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Von den Konsequenzen mangelnder Toleranz

Unser Immunsystem muss nicht nur unterscheiden, was körpereigen und körperfremd ist. Es muss auch erkennen, ob uns körperfremde Stoffe oder Organismen nutzen – oder schaden. Im ersten Fall muss es sie tolerieren, im zweiten rigoros bekämpfen. Fehlentscheidungen der Abwehr können böse Folgen haben. Stefan Meuer vom Institut für Immunologie beschreibt, wie die Abwehrzellen diese erstaunliche Differenzierungsleistung erbringen und welche interessanten Ansatzpunkte diese neue Sichtweise der Immunfunktion für die Therapie schwerer chronisch-entzündlicher Erkrankungen wie Morbus Crohn erbringt.

Der menschliche Körper ist wie ein kleiner Staat, der Schutzmechanismen benötigt, um seine Individualität zu wahren. Dazu braucht er Systeme, die nach außen mit dem Grenzschutz und im Innern mit der Polizei zu vergleichen sind. Beide Funktionen, die durchaus unterschiedliches Handeln verlangen, muss unser Immunsystem erfüllen. Seine zellulären Elemente, die weißen Blutkörperchen, sind sehr mobil. Sie durchwandern ständig alle Regionen des Organismus: Zu einem Zeitpunkt können sie sich an der "Außengrenze" befinden – also in der Haut, im Darm oder Atemtrakt –, zu einem anderen in den verschiedenen inneren Milieus (Organe, Lymphbahnen oder Blut).

Je nachdem, wo sich die Zellen des Immunsystems gerade aufhalten, müssen sie unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Unsere Grenzflächen zur Außenwelt sind beispielsweise von Bakterien und Pilzen besiedelt. Wir leben mit ihnen häufig in einer symbiotischen Gemeinschaft, weil sie uns nützliche Substanzen zur Verfügung stellen. Sie dürfen deswegen nicht abgewehrt werden – aber nur, solange sie auch wirklich "draußen" bleiben. Im Innern des Körpers sind dieselben Bakterien und Pilze schädlich. Dort werden sie denn auch rigoros bekämpft, was sich als schwere fieberhafte Erkrankung (Sepsis) bemerkbar machen kann. Doch auch unsere Nahrung besteht aus körperfremden Substanzen. Zudem atmen wir mit der Luft permanent schwebende Fremdstoffe ein, beispielsweise Hausstaub oder pflanzliche Pollen. Auch alles, was unsere Haut berührt – Kleidung, Schmuck, Kosmetika und vieles mehr – ist fremd.

Das Immunsystem muss also zwei Dinge genau voneinander unterscheiden: Sind fremde Stoffe oder Organismen für den Körper nützlich und deswegen zu tolerieren – oder sind sie schädlich und deshalb abzuwehren. Die Erkenntnis von der feinen Differenzierungsfähigkeit des Immunsystems hat unsere Sichtweisen über seine Funktion in jüngster Zeit deutlich geändert: Wir dürfen dieses System nicht mehr nur als ein Instrumentarium ansehen, welches lediglich "selbst" von "fremd" unterscheidet. Als erkennendes und lernfähiges System ist es außerdem dazu in der Lage, "nützlich" von "schädlich" zu trennen. Ein Vergleich aus dem Alltag mag die außerordentliche Bedeutung dieser Unterscheidung verdeutlichen: Würde die Polizei nur selbst und fremd, aber nicht gut und schlecht unterscheiden, erwiese sie uns einen Bärendienst.

Wie können Immunologen die molekularen Grundlagen der Einordnung von "hier nützlich" und "dort schädlich" verstehen lernen? Diese Frage ist sehr wichtig, können doch Einordnungs-Fehler des Immunsystems dramatische Folgen haben: Abwehrreaktionen, die sich gegen nützliche Fremdstoffe und Organismen an den Grenzflächen unseres Körpers richten, führen zu schweren chronischen Krankheitsbildern. Im Magen-Darm-Trakt äußern sie sich als chronisch entzündliche Darmerkrankungen (zum Beispiel Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa), im Atmungsapparat beispielsweise als Asthma, im Falle der Haut als allergische Reaktion oder Ekzem. Der gemeinsame Nenner dieser Erkrankungen ist die schädliche, unsinnige Abwehr von nützlichen Fremdsubstanzen. Es ist, als würde man sich ständig über etwas ärgern, das man doch nicht ändern kann: Das macht jeden Menschen krank.

