Memmi (geboren 1920), der im Jahr 1953 auf Französisch Die Salzsäule veröffentlichte, widmet sich in diesem ersten Buch intensiv seiner Prägung durch das Judenviertel von Tunis. Diese literarische Autobiographie ist indessen auch ein Dokument der Transgression. Memmi beschreibt die Enge des Ghettos, die Armut des Elternhauses, die Schwüle der Festzeremonien und dann seinen Ausbruch aus diesem angestammten Milieu, der ihn zunächst an ein Gymnasium in Tunis, danach an die Universität von Algier und schließlich an die Sorbonne in Paris führte. Eine neue Heimat erwarb er sich nirgendwo, sondern er blieb ein Wanderer zwischen den Welten von Juden, Arabern und Franzosen. Ungeachtet oder sogar in Umkehrung des Titels, der auf Lots Weib in der Bibel und damit auf das Motiv beziehungsweise das Verbot des Zurückschauens anspielt, veröffentlichte Memmi jedoch nur zwei Jahre später den autobiographischen Roman Die Fremde. Darin misslingt die Reintegration des Helden in die Tradition seiner jüdischen Familie in Tunis vor allem aus dem Grund, dass er die Fremde in Gestalt seiner französisch-katholischen Ehefrau zum Teil seines Lebens gemacht hat. Aber es ist ein guter Grund für die Loslösung von der Tradition, im Leben anscheinend noch mehr als im Roman. Im Roman beschließen der Held und seine Frau Marie, sich scheiden zu lassen, während im Leben Memmi und seine Frau Marie übereinkamen, gemeinsam weiterzuleben, allerdings in Paris und nicht in Tunis.
War Memmis Salzsäule noch stärker vom europäischen Bildungsroman als von der arabischen Literaturtradition inspiriert, so kehrte sich das Verhältnis der jeweiligen Einflüsse in den folgenden Jahrzehnten um. Der langfristige Erfolg der arabischen Renaissance machte sich bemerkbar, denn die arabische Tradition floss nicht etwa unbemerkt in die neuen Literaturgattungen ein, sondern wurde bewusst aufgegriffen und umgesetzt. Diese Tradition bot für die Identifikation eines Autors mit seiner Stadt gleich mehrere Anknüpfungspunkte. „Stadtdichtung“ geht bis ins arabisch-islamische Mittelalter zurück; im Rahmen poetischer Gattungen wie Lob-, Schmäh- oder Trauerdichtung spielte die Stadt seit jeher eine wichtige Rolle.
Elegien auf Städte
Lobdichtung auf Städte wie Jerusalem, Damaskus, Kairo und andere Städte, vornehmlich Zentren islamischer Gelehrsamkeit, waren eher die Regel als die Ausnahme. Die Schmähung von Städten wiederum konnte einen quasi offiziellen Charakter aufweisen, wenn sie sich als Beitrag zur Rivalität zwischen kulturellen Zentren innerhalb des Reiches verstand, sie taucht aber auch in Fragmenten von Gelegenheits- oder Stegreifdichtung auf. Auch Elegien auf Städte wurden in den kriegerischen Jahrhunderten des Mittelalters gedichtet, wenn durch feindlichen Angriff eine Stadt beschädigt oder zerstört worden war, wie es unter anderem während der spanischen Reconquista mehrfach geschah.
Es ist jedoch nicht die Dichtung allein, sondern es sind auch die Historiographie, Geographie und Biographie, die uns ein Gefühl dafür vermitteln, wie stark sich die Menschen des arabisch-islamischen Mittelalters mit einer spezifischen Lokalität verbunden fühlten. Der Aufenthalt in einem kulturellen Zentrum und damit bei einem Mäzen, vor allem aber die Bindung an die Familie beziehungsweise den Clan und den Stamm schufen lokale oder regionale Zugehörigkeiten, die bis heute inner- und außerhalb der Literatur Bestand haben. Für diesen Konservatismus spielt sicher eine Rolle, dass die Nation im arabischen Raum ein junges Phänomen ist, dass die Ländergrenzen häufig auf willkürliche Setzungen der europäischen Kolonialmächte zurückgehen und dass die arabischen Regime des 20. Jahrhunderts nur selten zur Identifikation mit dem Staat einluden.
Alexandria: eine Stadt und ihr kulturelles Gedächtnis
Wenn die Dichtung und Prosa des Mittelalters dem Lokalpatriotismus auch das Muster vorgaben, so bedurfte es doch etlicher anderer Gründe, damit dieses Muster in der modernen Literatur wirksam werden konnte. Ein solcher Grund war, literaturimmanent gesprochen, die Intertextualität, aber bei näherer Betrachtung stammte das Motiv dafür direkt aus der Politik. Edward Kharrat (geboren 1926), der mit Safranerde im Jahr 1986 Kindheits- und Jugenderinnerungen aus Alexandria vorlegte, die er ausdrücklich als Gegenentwurf zu Lawrence Durrells Alexandria Quartett (1957-60) verstanden wissen will, ist so ein Fall. Durrells Alexandria, insbesondere im ersten Band Justine, spielt im kolonialen Ägypten, ist aus der Perspektive eines Engländers geschrieben und bezieht auch sein Personal weitgehend aus den Kreisen der Ausländer. Nessim, Justines Ehemann, ist als Ägypter eine Ausnahme, aber er ist eine Ausnahme auch unter den Ägyptern, denn er ist Kopte, Bankier und Großgrundbesitzer. Kharrat hingegen, dem die literarische ebenso wie die soziale und politische Binnenperspektive vertraut ist, nahm sich mit seiner Familie die Einheimischen zum Vorbild seiner Literatur und beabsichtigte, damit einen Beitrag zur Dekolonialisierung der Köpfe in Ost und West zu leisten.
