Arm und krank – reich und gesund?
Eine gewaltige Informationslücke versuchen Wissenschaftler des Heidelberger Sonderforschungsbereichs "Kontrolle tropischer Infektionskrankheiten" derzeit vor Ort zu schließen: Sie wollen in einer ausgewählten Region Westafrikas präzise und verlässliche Daten zur Krankheitsbelastung und Sterblichkeit gewinnen. Christoph M. Schmidt und Ralph Würthwein vom Alfred Weber-Institut der Universität Heidelberg schildern die Hintergründe des ehrgeizigen Projekts und die konkreten Arbeiten in Nouna, einer Kleinstadt im Nordwesten Burkina Fasos.
Als sich die afrikanischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg vom Kolonialismus emanzipierten, erschienen ihre wirtschaftlichen Aussichten zunächst relativ rosig. Gewiss, der Lebensstandard war niedrig; dennoch konnte man erwarten, dass sich eine ähnliche Entwicklung ergeben würde, wie sie in den führenden Wirtschaftsnationen wenige Jahrzehnte früher zu beobachten war. Im Zuge der industriellen Revolution war in Europa beispielsweise nicht nur das Pro-Kopf-Einkommen in einer in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Art und Weise gestiegen – auch die demographischen und epidemiologischen Gegebenheiten hatten sich drastisch verändert. So war die Sterblichkeit, vor allem in jungen Jahren, zurückgegangen. Auch die Geburten waren innerhalb weniger Jahrzehnte auf ein deutlich niedrigeres Niveau gesunken. Dieses Phänomen wird als "demographischer Übergang" bezeichnet.
Mit diesen Veränderungen ging auch eine dramatisch veränderte Krankheitsbelastung der Bevölkerung einher. Dieser "epidemiologische Übergang" umfasste nicht nur einen bemerkenswerten Rückgang der Krankheitsbelastung insgesamt. Auch die Verteilung der Krankheiten auf Infektionskrankheiten, chronische Krankheiten und Unfälle veränderte sich: So nahm der Anteil an Infektionskrankheiten deutlich ab, der an chronischen Krankheiten entsprechend zu. Ähnliche Entwicklungen hatte man sich auch für die Länder Afrikas erhofft. Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Von einem Zusammenwachsen des Niveaus der Lebensstandards in der Welt kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die westafrikanischen Länder fielen in den letzten Jahrzehnten deutlich zurück. Es fällt schwer, die Ursache dafür ausschließlich in politischen Problemen und einer fehlgeschlagenen Strukturpolitik zu suchen.
Auch die in Afrika vorherrschende außerordentlich hohe Krankheitsbelastung wird als wirtschaftliches Entwicklungshemmnis diskutiert. Der vorhergesagte epidemiologische Übergang hat sich nicht ergeben. Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden im Afrika südlich der Sahara circa 60 Prozent der Todesfälle von Infektionskrankheiten verursacht, 25 Prozent von chronischen Krankheiten und 15 Prozent von Unfällen. Zum Vergleich: In den Industrienationen werden sechs Prozent von Infektionskrankheiten, 88 Prozent von chronischen Krankheiten und sechs Prozent von Unfällen verursacht.
Von besonderer Bedeutung für Afrika ist die Krankheitsbelastung durch Malaria. Nach einer Statistik der WHO steht die Infektionskrankheit weltweit als Todesursache auf Platz acht nach Atemwegs-Infektionen, Durchfallerkrankungen und Masern und vor tödlichen Verkehrsunfällen. Innerhalb Afrikas südlich der Sahara belegt die Malaria sogar den dritten Platz der Todesursachen-Statistik. Damit steht die Malaria noch vor der in der öffentlichen Debatte weitaus stärker beachteten Krankheit Aids, die in der weltweiten Statistik nicht unter den zehn häufigsten Todesursachen zu finden ist.
Im April 2000 haben die afrikanischen Staats- und Regierungschefs in Abujan, Nigeria, erklärt, die von Malaria verursachten Todesfälle bis zum Jahre 2010 um die Hälfte senken zu wollen. Motiviert wurde dieser Schritt nicht zuletzt durch naturgemäß schwer zu belegende Berechnungen, die nahe legen, dass das jährliche Bruttosozialprodukt von Afrika heute um ein Drittel (rund 100 Milliarden Dollar) größer sein könnte, wäre die Malaria bereits vor 35 Jahren ausgerottet worden.
Die Kausalitätsrichtung
zwischen Krankheit und Armut einerseits und Wohlstand und Gesundheit
andererseits ist jedoch keineswegs eindeutig, was die beiden folgenden
Szenarien zeigen mögen:
#150; Eine arme Familie verfügt über ein kleineres Budget und hat
folglich eine schlechtere Gesundheitsversorgung und weniger Mittel für
vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen, inklusive einer gesunden Ernährung
oder der Nutzung sauberen Wassers. Ein primärer Weg, die
gesundheitliche Situation zu verbessern, wäre daher wirtschaftliches
Wachstum.
