Die Herren der Ringe
Was gesiegelte Tonplomben über das Herrschaftssystem des minoischen Kreta verraten
von Diamantis Panagiotopoulos und Yuval GorenDas politische System des minoischen Kreta in der Neupalastzeit ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer Debatte gewesen, die um die Frage der politischen Vormachtstellung von Knossos kreiste. Im Mittelpunkt stand eine Gruppe gesiegelter Tonplomben, deren sichere Herkunftsbestimmung Entscheidendes dazu bei-tragen könnte, dieses Problem zu lösen. Die naturwissenschaftliche Untersuchung dieser „delikaten“ Objekte war bislang jedoch nicht möglich. Mit einer neuen, während eines gemeinsamen Projektes der Universitäten von Heidelberg und Tel Aviv angewandten Methode konnte jetzt ein Durchbruch erreicht werden.
Das Problem: Auch nach über 100 Jahren intensiver archäologischer Forschung bleibt das minoische Kreta eine Kultur voller Rätsel. Die Baukunst, Bilderwelt und das Kunsthandwerk dieser bronzezeitlichen Gesellschaft fällt in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen dessen, was wir aus zeitgleichen orientalischen Kulturen kennen. Jeder Versuch, die Andersartigkeit der Minoer befriedigend zu erklären, scheitert an unseren äußerst bruchstückhaften Kenntnissen ihrer sozialen und politischen Strukturen.
Zwei Löwen im Galopp – dieses Symbol von Macht und Würde zierte den Ring eines minoischen hohen Beamten.
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Zu den größten noch offenen Problemen der Forschung zählt die Frage
nach der politischen Organisation der Insel in der sogenannten
Neupalastzeit, der Zeit der größten Entfaltung der minoischen Kultur
zwischen circa 1750 und 1500 v. Chr. Der Pionier der minoischen
Archäologie und Ausgräber des Palastes von Knossos Sir Arthur Evans hat
auf der Grundlage seiner sensationellen Entdeckungen am Beginn des 20.
Jh. die bronzezeitliche Gesellschaft der Insel als ein monarchisches
System gedeutet, an dessen Spitze ein in Knossos residierender
Priester-König stand. Diese Vorstellung von einem stark
zentralistischen politischen System, das der Struktur der
orientalischen Königtümer nachempfunden war, stellte bis vor kurzem das
dominierende – oder gar einzige – Deutungsparadigma für die
Rekonstruktion des minoischen Herrschaftstypus dar.
Erst vor wenigen Jahren wurde diese etablierte Forschungsmeinung zum ersten Mal – dafür aber heftig – in Zweifel gezogen. Anlass zum Überdenken der traditionellen Meinung boten zunächst die Ergebnisse der systematischen archäologischen Untersuchungen auf der Insel, die in den vergangenen Jahrzehnten die Anzahl der minoischen Paläste deutlich steigen ließen. Neben den schon längst bekannten vier Palastgebäuden in Knossos, Phaistos, Malia und Kato Zakros sind mindestens sechs weitere Paläste entweder vermutet (Chania, Palaikastro), freigelegt (Galatas, Petras, Archanes) oder nachträglich als solche identifiziert worden (Gournia). Diese befremdlich hohe Anzahl von potenziellen Herrscherresidenzen auf einem verhältnismäßig kleinen Territorium gab den Anstoß zum Überdenken der alten These eines monarchischen Herrschaftssystems.
Gestützt nicht nur auf die Vielzahl an repräsentativen Gebäuden, sondern auch auf dem rätselhaften Fehlen von Herrscherbildnissen in der minoischen Ikonographie hat eine Gruppe von Archäologen das traditionelle Deutungsmodell eines minoischen Königtums verworfen. Anstelle der Herrschaft des Einen schlugen sie ein aristokratisch strukturiertes politisches System vor, in dessen Rahmen politische, soziale und wirtschaftliche Macht auf mehrere miteinander konkurrierende „Körperschaften“ verteilt war. Nach diesem neuen Interpretationsmodell wären die Paläste weder Herrscherresidenzen noch politische beziehungsweise administrative Instanzen, sondern riesige „Zeremonialzentren“, die als Arenen sozialer Interaktion dienten. Ihre Zentralhöfe seien keine exklusive Lebenssphäre für die königliche Elite, sondern Schauplatz von Festen und Zeremonien gewesen, die von gegenseitig wetteifernden sozialen bzw. politischen Gruppen veranstaltet wurden.