An solchen unsinnigen Reaktionen sind stets drei Komponenten beteiligt: Fremdstoffe, das Immunsystem und das jeweilige (Mikro-)Milieu, also die Körperregion, in der die Reaktion stattfindet. Fremdstoffe sind vielfältig und vorgegeben. Sie können uns kaum Erklärungen bezüglich der Frage "nützlich oder schädlich?" liefern, weil dafür ja entscheidend ist, wo sie mit unserem Körper in Kontakt treten. Auch die Zellen des Immunsystems – letztlich für die Krankheitssymptome verantwortlich – tragen keine "Schuld". Man muss sie als programmierbare Computer verstehen, in denen über multiple Signale bestimmte Funktionsprogramme aufgerufen werden. Das Instrumentarium, das unterschiedliche Verhaltensweisen immunkompetenter Zellen aufruft, besteht aus einer Hundertschaft von Rezeptoren, die wie die Tasten einer Tastatur in der Zelloberfläche verankert sind. Die Aufgabe der unterschiedlichen Mikromilieus unseres Körpers ist es, mit dieser Tastatur in Wechselwirkung zu treten und das funktionelle Programm immunkompetenter Zellen an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen.

Ein konkretes Beispiel: Das Mikromilieu des Darms muss den dort vorhandenen weißen Blutkörperchen vermitteln, dass es die im Darm vorkommenden nützlichen Fremdsubstanzen nicht angreifen soll. Das Mikromilieu eines inneren Organs hingegen muss die Zellen des Immunsystems so programmieren, dass sie Bakterien oder Pilze unerbittlich angreifen.

Daraus ergibt sich eine wichtige neue Betrachtungsweise: Die Ursachen krankheitsauslösender Reaktionen des Immunsystems sind in der Regel in Veränderungen der dritten Komponente – des Mikromilieus – zu suchen. Immunreaktionen, die zu Krankheiten führen, beruhen demnach auf dem Aufrufen falscher Programme bei einem ansonsten sich konsequent verhaltenden Immunsystem.

Bislang hat sich die immunologische Forschung viel zu sehr auf das Immunsystem selbst konzentriert. Der entscheidende Einfluss der molekularen Mikromilieus auf Immunreaktionen wurde sträflich vernachlässigt. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass die klinisch-immunologische Forschung trotz ihrer großen Relevanz für viele chronische Krankheitsbilder bislang nur spärliche Erfolge vorzuweisen hat.

Auf dieser Einsicht basiert das Grundkonzept des Heidelberger Sonderforschungsbereichs "Immuntoleranz und ihre Störungen" (SFB 405). Dieser Sonderforschungsbereich wird seit 1997 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 2,5 Millionen Mark jährlich gefördert. Er verbindet Immunologen aus Heidelberger Kliniken, theoretischen Instituten des Klinikums und des Deutschen Krebsforschungszentrums. Denn eine derart komplexe Thematik lässt sich, wenn überhaupt, nur in einem interdisziplinären Ansatz angehen.

Dieser Ansatz soll am Beispiel eines Forschungsprojektes, das sich mit der Regulation von Immunfunktionen im menschlichen Darm beschäftigt, geschildert werden. Die Wissenschaftler des Projektes wollen entschlüsseln, welche Einflüsse die Darmschleimhaut (Mucosa) auf die in der Schleimhaut vorhandenen Zellen des Immunsystems ausübt (rund 70 Prozent aller Immunzellen sind in der Darmschleimhaut lokalisiert).

Konkret versucht man folgende Frage zu beantworten: Wie gelingt es den immunkompetenten Zellen im Darm mit den vielen Fremdstoffen und mikrobiellen Mikroorganismen so umzugehen, dass wir mit ihnen permanent und in einer für den Körper nützlichen Weise leben können? Ebenfalls untersucht wird, welche Veränderungen des Mikromilieus zu einem krankheitsauslösenden Verhalten des Immunsystems mit der Folge chronischer Darmentzündungen führen. Diese Forschungsarbeiten sollen in neuen Ansätzen zur Behandlung einer Vielzahl unerklärter und deswegen auch nur begrenzt therapierbarer Erkrankungen münden.

Regelkreis

Seit Beginn der Förderperiode des SFB 405 im Juli 1997 wurden bereits wichtige neue Erkenntnisse erarbeitet. Die beiden folgenden Beispiele sollen dies demonstrieren.

Die Epithelzellen der Darmschleimhaut, die unmittelbar mit fremdem Darminhalt konfrontiert sind, produzieren große Mengen des löslichen Botenstoffes Interleukin 10. Dieser wird möglicherweise als Folge der Wechselwirkung zwischen Darmflora und Epithel gebildet (bisher war man davon ausgegangen, dass Interleukin 10 lediglich von Zellen des Immunsystems selbst hergestellt werden kann). Auf Grund ihres speziellen molekularen Aufbaus geben Epithelzellen Interleukin 10 nicht nach außen, in Richtung Darminhalt ab. Der Botenstoff wandert vielmehr zur Zellbasis, also in die Richtung der sich "unter" der Darmwand befindlichen Lymphozyten und Monozyten. Die Monozyten aber sind die zentralen Programmierer der Lymphozyten; letztere sind lediglich für die "Endstrecke" immunologischer Reaktionen funktionell entscheidend.

