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Die Grammatik des Lebens

Wie fügt die Natur einzelne Teile zum Großen Ganzen?
von Victor Sourjik

Eine Ansammlung von Wörtern wird erst dann zum Satz und schließlich zum Text, wenn der Autor die Regeln der Grammatik beachtet. Gilt das, was für die Sprache unerlässlich ist, auch für die Biologie? Gibt es allgemein gültige Regeln, nach denen die Natur aus einzelnen molekularen Komponenten lebende Zellen und schließlich multizelluläre Organismen kreiert? Ein einfach organisiertes Bakterium namens Escherichia coli dient Wissenschaftlern des Heidelberger Zentrums für Molekulare Biologie als Modellsystem, um die Grammatik des Lebens zu erlernen. Eine wichtige Regel haben die Forscher bereits erkannt: die des minimalen Aufwands – bei maximaler Wirkung.

Das Untersuchen biologischer Systeme – von scheinbar einfachen Bakterien bis hin zum komplexen menschlichen Gehirn – ähnelt dem Studium von Texten, die in einer unbekannten Sprache verfasst sind. Mit der Entdeckung des genetischen Codes gelang es, das Alphabet dieser Sprache zu entziffern, und man fand heraus, wie die in der Erbsubstanz DNS festgeschriebene genetische Information in die Proteine, die Funktionsträger in den Zellen, übersetzt wird. Die moderne molekulare Zellbiologie baut auf diesen Erkenntnissen auf und arbeitet an einer Art Lexikon, das einzelne Moleküle – vor allem Proteine – und ihre Eigenschaften katalogisiert.

Dank verbesserter molekular- und zellbiologischer Methoden hat der Umfang dieses molekularbiologischen Lexikons in den letzten Jahren enorm zugenommen und schließt mittlerweile auch viele Verbindungen einzelner Moleküle ein. Das Ganze ähnelt inzwischen einem Internetlexikon, in dem man nahezu endlos von einem Eintrag zum nächsten springen kann.

Ein Dolmetscher, der eine Fremdsprache übersetzt, braucht ein umfassendes Lexikon – das ist auch in der Biologie so. Mit dem Lexikon allein kann der Übersetzer die Sprache jedoch nicht verstehen – er muss auch die Grammatik kennen.  Kann man auch hier Parallelen zur Biologie ziehen? Gibt es "Grammatik-Regeln" in der biologischen Sprache? Anders gesagt: Gibt es generelle Regeln, nach welchen einzelne molekulare Komponenten zu einer Zelle und dann zu einem multizellulären Organismus zusammengefügt sind?

Physiker, die in den Anfängen der Molekularbiologie entscheidend mitgewirkt haben, haben gehofft, in der Biologie neue, universelle Naturgesetze zu entdecken. Ein Programm der US-Agentur DARPA (Defence Advanced Research Projects Agency; sie war übrigens auch an der Entwicklung des Internets entscheidend beteiligt) finanziert immer noch ein Projekt mit diesem Ziel. Der derzeitige Konsens unter Wissenschaftlern ist  jedoch, dass es neben den schon bekannten physikalischen Gesetzen, etwa dem Energiekonservierungsgesetz, wahrscheinlich keine neuen "biologischen" Gesetze geben wird. Das schließt allerdings nicht aus, dass es wie in einer Sprache Regeln gibt, die zumeist eingehalten werden – aber auch Ausnahmen erlauben. 

Um diese Regeln zu verstehen, müssen biologische Systeme in ihrer Ganzheit untersucht werden, von den einzelnen Komponenten bis hin zu kompletten Netzwerken. Dieser Ansatz, auch Systembiologie genannt,  ist nicht einfach und bei weitem nicht so fortgeschritten, wie die Studien zu einzelnen Genen und Proteinen. Das beruht zum Teil auf einem Mangel an Informationen über die einzelnen Komponenten und ihre Vernetzung. Die Systemanalyse wurde jedoch auch von einer reduktionistischen Einstellung gebremst, die von frühen genetischen und biochemischen Studien herrührt und sich in dem Satz "ein Gen (oder ein Protein) –  eine Funktion" ausdrückt.