Gibt es eine Möglichkeit, dieses Problem, das die minoische Archäologie in den letzten Jahren in zwei Lager gespalten hat, wissenschaftlich anzugehen und durch schlagkräftige Argumente zu seiner Lösung beizutragen? Diese Frage wird im gegebenen historischen Kontext besonders virulent, weil Kreta eine Kultur ohne entzifferte schriftliche Quellen ist, in der jede Rekonstruktion von politischen und sozialen Strukturen auf der Deutung von Bauwerken, Bildern und Gebrauchsgegenständen beruht. Trotz dieser recht problematischen Überlieferungslage gibt es eine Objektgruppe, deren kulturhistorische Auswertung verspricht, uns einen wesentlichen Schritt weiter auf dem Weg zur Lösung dieses Problems zu bringen.
Der Untersuchungsgegenstand: Bei dieser Objektgruppe handelt es sich um etwa 50 Tonplomben mit Siegelabdrücken, deren Funktion darin bestand, kleine Pergament- oder Lederrollen zu versiegeln und sie dadurch vor unrechtmäßigem Zugriff zu schützen. Ob diese kleinen gefalteten Stücke, die nur wenige Zentimeter lang sind, als Schriftträger dienten oder winzige Päckchen waren, die eine sehr kostbare Substanz in pulverisiertem Zustand enthielten, lässt sich nicht sagen, da sie uns nicht mehr erhalten sind. Das Einzige, was wir haben, sind ihre Negativabdrücke auf der Rückseite der Tonplomben, die uns allerdings eine sehr konkrete Vorstellung von deren Größe, Form und Material erlauben.
Diese Tonplomben kamen in sechs verschiedenen kretischen Siedlungszentren und sogar in Akrotiri auf Thera (Santorin) zutage, das bei einem verheerenden Vulkanausbruch gegen Ende des 17. Jh. v. Chr. verschüttet worden war. Die Tonplomben waren mit zehn verschiedenen Goldringen versiegelt, auf denen verschiedene stilistisch anspruchsvolle Szenen mit hohem symbolischem Wert eingraviert waren: sechs verschiedene Stiersprungszenen, zwei Kampfszenen, eine Streitwagendarstellung und eine Darstellung zweier laufender Löwen. Keines der Originale ist uns erhalten geblieben.
Das ganz besondere Merkmal dieser Gruppe besteht darin, dass Tonplomben aus verschiedenen Fundorten von ein und demselben Goldring gesiegelt worden waren. Das eindrucksvollste Beispiel der Serie ist ein Goldring, von dem sieben Abdrücke auf Tonplomben aus vier verschiedenen Orten stammen (Ajia Triada, Sklavokambos, Gournia und Kato Zakros). Dieses Phänomen der überregionalen Verbreitung ist im Kontext antiker Administrationssysteme sonst kaum belegt. Tonplomben mit identischen Siegelabdrücken kommen nur innerhalb ein und desselben Fundortes vor, denn gesiegelte Dokumente oder Waren erfüllten ihre Funktion nur innerhalb eines geschlossenen administrativen Systems. Die unvermeidliche Konsequenz aus dieser allgemeinen Regel wäre, dass all diese kretischen Orte, in denen Tonplomben mit identischen Siegelabdrücken entdeckt wurden, in einem administrativen „Netz“ miteinander verwoben waren.
Erst vor wenigen Jahren wurde diese etablierte Forschungsmeinung zum ersten Mal – dafür aber heftig – in Zweifel gezogen. Anlass zum Überdenken der traditionellen Meinung boten zunächst die Ergebnisse der systematischen archäologischen Untersuchungen auf der Insel, die in den vergangenen Jahrzehnten die Anzahl der minoischen Paläste deutlich steigen ließen. Neben den schon längst bekannten vier Palastgebäuden in Knossos, Phaistos, Malia und Kato Zakros sind mindestens sechs weitere Paläste entweder vermutet (Chania, Palaikastro), freigelegt (Galatas, Petras, Archanes) oder nachträglich als solche identifiziert worden (Gournia). Diese befremdlich hohe Anzahl von potenziellen Herrscherresidenzen auf einem verhältnismäßig kleinen Territorium gab den Anstoß zum Überdenken der alten These eines monarchischen Herrschaftssystems.
