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Auszeit für das Gedächtnis

Was neurologische Störungen über die Arbeitsweise des Gehirns verraten

von Kristina Szabo und Hansjörg Bäzner


"Transiente globale Amnesie" nennen Neurologen eine Gedächtnisstörung, die Betroffene und Wissenschaftler gleichermaßen beeindruckt: Die Fähigkeit, sich zu erinnern, geht plötzlich verloren, erst nach Stunden schließt sich die Gedächtnislücke wieder. Früher wurde die gedächtnislose Episode oft der "Einbildung" zugeschrieben, moderne bildgebende Verfahren haben erstmals eine organische Ursache für die spektakuläre Auszeit des Gedächtnisses gezeigt.

Die Vorbereitungen für die Feier anlässlich des 75. Geburtstages ihres Mannes hatten Hanna Walter in den letzten Tagen und Wochen sehr beschäftigt. Zuletzt aber war sie nicht mehr sicher, das Ereignis bewältigen zu können. Einen Tag vor den Geburtstagsfeierlichkeiten traf Herbert Walter seine Frau in der Waschküche an: "Wie komme ich denn hierher?", fragte sie immer wieder. "Und wer hat die Waschmaschine eingeschaltet?". Herbert Walter versuchte, seine Frau zu beruhigen, dennoch wiederholte sie unablässig die gleichen Fragen: "Was soll das? Was mache ich hier?".

Im Krankenhaus veranlassten die Ärzte eine Computertomographie des Gehirns. Die Untersuchung zeigte keine Auffälligkeiten. Während der nächsten Stunden schlossen sich die Lücken im Gedächtnis von Hanna Walter allmählich wieder, nur die Erinnerung für einen Zeitraum von rund drei Stunden kehrte nicht mehr vollständig zurück. Was Hanna Walter erlitten hat, nennen Neurologen eine "transiente globale Amnesie" (kurz: TGA) oder eine "amnestische Episode" – ein Krankheitsbild, das nicht nur die Betroffenen, sondern auch Angehörige und Ärzte tief beeindruckt.

Leitsympton der amnestischen Episode ist eine plötzlich einsetzende Störung des Kurzzeitgedächtnisses. Typisch ist, dass die Patienten während der Episode Zeit und Situation nicht mehr einzuschätzen vermögen, die Orientierung zur Person – "Wer bin ich?", "Wie heiße ich?" – aber ebenso erhalten bleibt wie die Fähigkeit zu komplexen Handlungsabläufen. Die Patienten fallen häufig dadurch auf, dass sie immer wieder die gleichen Fragen stellen, sich an die Antworten aber nicht erinnern können. Auch das Langzeitgedächtnis kann von der Störung betroffen sein, insbesondere Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit werden vergessen. Die Störung bildet sich in der Regel zurück, genau für den Zeitraum aber, in welchem die Symptome voll ausgeprägt waren, manchmal auch für einen kurzen Abschnitt davor, bleibt eine dauerhafte Gedächtnislücke bestehen. So kann ein Betroffener beispielsweise sein Auto sicher durch den Verkehr steuern und einparken, er weiß dann aber nicht mehr, wo er den Wagen stehen gelassen hat. Weitere neurologische Ausfälle, beispielsweise Lähmungen oder Sprachstörungen, treten bei der transienten globalen Amnesie nicht auf.

Das Phänomen ist der Wissenschaft schon seit den 1950er Jahren bekannt. Im Jahr 1956 beschrieb der amerikanische Neurologe M. Bender ein "syndrome of isolated episode of confusion with amnesia", ein Syndrom, das mit vorübergehender Verwirrtheit und Amnesie einhergeht. Im gleichen Jahr veröffentlichten die französischen Neurologen J. Guyotat und J. Courjon ein Krankheitsbild unter dem Namen "l’ictus amnesique", amnestischer Anfall. Der Begriff "transiente globale Amnesie" wurde 1964 von C. Miller Fisher und Raymond Adams vom Massachusetts General Hospital eingeführt. Die beiden renommierten Neurologen zeichneten detailliert 18 abrupt beginnende, typisch verlaufende Amnesien auf. Seither untersuchen Neurologen das Krankheitsbild – bis vor kurzem aber ohne wesentlich weiterführende Erkenntnisse.

Vom Gedächtnis weiß man generell, dass es sich im Gehirn nicht an einem einzigen Ort oder genau umschriebenen Regionen befindet, sondern eine Leistung ist, die von vielen unterschiedlichen Arealen des Gehirns gemeinsam erbracht wird. Dennoch haben die Wissenschaftler verschiedene anatomische Strukturen identifizieren können, deren Zusammenspiel für das Erinnerungsvermögen unerlässlich ist. Mit gewissen Einschränkungen können diese Hirnregionen unterschiedlichen Gedächtnisformen zugeordnet werden: Je nachdem, wie lange eine Information gespeichert wird, unterscheidet man das Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis vom Langzeitgedächtnis.