In ersten genetischen Untersuchungen hatte man in der Tat festgestellt, dass durch das Inaktivieren (Mutation) eines Gens eine Zellfunktion komplett ausgeschaltet werden kann. Das trifft für einige menschliche Krankheiten zu; auch biochemisch kann man in vielen Fällen eine enzymatische Funktion eindeutig einem einzelnen Protein zuordnen. In den letzten Jahren ist es aber klar geworden, dass der Großteil der biologischen Funktionen in einer Zelle nicht von einzelnen Proteinen, sondern von großen Multiprotein-Komplexen und Netzwerken ausgeführt wird. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Suche nach einem Gen, das für ein komplexes Phänomen wie Intelligenz oder Sprache kodieren soll, irreführend. Und obwohl sich sicher viele Gene finden lassen, die Intelligenz oder Sprache beeinflussen, werden wir nie komplexe Funktionen oder Krankheiten verstehen können, wenn wir nicht versuchen, biologische Systeme als Ganzes zu beschreiben.

Die Lösung der Probleme, vor denen die Systembiologie steht, wird nicht nur Biologen, sondern auch Physiker und Mathematiker noch viele Jahrzehnte beschäftigen. Die meisten biologischen Netzwerke bestehen aus Dutzenden, manchmal aus Hunderten von Proteinen, und bei ihrer Analyse stößt die menschliche Vorstellungskraft schnell an ihre Grenzen. Hinzu kommen quantitative Werte, die bei komplexen Netzwerken eine große Rolle spielen: Selbst wenn jedes einzelne Protein in einem Netzwerk nur in einem aktiven oder inaktiven Zustand existierte, wächst die Zahl der möglichen Zustände im Netzwerk exponentiell mit der Anzahl der Komponenten, sodass der eigentliche Zustand in der Zelle von einer feinen Balance aller Proteinaktivitäten des Netzwerks bestimmt wird.

Aus diesem Grund muss die moderne Biologie immer öfter bei der mathematischen Beschreibung der Netzwerke und bei Computersimulationen Hilfe suchen, um die Vielfalt experimenteller Daten in ein System einzubringen und das Verhalten der Netzwerke in der Zelle vorherzusagen. Die mathematische Modellierung stellt ihrerseits hohe Ansprüche an  biologische Experimente und erfordert viele quantitative Daten, die derzeit nur für sehr wenige biologische Netzwerke vorhanden sind.

Die Signalübertragungswege (Signaltransduktion) bei der so genannten Chemotaxis des Darmbakteriums Escherichia coli  sind ein seltenes Beispiel für ein Modellnetzwerk, in dem alle Proteine und viele ihrer Wechselwirkungen quantitativ untersucht sind. "Chemotaxis" meint die Fähigkeit von Organismen, chemischen Gradienten in der Umgebung zu folgen, um Nahrungsquellen zu finden oder Schadstoffen auszuweichen. Die Chemotaxis der Bakterien funktioniert als Suchverhalten: Anfänglich wählt das Bakterium seine Schwimmrichtung zufällig und vergleicht anschließend kontinuierlich die Bedingungen entlang seines Weges. Verbessert sich die Umgebung – etwa wenn das Bakterium chemischen Reizen folgt, die von einer Nahrungsquelle ausgehen –, setzt es seinen Lauf entlang dieses Gradienten fort.

Die chemischen Reize werden von fünf unterschiedlichen Rezeptorproteinen auf der Oberfläche des Bakteriums detektiert, von einer Handvoll Proteine im Innern des Bakteriums bearbeitet und an die Geißelmotoren, den Bewegungsapparat des Bakteriums, weitergeleitet. Damit ist das Chemotaxis-System von Escherichia coli ein vergleichsweise übersichtliches Netzwerk, das aus diesem Grund schon lange als einfaches Verhaltensmodell dient. In den letzten Jahren wurden, auch durch unsere Arbeiten, die quantitativen Studien des Netzwerks auf die Signalprozessierung in lebendigen Zellen erweitert. Heute ist das System eines der beliebtesten Modelle für die mathematische Analyse.