Gestützt nicht nur auf die Vielzahl an repräsentativen Gebäuden, sondern auch auf dem rätselhaften Fehlen von Herrscherbildnissen in der minoischen Ikonographie hat eine Gruppe von Archäologen das traditionelle Deutungsmodell eines minoischen Königtums verworfen. Anstelle der Herrschaft des Einen schlugen sie ein aristokratisch strukturiertes politisches System vor, in dessen Rahmen politische, soziale und wirtschaftliche Macht auf mehrere miteinander konkurrierende „Körperschaften“ verteilt war. Nach diesem neuen Interpretationsmodell wären die Paläste weder Herrscherresidenzen noch politische beziehungsweise administrative Instanzen, sondern riesige „Zeremonialzentren“, die als Arenen sozialer Interaktion dienten. Ihre Zentralhöfe seien keine exklusive Lebenssphäre für die königliche Elite, sondern Schauplatz von Festen und Zeremonien gewesen, die von gegenseitig wetteifernden sozialen bzw. politischen Gruppen veranstaltet wurden.
Gibt es eine Möglichkeit, dieses Problem, das die minoische Archäologie in den letzten Jahren in zwei Lager gespalten hat, wissenschaftlich anzugehen und durch schlagkräftige Argumente zu seiner Lösung beizutragen? Diese Frage wird im gegebenen historischen Kontext besonders virulent, weil Kreta eine Kultur ohne entzifferte schriftliche Quellen ist, in der jede Rekonstruktion von politischen und sozialen Strukturen auf der Deutung von Bauwerken, Bildern und Gebrauchsgegenständen beruht. Trotz dieser recht problematischen Überlieferungslage gibt es eine Objektgruppe, deren kulturhistorische Auswertung verspricht, uns einen wesentlichen Schritt weiter auf dem Weg zur Lösung dieses Problems zu bringen.
Der Untersuchungsgegenstand: Bei dieser Objektgruppe handelt es sich um etwa 50 Tonplomben mit Siegelabdrücken, deren Funktion darin bestand, kleine Pergament- oder Lederrollen zu versiegeln und sie dadurch vor unrechtmäßigem Zugriff zu schützen. Ob diese kleinen gefalteten Stücke, die nur wenige Zentimeter lang sind, als Schriftträger dienten oder winzige Päckchen waren, die eine sehr kostbare Substanz in pulverisiertem Zustand enthielten, lässt sich nicht sagen, da sie uns nicht mehr erhalten sind. Das Einzige, was wir haben, sind ihre Negativabdrücke auf der Rückseite der Tonplomben, die uns allerdings eine sehr konkrete Vorstellung von deren Größe, Form und Material erlauben.
Diese Tonplomben kamen in sechs verschiedenen kretischen Siedlungszentren und sogar in Akrotiri auf Thera (Santorin) zutage, das bei einem verheerenden Vulkanausbruch gegen Ende des 17. Jh. v. Chr. verschüttet worden war. Die Tonplomben waren mit zehn verschiedenen Goldringen versiegelt, auf denen verschiedene stilistisch anspruchsvolle Szenen mit hohem symbolischem Wert eingraviert waren: sechs verschiedene Stiersprungszenen, zwei Kampfszenen, eine Streitwagendarstellung und eine Darstellung zweier laufender Löwen. Keines der Originale ist uns erhalten geblieben.
Das ganz besondere Merkmal dieser Gruppe besteht darin, dass Tonplomben aus verschiedenen Fundorten von ein und demselben Goldring gesiegelt worden waren. Das eindrucksvollste Beispiel der Serie ist ein Goldring, von dem sieben Abdrücke auf Tonplomben aus vier verschiedenen Orten stammen (Ajia Triada, Sklavokambos, Gournia und Kato Zakros). Dieses Phänomen der überregionalen Verbreitung ist im Kontext antiker Administrationssysteme sonst kaum belegt. Tonplomben mit identischen Siegelabdrücken kommen nur innerhalb ein und desselben Fundortes vor, denn gesiegelte Dokumente oder Waren erfüllten ihre Funktion nur innerhalb eines geschlossenen administrativen Systems. Die unvermeidliche Konsequenz aus dieser allgemeinen Regel wäre, dass all diese kretischen Orte, in denen Tonplomben mit identischen Siegelabdrücken entdeckt wurden, in einem administrativen „Netz“ miteinander verwoben waren.
Die Karte links verzeichnet, wo Tonplomben auf der Insel Kreta gefunden wurden. Aus Ajia Triada stammt die rechts abgebildete Tonplombe. Zu erkennen ist der Abdruck eines Goldrings mit Stiermotiv.