Zellen der Darmschleimhaut
Die mit dem Darminhalt in Kontakt tretende Oberfläche der Darmschleimhaut (das Mucosa-Epithel) ist mit einem monoklonalen Antikörper rötlich eingefärbt. In den hellen Arealen befindet sich das mucosale Immunsystem. Die Kerne der Immunzellen sind als kleine Punkte erkenbar

Wirkt Interleukin 10 auf Monozyten ein, ruft es massive Funktionsänderungen hervor: Es bewirkt den Verlust bestimmter Monozyten-Oberflächenmoleküle, die entscheidende Signale für lymphozytäre Abwehrreaktionen aussenden. Das hilft zu erklären, warum Angriffsreaktionen der Lymphozyten normalerweise im Darmmilieu nicht stattfinden. Eine reduzierte Interleukin 10-Produktion durch die Darmepithel-Zellen führt jedoch dazu, dass die große Zahl der in der Schleimhaut vorkommenden Lymphozyten gegen Darminhaltsstoffe vorgeht. Die Folge: entzündliche Reaktionen. Erste klinische Versuche, bei denen man gentechnisch hergestelltes menschliches Interleukin 10 in die Nähe von Entzündungsherden des Darmes gebracht hat (zum Beispiel mit Hilfe von Endoskopen), bestätigen diese Ansicht.

Ein weiterer Befund, der für künftige Therapieansätze möglicherweise von entscheidender Bedeutung ist, konnte durch die Analyse eines Stoffwechselweges erhoben werden, der für die Funktion der Lymphozyten essentiell ist. Lymphozyten benötigen nämlich eine bestimmte Aminosäure, Zystein, um Abwehrreaktionen ausführen zu können. Da sich die Lymphozyten Zystein nicht selbst aus dem Vorläufer Zystin herstellen können, sind sie darauf angewiesen, dass ihnen die essentielle Aminosäure von anderen Zellen zur Verfügung gestellt wird. Diese Aufgabe erfüllen die Monozyten: Sie können Zystin aufnehmen, in Zystein umwandeln und den Lymphozyten auf einen bestimmten Reiz hin zur Verfügung stellen. Vergleichende Untersuchungen an Monozyten aus der menschlichen Darmschleimhaut – einer äußeren Grenze – und an Monozyten eines inneren Milieus – des Blutes – ergaben deutliche Unterschiede: Monozyten der Darmschleimhaut stellen kein Zystein her – Monozyten des Blutes aber produzieren Zystein in hohem Maße. Das Signal für die Zysteinproduktion erfolgt über einen Oberflächenrezeptor, genannt CD 58. Dieser Rezeptor aber wird durch Interleukin 10 von der Oberfläche der Darmmonozyten "entfernt".

In der Darmschleimhaut gibt es also offenbar einen Regelkreis: Die durch die Darmflora in Gang gesetzte Interleukin 10-Produktion durch Epithelzellen verändert die Monozyten in der Schleimhaut derart, dass sie schließlich nicht mehr fähig sind, eine Aminosäure zur Verfügung zu stellen, ohne die eine Abwehrreaktion nicht ablaufen kann. Auf diese Weise wird erreicht, dass sich unser Immunsystem – normalerweise – nicht gegen Darmbakterien wehrt. Auch der Fremdstoff "Nahrung" wird aus diesem Grund nicht als schädliche Substanz behandelt – die molekulare Grundlage einer echten Symbiose.

Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen hingegen kommt es zu einem massiven Einwandern von zystein-produzierenden Monozyten des Blutes in die Darmschleimhaut. Dies stört massiv die Zystein/Zystin-Balance. Jetzt werden Abwehrreaktionen gegen die für uns nützlichen Inhaltsbestandteile des Darms möglich. Dieser entzündliche Prozess zerstört das Darmgewebe. Möglicherweise ist die Beeinflussung der Zystein/Zystin-Balance durch Substanzen, welche die erhöhte Zysteinkonzentration im entzündeten Areal senken, ein neuer Ansatzpunkt, um chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zu therapieren. Auf der Basis dieser Befunde können jetzt Überlegungen für innovative klinische Versuche angestellt werden. Diese neuen Therapieansätze haben zum Ziel, das veränderte Milieu in der Umgebung immunkompetenter Zellen zu korrigieren. Sie sind damit näher an der Krankheitsursache als die derzeit (noch) vorgenommene, das Immunsystem unterdrückende Therapie.

Autor:
Prof. Dr. Stefan Meuer
Institut für Immunologie, Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 305, 69120 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 56 40 00, Fax (0 62 21) 56 59 90

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