Das quantitative Studium der Chemotaxis hat gezeigt, dass dieses einfache Netzwerk viele Eigenschaften besitzt, die normalerweise nur bei höheren Organismen erwartet werden: Das System kann die Signale verstärken und integrieren, es kann sich an die Reizstärke anpassen, und es funktioniert ähnlich gut bei unterschiedlichsten Bedingungen. Aufgrund der relativ geringen Komplexität des Chemotaxis-Netzwerkes können wir diese Eigenschaften und deren Wechselspiel genau analysieren. Wir hoffen, dabei die Grundregeln des evolutionären "Designs" kennen zu lernen. Das könnte künftig helfen, die wesentlich komplexeren Netzwerke in den Zellen höherer Organismen zu verstehen.

Was haben wir bislang von Escherichia coli gelernt? In aller Kürze lässt sich dies wie folgt zusammenfassen: Das Netzwerk scheint extrem optimiert zu sein – bis an die Grenzen, die nicht mehr von der Biologie, sondern von der Physik gesetzt werden, wobei alle Parameter des Systems perfekt aufeinander abgestimmt sind. Das Netzwerk verhält sich extrem robust gegen Störungen wie schwankende Proteinniveaus oder veränderte Temperaturen. Und schließlich verfügt das Netzwerk genau über die minimale Komplexität sowie über die minimalen Proteinmengen, die für sein Funktionieren gerade notwendig sind.

Betrachten wir als Beispiel die Empfindlichkeit des Systems: Für ein Bakterium ist es eindeutig von Vorteil, chemotaktisch so empfindlich wie möglich zu sein, um Nährstoffquellen früher als andere Bakterien zu identifizieren und gezielt anzusteuern. Diese Eigenschaft sollte deshalb einer starken evolutionären Selektion ausgesetzt sein.

Der einfachste Weg, die Empfindlichkeit zu verbessern, wäre, die Affinität der Rezeptormoleküle für Lockstoffe zu erhöhen. Dies hätte jedoch negative Konsequenzen: Irgendwann wäre die Bindung so stark, dass das Bakterium von einem Lockstoff-Stimulus für längere Zeit geblendet bliebe mit dem Ergebnis, dass es an einem Gradienten vorbeischwimmt. Hier würde die Evolution offensichtlich an eine Grenze stoßen. Deswegen entstand im Chemotaxis-System ein Amplifikationsmechanismus: Mehrere Rezeptoren bilden einen Komplex, der die Signale wie eine Antenne aufsammelt und verstärkt. Dies ermöglicht es dem Bakterium, schnell und sensitiv auf die chemischen Stimuli zu antworten.

Ein Rätsel bleibt: Obwohl die Empfindlichkeit eines solchen Komplexes linear mit der Zahl der beteiligten Rezeptoren wächst, ist die experimentell ermittelte Zahl der pro Komplex beteiligten Rezeptoren (15 bis 30) nur sehr gering verglichen mit den insgesamt nahezu 10 000 Rezeptormolekülen pro Bakterium. Warum wurde die Anzahl der Rezeptoren pro Komplex während der Evolution nicht erhöht?

Die Antwort kommt aus der Physik: Schon nach einer 30-fachen Verstärkung sind die Bakterien derart sensitiv, dass sie mit dem Rezeptorkomplex einzelne Treffer von Lockstoffmolekülen detektieren können. Noch sensitiver geht es einfach nicht: Bei geringeren Konzentrationen würde das Bakterium nur selten, wenn überhaupt, auf ein Lockstoffmolekül stoßen. Die einzige Lösung wäre, die Oberfläche des Bakteriums zu vergrößern. Das aber bedeutet einen großen Ressourcenaufwand – und damit einen evolutionären Nachteil.