Alexandria ist für die Frage nach der Autobiographie als Stadtbiographie ohnehin besonders interessant, weil es von vornherein so viele verschiedene kulturelle Gedächtnisse hervorbrachte. Kharrat ist nicht der einzige gebürtige Alexandriner, der die Stadt für sich reklamiert. André Aciman (geboren 1951) beschreibt in Damals in Alexandria von 1994 die Geschichte seiner jüdischen Familie, die gegen Ende der fünfziger Jahre vor dem Nasser’schen Nationalismus kapitulierte und das amerikanische Exil wählte. Ähnlich Harry Tzalas (geboren 1936), der in Abschied von Alexandria von 2000 Erinnerungen an die griechische Gemeinschaft verarbeitet, deren allmähliche Auflösung in der Mitte der fünfziger Jahre seine Familie ins brasilianische Exil führte. Die Heimatlosigkeit des Kosmopoliten, die alle diese Bücher durchzieht, ist dabei ein Bestandteil der Alexandriner Wurzeln. Sie schlägt eine Brücke zu Triest, das sich auf der anderen Seite des Mittelmeers zum Vergleich anbietet, weil es auf eine ähnlich kosmopolitische Vergangenheit zurückblicken kann, einen ähnlich gelagerten Niedergang erlebte und eine ähnlich reiche Erinnerungsliteratur stimulierte. Nur zum Star einer neuen Art Kriminalroman hat es Alexandria noch nicht gebracht. Das ist anders bei den Triest-Krimis von Veit Heinichen, der wie Donna Leon mit ihren Venedig-Krimis ein Zugezogener ist und aus dem Zusammenspiel von vergangener Pracht, abgeschiedener Lage und italienisch/osteuropäischer Mafia seine Fälle konstruiert. Mafiastrukturen weist Alexandria nicht auf, und Ägypten ist zu sehr mit seinen Problemen befasst, um Ausländer zum Zuzug anzuregen. Ein entsprechendes Milieu findet sich eher in den Erinnerungen von Mohamed Choukri (geboren 1935) an die marokkanische Stadt Tanger wieder (Das nackte Brot und Zeit der Fehler), die in den fünfziger und sechziger Jahren ein Eldorado für Glückssucher, Schmuggler und „Pop“-Literaten war und sich seit kurzem wieder im Aufwind befindet.
Noch einmal zurück zur Frage nach der engen Verbundenheit von Autobiographie und Stadtbiographie in der arabischen Literatur. Die Tradition spielt hierbei zweifellos eine Rolle, sie fällt aber auch auf einen fruchtbaren Boden. Arabische Städte sind vielfältig und weisen neben ihrer eigenen arabisch-islamischen Tradition häufig auch Spuren früherer (römischer, griechischer) Besiedlung ebenso wie der späteren (osmanischen) Herrschaft und kolonialen (britischen, französischen) Vergangenheit auf. Es ist ein rezentes Phänomen, dass diese historischen Schichten im Zeitalter der Globalisierung rigoros abgetragen werden, um Platz für eine städtische Neuordnung zu schaffen. Für Beirut, wo überdies der Bürgerkrieg die Altstadt niederwalzte, gibt es zahlreiche Beispiele literarischer Spurensicherung als unmittelbare Reaktion. Das gilt aber auch für andere arabische Städte. Der libanesische Soziologe Khalid Ziyadeh (geboren 1951) hatte, als er 1994 seine Kindheits- und Jugenderinnerungen Freitag, Sonntag veröffentlichte, genau eine solche Vermessung von Tripoli in den fünfziger und sechziger Jahren im Sinn. Befördert wird diese Verbindung des individuellen mit dem kollektiven Gedächtnis noch zusätzlich durch eine Scheu innerhalb der arabischen Kultur, das Individuum und schon gar den Individualismus zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Für einen modernen Schriftsteller, der nicht mehr seine Vaterfamilie im Zentrum seines Lebens sieht und sich ebenso wenig als Teil eines Clans oder einer Klientel betrachtet, bietet daher die Identifikation mit seiner Stadt auch einen Schutz vor der Gefahr, von seinem Lesepublikum als Egomane oder Eskapist abgestempelt zu werden. Dies alles, die literarische Tradition, das historische Interesse und die moderne Gruppenidentität zusammengenommen, macht die arabische Autobiographie, auch und gerade als Stadtbiographie im Sinn des Titels, zu einer zeitgenössischen Quelle ersten Ranges.
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Susanne Enderwitz ist Professorin für Arabistik im Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients. Zuvor unterrichtete sie Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und verbrachte mehrere Forschungsaufenthalte in Kairo, Paris und Jerusalem. Ihr wichtigster Forschungsschwerpunkt ist die klassische und moderne arabische Literatur.
Kontakt:
susanne.enderwitz@ori.uni-heidelberg.de,
Telefon: 0 62 21/54 34 85
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