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Die Debatte: Die große Relevanz dieser Tonplombengruppe für die Frage der Rekonstruktion der politischen Geographie der Insel wurde bereits in den 1940er Jahren erkannt. Die hohe stilistische Qualität der Darstellungen und nicht weniger ihr Inhalt veranlass- ten einige Forscher, die Siegelinhaber als Mitglieder der knossischen Elite zu identifizieren. Für die Verbreitung von identischen Siegelabdrücken in verschiedenen kretischen Zentren boten sich dabei zwei Interpretationsmöglichkeiten: Entweder wurden die gesiegelten Pergament- beziehungsweise Lederrollen von Knossos aus an andere Orte verschickt oder die knossischen Beamten reisten selbst in überregionalen administrativen Angelegenheiten von Ort zu Ort. Jede dieser beiden Optionen unterstrich die besondere Bedeutung von Knossos als Zentrum, das eine politisch-administrative Kontrolle über weite Regionen der Insel ausübte.
Gegen diese Auffassung von einer knossischen Dominanz wurden kürzlich Zweifel geäußert. Ausgehend von der Tatsache, dass wir in Knossos selbst nur zwei Tonplomben mit Siegelabdrücken dieser Gruppe begegnen, vermutete man, dass die Bedeutung des knossischen Palastes an diesem „Austauschnetz“ nur marginal war. Nach dieser alternativen Deutung stand Kreta in der Neupalastzeit nicht unter der politischen Hegemonie von Knossos, sondern war in verschiedene politisch unabhängige Einheiten gespalten, die auf einer paritätischen Ebene diplomatische oder ökonomische Kontakte zueinander aufrecht erhielten.
Die persönlichen Insignien der minoischen „Herren der Ringe“: Neben verschiedenen Varianten des Stiersprungmotivs sind ein Streitwagen, zwei Löwen im fliegenden Galopp und zwei Kampfszenen dargestellt. Die Abdrücke dieser Motive finden sich auf etwa 50 Tonplomben, deren Funktion darin bestand, Pergament- oder Lederrollen zu versiegeln. Von den originalen Goldringen ist keiner erhalten geblieben.
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Diese beiden Interpretationsmöglichkeiten weisen in Bezug auf die Rekonstruktion des politischen Systems des neupalastzeitlichen Kreta in zwei diametral entgegengesetzte Richtungen. Erstere Deutung böte ein sehr starkes Indiz für die politische Oberherrschaft von Knossos im Rahmen eines monarchischen Systems, letztere für die Existenz von mehreren politisch und wirtschaftlich voneinander unabhängigen politischen Zentren auf der Insel.
Die Methode: Von Anbeginn dieses Problems war es klar, dass nur eine Bestimmung der Tonherkunft der Plomben imstande wäre, eine Grundlage zur Lösung des Problems zu bieten. Es war allerdings auch klar, dass keine mikro- oder makroskopische Untersuchung dieser Tonklumpen vermochte, zuverlässige Informationen zur Tonherkunft zu bieten. Die einzige Möglichkeit, diese Diskussion mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern, böten naturwissenschaftliche Analysen und insbesondere petrographische und chemische Untersuchungen des Tons der Plomben. Die Anwendung dieser zerstörerischen Methoden war allerdings ausgeschlossen, da die für derartige Analysen benötigten Proben circa zwei Zentimeter lang sein müssten und somit fast so groß wie die meisten Tonplomben selbst.
Während das wissenschaftliche Interesse an dieser besonders aussagekräftigen Gruppe ungebrochen blieb, stagnierte die Forschung, da man zur entscheidenden Frage der Tonherkunft dieser Plomben nichts Konkretes beitragen konnte. Erst die Möglichkeit eines neuen, nahezu nicht zerstörerischen Verfahrens zur Tonanalyse leitete den Durchbruch ein.
Dabei handelt es sich um eine Methode, die Yuval Goren (Universität Tel Aviv), zum ersten Mal zur Untersuchung von Tonobjekten entwickelte, die aufgrund ihrer geringen Größe oder großen kulturhistorischen Bedeutung als besonders „delikat“ gelten. Nach dieser als Scattered Petrographic Analysis bezeichneten Methode bestehen die zu entnehmenden Proben aus winzigen Körnchen des Tons und seiner Magerung, die nicht unbedingt aus unversehrten Teilen eines Tonartefakts, sondern aus dessen Bruchstellen entfernt werden können. Das Verfahren wurde unter anderem bei der petrographischen und chemischen Analyse einer Reihe von Keilschrifttäfelchen der diplomatischen Korrespondenz der orientalischen Großkönige der Spätbronzezeit angewendet und lieferte zum ersten Mal konkrete, naturwissenschaftlich begründete Angaben zu ihrer Herkunft.
