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Deutsch-Französische Literaturbeziehungen

Die anhaltende Fahndung nach europäischer Identität fordert auch die Literaturwissenschaft heraus
von Roman Luckscheiter

Der Minnesang klänge anders ohne okzitanische Vorbilder, Lessings Theater fehlten zentrale Komponenten ohne Diderots bürgerliches Trauerspiel, Heine wäre nicht Heine ohne Paris, und die deutschen Literaturdebatten der letzten Jahre wären langweiliger gewesen ohne die Provokationen eines Michel Houellebecq. Eine Moderne ohne Rousseau, Baudelaire oder Zola wäre auch für einen Germanisten nicht vorstellbar. Die deutschen Bezugnahmen auf die französische Kultur sind insbesondere in der Literatur unermesslich, die Brückenschläge über den Rhein seit je ein gewichtiges, wenn auch konjunkturell schwankendes Kontinuum der deutschen wie der französischen Geistesgeschichte. Bisweilen hat sich zwischen beiden ein regelrechtes Pingpong-Spiel entwickelt wie etwa im Falle der Theorie des l’art pour l’art. Deren Fundament nämlich legte die deutsche Autonomieästhetik; Kants Philosophie der "interesselosen Kunst" wurde von französischen Romantikern aufgegriffen, zugespitzt zu der stark befehdeten Formel von der "Kunst der Kunst wegen", bis sie von den deutschen Ästhetizisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder als Kampfbegriff in die deutsche Szene reimportiert wurde. Der junge Ludwig Ganghofer stand zu dieser Zeit noch ganz unter dem Schock eines Dekadenztextes von Alfred de Musset und wandte sich folgenschwer in die bayrischen Alpen ab – selbst Heimatliteratur verdankt sich Impulsen aus Paris.

Der Begriff der Nationalliteratur gerät vor diesem Hintergrund zu einem definitorischen Problem. Der Fremdbezug durchzieht selbst die elementaren Strukturen des eigenen Kanons. Gleichwohl zeigt sich, dass ein in der französischen Literatur aufgegriffenes Motiv signifikante Veränderungen erfährt, sobald es in die deutsche transferiert wird. Bei der Integration der Entlehnung spielt der nationale Kontext durchaus eine entscheidende Rolle: Das beginnt bei der Rezeption epischer Stoffe im Mittelalter, die vor deutschem Publikum in einem anderen Stil vorgetragen wurden als in ihrer westlichen Heimat. Die Komödie der Aufklärung bediente sich französischer Figuren nicht im Sinne dramaturgischer Gastarbeiter, sondern typischer Repräsentanten eines gallischen Habitus, den es kritisch vorzuführen galt. Und wenn Stefan George durch die persönliche Begegnung mit Mallarmé zu einem neuen poetischen Ton inspiriert wurde, so gestaltete der sich bei ihm doch anders als bei seinem Pariser Vorbild. Die Internationalität einer Literatur bringt insofern gerade ihre nationalen oder zumindest nationalsprachlichen Eigenarten hervor. Der Forschung steht für die Analyse dieser vielfältigen Phänomene ein traditionsreiches Instrumentarium zur Verfügung. Unter dem Oberbegriff der Komparatistik lassen sich grob drei Richtungen unterscheiden: So fragt die empirische Transferforschung nach den Mittlerfiguren und -instanzen, die Imagologie nach den literarisch vermittelten Stereotypen des Nachbarlandes und die Rezeptionsforschung geht der Aneignung eines Werks in Text und Kritik nach.

Die anhaltende Fahndung nach einer europäischen Identität fordert die Literaturwissenschaft geradezu heraus, die deutsch-französischen Literaturbeziehungen (oder vergleichbare Wechselverhältnisse) als kerneuropäisches Paradigma zu profilieren. Hier kann sie anschaulich machen, wie kulturelle Einheit als enge Vernetzung von Unterschieden funktioniert. Sinnvoll ist es daher, auf der Basis der genannten Forschungstraditionen verstärkt den prozessualen Charakter des geistigen Austauschs zu untersuchen. Dabei gilt es, Literatur nicht nur als Speichermedium der Fremdwahrnehmung zu betrachten, sondern das binationale Verhältnis, in dem sie sich verortet, als Kommunikation zu beschreiben. Dann wird beispielsweise deutlich, dass sich kulturelle Kohärenz über Dialoge zwischen Ungleichzeitigem etabliert: Die Autorität des Anderen resultiert nicht aus der Konkurrenz der Zeitgenossenschaft, sondern aus den immer wieder neu zu reaktivierenden Beständen seines historisch angewachsenen intellektuellen und ästhetischen Fundus. In diesem Zusammenhang lehrt die literarische Erfahrung zudem, dass Missverständnisse, die beim Zugriff auf diesen fremden Fundus entstehen, überaus produktiv sein können. Auf der anderen Seite geschah die deutsch-französische Kontaktaufnahme häufig über das Mittel der Parodie, die für die Auseinandersetzung mit dem Nachbarn durchaus auch ihre belebenden Verdienste hat. Augenfällig wird schließlich, dass der geistige Grenzübertritt kein Zeichen von Selbstlosigkeit darstellt; vielmehr geschieht er aus betont eigenen Interessen, sei es als Strategie der Abgrenzung, sei es zum Prestigegewinn. Bei diesen Interessen handelt es sich um ästhetische, religiöse oder politische – aber selbst zu Zeiten der so genannten Erbfeindschaft dominierten, jenseits der Kolportageliteratur, die ästhetischen.

Die paradoxe Situation, dass in Zeiten, in denen eine europäische Verständigung nicht ohne weiteres zu realisieren war, der Blick zum Nachbarn mit größerer Verve gepflegt wurde als heutzutage, wo nationale Grenzen an Relevanz verloren haben, sollte angesichts des europapolitischen "Wissens" der Literatur aufgebrochen werden. In der Heidelberger Germanistik  wurde daher zusammen mit der Université Parix X – Nanterre eine erste Nachwuchstagung zu den deutsch-französischen Literaturbeziehungen veranstaltet, großzügig finanziert von der Deutsch-Französischen Hochschule Saarbrücken. Auf lange Sicht soll sich daraus ein europäischer Forschungsverbund etablieren.
Dr. Roman Luckscheiter  
Foto: privat
Dr. Roman Luckscheiter ist Wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Der von ihm und Dr. Marcel Krings herausgegebene Sammelband zur im Text genannten Nachwuchstagung erscheint demnächst im Verlag Königshausen und Neumann.
Kontakt: roman.luckscheiter@gs.uni-heidelberg.de
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