Ein anderes Beispiel ist die Robustheit des Netzwerks: Die Menge an Chemotaxis-Proteinen pro Bakterium variiert erheblich, nicht nur abhängig von den Wachstumsbedingungen, sondern auch von einer Zelle zur anderen innerhalb einer Population. So gesehen sind also auch Bakterien Individuen. Durch eine Kombination der experimentellen Analyse mit der Computersimulation haben wir gezeigt, dass sich diese Variationen erstaunlich wenig auf das Verhalten der Bakterienzelle auswirken, was auf eine robuste Netzwerktopologie zurückgeführt werden kann.

Dies wird vor allem durch eine Balance der entgegenwirkenden Enzymaktivitäten im Netzwerk und durch negative Rückkopplungen erreicht: Sobald sich das Niveau und damit die Gesamtaktivität eines Proteins erhöht, schreitet das andere Protein ein und bringt seinen Partner wieder zurück auf das Ausgangsniveau. Interessanterweise hat unsere Analyse gezeigt, dass die Natur das Netzwerk eigentlich noch robuster machen könnte – allerdings müsste sie dazu einen größeren Aufwand betreiben. Das existierende Netzwerk scheint das einfachste und am wenigsten aufwendige zu sein.

Kann man aus diesen Erkenntnissen etwas lernen, das über die Chemotaxis hinausgeht? Die biologischen "Design-Regeln" folgen offensichtlich keinen tieferen Gesetzen, sondern gehen aus der Natur des Evolutionsprozesses hervor: Sie sind dem ständigen Wechselspiel der Mutation und Selektion unterworfen. Auf diese Weise wird es viel einfacher, die Funktionalität eines existierenden Proteins zu optimieren und anzupassen – ansonsten müsste eine komplett neue Funktion erschaffen werden.

Die Natur ist ein extrem sparsamer "Designer", der zuerst alle Möglichkeiten vorhandener Komponenten ausschöpft und erst dann etwas Neues erfindet. Die evolutionäre Optimierung läuft immer schrittweise unter Verwendung bestehender Mittel ab, sodass der limitierende Parameter verbessert wird, bis ein anderer Parameter limitierend wird ... und so fort, bis das ganze System am Ende an die physikalischen Grenzen stößt, was erklärt, warum alle Parameter in einem Netzwerk aneinander angepasst sind.

Gleichzeitig ist die Evolution ein ständiges Geben-und-Nehmen: Änderungen können eine Eigenschaft positiv und eine andere negativ beeinflussen, sodass am Ende ein "globales" Optimum verschiedener Eigenschaften unter bestimmten Bedingungen durch das Gleichgewicht aller Parameter erreicht wird.
Wie allgemein können diese Regeln des robusten, optimalen und minimalen Designs sein? Vorausgesetzt, die Evolution funktioniert immer ähnlich, würde man dieselben Prinzipien bei den meisten Netzwerken erwarten, insbesondere bei evolutionär "alten" Systemen, die über mehrere Milliarden Generationen optimiert wurden. Die Zukunft wird zeigen, wie genau diese Regeln in anderen Netzwerken implementiert sind, – es wird aber noch viel Arbeit nötig sein, um diese auf demselben Niveau wie die Chemotaxis des Darmbakteriums verstehen zu können.
Dr. Victor Sourjik  
Foto: privat
Dr. Victor Sourjik leitet seit 2003 eine unabhängige Forschungsgruppe im Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg. Zuvor forschte er an der Universität Harvard, USA, über die Signalübertragungswege bei Bakterien. Im Jahr 2006 zeichnete die EMBO ihn mit dem "Young Investigator Award" aus.
Kontakt: v.sourjik@zmbh.uni-heidelberg.de
Seitenbearbeiter: Email
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