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Die Idee der Anwendung dieses Verfahrens für die Herkunftsbestimmung der minoischen Tonplomben entstand am Rande eines Kooperationstreffens der Universitäten Heidelberg und Tel Aviv im Sommer 2004 in Heidelberg. Nach einem langwierigen Antragsprozess und intensiven persönlichen Gesprächen gelang es uns, die Denkmalschutzbehörde des griechischen Kultusministeriums von der Feinheit und Effizienz des neuen Verfahrens zu überzeugen und eine Genehmigung für dessen Durchführung zu erhalten. Zwischen 2005 und 2006 wurden insgesamt 30 Tonplomben dieser Gruppe untersucht, die im Archäologischen Museum von Heraklion und in Akrotiri auf Thera aufbewahrt sind.
Die Ergebnisse: Das auf zwei Jahre angelegte interdisziplinäre Projekt zur systematischen Untersuchung und kulturhistorischen Auswertung dieser aussagekräftigen Tonplombengruppe fand in zwei Etappen statt. In einem ersten Schritt wurden sämtliche physischen, formalen und stilistischen Merkmale dieser Objekte mit einem Mikroskop bei 10- bis 200facher Vergrößerung systematisch erfasst. Anschließend wurden die aus den Bruchkanten der Plomben entnommenen Körnchen einem analytischen Verfahren unterzogen, das aus einer Kombination von petrographischen und chemischen Untersuchungen bestand: a) Dünnschliffanalyse mittels eines petrographischen Mikroskops, b) Untersuchung der Proben durch das Environmental Scanning Electron Microscope, eine spezielle Variante des Rasterelektronenmikroskops, und c) Energiedispersive Röntgenspektroskopie (Energy Dispersive Spectrometer).
All diese Untersuchungen zeigten, dass der Ton der Plomben aus alluvialen Ablagerungen – und konkreten Rote-Erde-Böden (terra rossa) – stammt, die man nicht nur in einer, sondern in verschiedenen Regionen der Insel findet. Die Analyse von zahlreichen Roten Erden aus verschiedenen Inselregionen und der Abgleich dieser Daten mit den Ergebnissen von bereits veröffentlichten chemischen und mineralogischen Untersuchungen kretischer Tonarten brachte allerdings die Gewissheit, dass diese Roten Erden eine je nach Region unterschiedliche mineralogische Zusammensetzung aufweisen. Die Böden in der Umgebung von Sklavokambos sind durch Serpentineinschlüsse gekennzeichnet, in Zakros enthalten sie Phyllit, in Gournia Granit, in Ajia Triada Schiefer und zum Teil auch Olivin und schließlich in der Gegend um Knossos sind sie reich an Quarz, Kieselsäure und Kalk.
Bis auf zwei Ausnahmen stammten die Tonplomben aus einer Tonquelle, die Quarz-, Kieselsäure- und Kalkanteile aufwies. Die Ergebnisse ließen daher keinen Zweifel, dass zur Herstellung der Tonplomben ein Tonvorkommen in Nordzentralkreta und konkreter in der Region von Knossos ausgebeutet wurde. Die Verbindung dieser Gruppe mit dem knossischen Palast lag somit auf der Hand.
Die Ergebnisse der petrographischen und chemischen Analysen der minoischen Tonplomben mit überregionaler Verbreitung können einen beachtlichen Beitrag zur Rekonstruktion der politischen Geographie Kretas in der Neupalastzeit leisten. Die Zuschreibung dieser Gruppe von Goldringen an Knossos ist nun sehr plausibel geworden. Dem seltenen Aufkommen dieser Tonplomben in Knossos selbst muss man nach diesem sehr eindeutigen Befund keine große Bedeutung beimessen. Dieses Phänomen lässt sich entweder durch die Fundumstände oder durch die Tatsache erklären, dass eben Knossos das Zentrum war, von dem all diese Sendungen ausgingen.
Die ,Herren der Ringe‘ waren allem Anschein nach knossische hohe Beamte, die durch den Abdruck ihres Goldringes auf den Tonplomben für die Unversehrtheit der versiegelten Pergament- oder Papyrusrollen bürgten. Die überregionale Verbreitung von Tonplomben mit identischen Abdrücken eines knossischen Goldringes macht die Existenz eines politischen beziehungsweise administrativen Netzes, an dessen Spitze der knossische Palast stand, sehr plausibel.