Eine entscheidende Rolle für das Speichern von Informationen wird dem Hippokampus zugeschrieben, eine Hirnstruktur, die jeweils im inneren und vorderen Anteil des Schläfenlappens liegt. Aus allen Hirnregionen führen Verbindungen zum Hippokampus hin; zahlreiche Verbindungen führen von ihm weg und ziehen in unterschiedliche Areale der Großhirnrinde. Darüber hinaus ist der Hippokampus mit dem "limbischen System" verknüpft, eine Hirnregion, die für Emotionen und Lernen wichtig ist. Die Verbindungen, die der Hippokampus mit anderen Hirnregionen eingeht, kann man heute mit speziellen magnetresonanztomographischen Verfahren, so genannten Faserverfolgungstechniken sichtbar machen.

Hippokampus und Seepferdchen  
Die kernspintomographische Aufnahme (links) zeigt den rechten Hippokampus eines gesunden Menschen. Der paarige Hippokampus befindet sich im Schläfenlappen. Seine Form weist Ähnlichkeit mit einem Seepferdchen (lat. hippocampus) auf, daher der Name.
Faserverfolgungstechniken sind eine Weiterentwicklung der so genannten Diffusions-Tensor-Bildgebung. Sie erlaubt es, die Mobilität von Wassermolekülen (= Diffusion) im Hirngewebe in allen drei Raumrichtungen zu charakterisieren. Die Bewegung der Wassermoleküle ist – abhängig von den Geweben – unterschiedlich stark ausgeprägt: Längs der Nervenfaserbündel erfolgt die Diffusion schneller als senkrecht zum Faserverlauf, weil die Hüllen der Nervenfaserbündel die Diffusion behindern.

Mit diesen Vorgaben lässt sich berechnen, wie Faserzüge im Gehirn verlaufen. Zur grafischen Darstellung verwendet man beispielsweise eine Farbkodierung. Auf diese Weise werden große Fasersysteme des Gehirns farbig sichtbar. Gemeinsam mit Kollegen des Instituts für "Functional Magnetic Resonance Imaging of the Brain" der Universität Oxford ist es uns mit dieser Technik gelungen, die komplexen Verbindungen des Hippokampus zu anderen Regionen des menschlichen Gehirns darzustellen. Die Ergebnisse sind in der Abbildung auf Seite 19 zusammengefasst.

Diffusions-Tensor-Bildgebung  
Diffusions-Tensor-Bildgebung: Das linke Bild zeigt die richtungsabhängige Farbdarstellung der Faserzüge im Gehirn eines Probanden (von der linken zur rechten Hirnhälfte ziehend in rot; von oben nach unten ziehend in blau; von vorne nach hinten verlaufend in grün). Rechtes Bild: für den vergrößerten Ausschnitt wurde die Haupt-Vektorrichtung jeder Bildeinheit auf eine Schwarzweißdarstellung überlagert.
Trotz enormer technischer Fortschritte bei der Abbildung des lebenden Gehirns im letzten Jahrzehnt – in den Hirnen von Patienten, die eine amnestische Episode erlitten hatten, ließen sich keinerlei Auffälligkeiten finden, auch nicht im Hippokampus. Dabei sollte gerade diese Hirnregion nach allem, was die Gedächtnisforschung über die Funktion dieser Struktur in Erfahrung gebracht hat, zumindest vorübergehend betroffen sein.

So enttäuschte bei TGA-Patienten zunächst auch die Diffusionsbildgebung: Unsere Arbeitsgruppe veröffentlichte im Jahr 1999 eine erste Studie, die in den Gehirnen von Patienten im Akutstadium der transienten globalen Anämie keine Auffälligkeiten der Wasserdiffusion fand. Anders als bei Schlaganfallpatienten, wo das Verfahren zur frühen Darstellung von Schlaganfällen eingesetzt wird, fand sich bei TGA-Patienten keine Signalveränderung innerhalb der ersten 24 Stunden – wohl aber zu einem späteren Zeitpunkt. In einer nachfolgenden Studie mit 31 TGA-Patienten entdeckten wir bei 26 Patienten punktförmige Signalaufhellungen im Hippokampus, die 24 bis 48 Stunden nach Einsetzen der ersten Symptome sichtbar wurden. Ein Beispiel zeigt die Abbildung auf Seite 19. Andere Arbeitsgruppen haben dieses Ergebnis zwischenzeitlich bestätigt. Welche Bedeutung diese "Spuren" im Hippokampus von TGA- Patienten haben, ist bislang noch nicht geklärt. Möglicherweise sind die auffälligen hellen Punkte der Ausdruck einer verzögert einsetzenden zellulären Schädigung, die als Ursache oder als Folge der transienten globalen Amnesie entsteht. In jedem Fall sind sie ein Beweis dafür, dass der Hippokampus an der Entstehung dieser Erkrankung beteiligt ist.

Verbin dungen des Hippokampus zu anderen Hirnarealen.  
Mithilfe der Diffusions-Tensor-Bildgebung ist es den Wissenschaftlern der Neurologischen Universitätsklinik Mannheim gelungen, Verbindungen des Hippokampus (links oben, im Ausschnitt gelb) zu anderen Hirnarealen darzustellen. Die unterschiedlichen Helligkeitsstufen der blau gekennzeichneten Bereiche geben an, wie wahrscheinlich die Faserverbindung zum Hippokampus ist (je heller, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Verbindung). Diese Ergebnisse stimmen mit tierexperimentellen Untersuchungen überein, bei denen Verbindungen des Hippokampus zum Frontalhirn, zum Schläfenlappen und zu den hinteren Abschnitten des Gehirns gefunden wurden.
Trotz dieser topographisch nunmehr sicheren Zuordnung bleibt der Krankheitsmechanismus der transienten globalen Amnesie unklar. Die Begleitumstände des Syndroms weisen jedoch auf seine Entstehung hin: Die TGA betrifft überwiegend Menschen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr. Der Altersgipfel liegt in der sechsten Dekade, nur wenige Fälle treten vor dem 40. Lebensjahr auf. Für die meisten Patienten bleibt die TGA ein einmaliges Ereignis. Besonders aufschlussreich sind frühe anekdotische Berichte, die Situationen beschreiben, die einer TGA typischerweise vorausgehen. Dabei handelt es sich in der Regel um psychische und/oder physische Stressoren. Die Neurologen Miller Fisher und Raymond Adams beschrieben beispielsweise das Schwimmen in kaltem Wasser als Auslösefaktor ("amnesia by the seaside"). Weitere Auslöser können Wut, Freude, Trauer oder körperliche Anstrengung sein. Eine aktuelle Studie, an der 98 TGA-Patienten unserer Klinik teilnahmen, ermittelte bei 40 Patienten einen psychischen Auslösefaktor (beispielsweise Tod eines Angehörigen), bei 24 Patienten eine große körperliche Anstrengung (etwa Holzhacken), bei vier Patienten traten psychische und physische Auslösefaktoren gemeinsam auf. Bei 68 der 98 Patienten konnten wir mithilfe der diffusionsgewichteten Magnetresonanztomographie Signalauffälligkeiten im Hippokampus zeigen. Bemerkenswerterweise traten psychische Auslösefaktoren und beid-seitige Signalveränderungen überzufällig gemeinsam auf. Eine mögliche Erklärung für diese Befunde ist, dass seelischer und körperlicher Stress eine Kaskade in Gang setzt, die über das Freisetzen von Botenstoffen zu einer Hemmung der Energieversorgung des Hippokampus führt, der darauf besonders empfindlich reagiert. Von der Unterversorgung werden auch weitere, mit dem Hippokampus verbundene Hirnregionen beeinträchtigt. Dies könnte das klinische Bild der transienten globalen Amnesie erklären.
Punktförmige helle Veränderung im Hippokampus  
Diffusionsgewichtete Aufnahme eines Patienten mit "transienter globaler Amnesie": 24 Stunden, nachdem die Symptome einsetzten, zeigt sich im Hippokampus eine punktförmige helle Veränderung.
Das Beispiel der transienten globalen Amnesie zeigt, dass die neuen bildgebenden Verfahren vielfältige Informationen liefern, nicht nur über die Struktur des Gehirns, sondern auch über dessen physiologische und seine krankhafte Funktion. Es ist zu erwarten, dass wir mit der funktionellen Magnetresonanz-Technik, einem bildgebenden Verfahren, das aktivierte Strukturen des Gehirns mit hoher räumlicher Auflösung darstellen kann, in den kommenden Jahren noch mehr über die gestörte Hirnleistung bei der transienten globalen Amnesie erfahren. Dies wird für die Interpretation der bisher erarbeiteten Ergebnisse hilfreich sein. Das Beispiel der vorübergehenden Gedächtnisstörung zeigt aber auch, wie akuter Stress Krankheiten verursachen kann.

 
Priv.-Doz. Dr. Hansjörg Bäzner ist leitender Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik in Mannheim. Seine Forschungsarbeiten befassen sich mit Demenzerkrankungen sowie der Diagnose und Behandlung von Bewegungsstörungen und neuromuskulären Erkrankungen.
Kontakt: baezner@neuro.ma.uni-heidelberg.de
Telefon: 0621 / 3 83 39 5

 
Priv.-Doz. Dr. Kristina Szabo ist Oberärztin der Neurologischen Universitätsklinik in Mannheim. Neben ihrer klinischen Tätigkeit arbeitet sie wissenschaftlich auf dem Gebiet der zerebralen kernspintomographischen Bildgebung.
Kontakt: szabo@neuro.ma.uni-heidelberg.de
Telefon: 0621 / 3 83 32 02
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