Dass Knossos in dieser Zeit tatsächlich eine Vormachtstellung auf der Insel genoss, ist eine These, die durch weitere Indizien gestützt werden kann. Einen ersten Hinweis dafür bietet die schlagartige Veränderung in der politischen Landschaft der Insel, die am Übergang von der Alt- in die Neupalastzeit stattgefunden hat. Die drei wichtigsten Verwaltungszentren der Altpalastzeit, Knossos, Phaistos und Malia, die erwiesenermaßen enge Kontakte aufrechterhielten, hatten auf der Ebene der Siegeladministration erstaunlicherweise wenig gemeinsam und wiesen eine jeweils eigene, lokale Tradition auf. Dies darf als ein eindeutiges Indiz für ihre administrative und politische Unabhängigkeit gewertet werden.
In der Neupalastzeit stellt man überraschend fest, dass Phaistos und Malia als Administrationszentren nahezu verschwinden, ein Phänomen, das man mit der Ausdehnung des knossischen Einflusses in Verbindung bringen könnte. Ein weiteres wichtiges Indiz für die Existenz eines zentralistischen Systems bietet die Entstehung einer neuen architektonischen Form, des minoischen „Landhauses“. Viele dieser neupalastzeitlichen Gebäude, die auf zahlreiche Regionen der Insel verteilt sind, liefern keine Anzeichen für eine lange Besiedlungsgeschichte. Sie wurden auf strategisch günstigen Positionen errichtet, welche die Kontrolle über fruchtbare Landstriche und wichtige Verbindungswege ermöglichten, und wiesen eine verhältnismäßig kurze Lebensdauer auf, die sich zeitlich mehr oder weniger mit dem Höhepunkt der neupalastzeitlichen Kultur deckt. Letzteres ist ein deutliches Anzeichen für ein Muster politischer Herrschaft, die der administrativen Kontrolle und wirtschaftlichen Ausbeutung der Insel durch ein Zentrum diente. Aufgrund der Ergebnisse des hier vorgestellten Projektes kann dieses Zentrum kein anderes als Knossos gewesen sein.
Alles in allem spricht eine Reihe von „harten“ Indizien dafür, dass der knossische Palast in der Neupalastzeit seine politische und administrative Kontrolle auf einen großen Teil der Insel oder sogar auf ganz Kreta ausgedehnt und sich durch das Errichten von Landhäusern und kontrollierten Wegen erschlossen hat.
Die historische Besonderheit dieser „knossischen Leistung“ wird erst aus diachroner Sicht augenscheinlich, wenn man bedenkt, dass es in der mehrere Jahrtausende währenden Geschichte Kretas nur fremden Eroberern gelang, die Insel unter der Führung eines Zentrums politisch beziehungsweise administrativ zu vereinigen. Die Bändigung und effektive Ausbeutung einer durch unzählige natürliche Barrieren in viele Mikroregionen zersplitterten Landschaft hätte als historisches Phänomen eine besondere Aussagekraft über die politischen, logistischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten dieses minoischen Palastzentrums.
Als nicht-exakte Wissenschaft vermag natürlich die Archäologie keinen definitiven Beweis zur Frage der knossischen Alleinherrschaft zu erbringen. Was sie allerdings machen kann, ist, durch die gezielte Anwendung von naturwissenschaftlichen Methoden zur Lösung eines Kernproblems der minoischen Kultur nicht mit Hypothesen, sondern mit harten Fakten beizutragen.
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Diamantis Panagiotopoulos ist
Professor am Institut für Klassische Archäologie der Universität
Heidelberg. Er studierte in Athen, promovierte 1996 in Heidelberg und
habilitierte sich 2003 in Salzburg. Seine wichtigsten
Forschungsschwerpunkte sind die sozialen und wirtschaftlichen
Strukturen der bronzezeitlichen Ägäis und die kulturelle Interaktion im
östlichen Mittelmeer des 2. Jt. v. Chr.
Kontakt: diamantis.panagiotopoulos@zaw.uni-heidelberg.de
Kontakt: diamantis.panagiotopoulos@zaw.uni-heidelberg.de
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Yuval Goren ist Professor für
Archäologie und Leiter vom Laboratory of Comparative Microarchaeology
and Metal Conservation an der Universität Tel Aviv. Seine
Forschungsaktivitäten zeichnen sich durch den Einsatz modernster
naturwissenschaftlicher Methoden zur Analyse und kulturhistorischen
Auswertung antiker Artefakte aus.
Kontakt: ygoren@post.tan.ac.il
Kontakt: ygoren@post.tan.ac.il
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