– Wird andererseits eine relativ wohlhabende Familie von Krankheiten
oder Todesfällen heimgesucht, so kann dies die Erwerbsmöglichkeiten
einschränken und die Familie wird (vor allem bei mangelnder Absicherung
gegen diese Risiken) an Wohlstand einbüßen. Insbesondere im Kontext
afrikanischer Kleinbauern ist dies ein überzeugendes Szenario.
Salopp gesagt geht es darum, dass sich die Frage, ob die Menschen in Afrika südlich der Sahara oft krank sind, weil sie arm sind, oder ob sie arm sind, weil sie häufig krank sind, schwerlich eindeutig beantworten lässt. Daher muss gegenwärtig ungeklärt bleiben, ob veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen oder direkte gesundheitspolitische Eingriffe die wirtschaftliche und epidemiologische Situation in den Ländern Westafrikas effizienter verbessern können, oder – was wahrscheinlich ist – nur gemeinsam eine Verbesserung zu erreichen ist.
Die gesamte Diskussion spielt sich dabei vor dem Hintergrund eines allgemeinen Vormarschs der Infektionskrankheiten ab. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zu nennen sind unter anderem die wachsende Verstädterung in den Entwicklungsländern und die mit diesen dichteren Siedlungsformen typischerweise einhergehenden Armuts- und Hygieneprobleme. Ähnliche Effekte sind von mehr Gütertransport, einer verstärkten Arbeits- und Flüchtlingsmigration, aber auch vom ständig wachsenden Tourismus zu erwarten.
Von besonderem Interesse sind die unbeabsichtigten Nebeneffekte menschlicher Eingriffe in die Natur, wie sie sich auch in allgemeinen Klima- und Umweltveränderungen niederschlagen. Im konkreten Zusammenhang stimmt vor allem die wachsende Resistenz der Erreger gegenüber Medikamenten und ihre steigende Virulenz nachdenklich. So führte offenbar der flächendeckende Einsatz des bislang wirksamen Malariamedikaments "Chloroquin" zu einer Resistenz der Malariaerreger gegen Chloroquin in weiten Teilen Afrikas.
Heidelberger Forschergruppe vor Ort
Das Ausmaß dieser wirtschaftlichen und gesundheitlichen Probleme macht offensichtlich, dass eine präzise Information über die tatsächliche wirtschaftliche und epidemiologische Situation in Westafrika ein zentrales Element wissenschaftlich gestützter Handlungsanweisungen sein muss. Derzeit gibt es jedoch in Afrika südlich der Sahara (außer Südafrika) keinerlei umfassende Sterberegister, die die gesundheitsbezogenen Daten verlässlich generieren könnten, geschweige denn Informationen, wie die individuelle Gesundheit mit der wirtschaftlichen Situation zusammenspielt. Die für Afrika veröffentlichten Zahlen sind daher im Allgemeinen eher geraten als geschätzt. Meist handelt es sich um modellgestützte Berechnungen oder Extrapolationen, die auf Minidatensätzen basieren. Die Daten, die aus Krankenhausstatistiken stammen, spiegeln ebenfalls kein verlässliches Bild wider, da nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt Zugang zu einer modernen Gesundheitsversorgung hat.
In Nouna leben 28.000 Menschen. Die Universität Heidelberg arbeitet eng mit dem Gesundheitsforschungszentrum "Centre de Recherche en Santé de Nouna" zusammen. |
Darüber hinaus befinden sich die von der WHO bereitgestellten Daten in der Regel auf einem sehr hohen Aggregationsniveau. Die Höhe und die Aufteilung der Krankheitsbelastung in Krankheitsursachen sind jedoch auf Grund von Klima, ökonomischem Entwicklungsstand, unterschiedlicher demographischer Struktur der Bevölkerung und unterschiedlicher Endemizität sehr verschieden. In einem Land, das sich im so genannten Meningitis-Gürtel befindet, hat die Bekämpfung von Meningitis logischerweise eine höhere Priorität als in einem Land außerhalb des Meningitis-Gürtels. Ein ärmeres Land leidet vermutlich mehr unter Mangelernährung und Wurmerkrankungen als ein wohlhabenderes Land. Um diese gewaltige Informationslücke schliessen zu helfen, versucht eine Heidelberger Forschungsgruppe für eine ausgewählte Region in Westafrika verlässliche Zahlen zu gewinnen und Mortalität und Morbidität vor Ort zu bestimmen.
Bei diesem Projekt handelt es sich um einen Teil des im letzten Jahr in Heidelberg ins Leben gerufenen Sonderforschungsbereiches (SFB) "Kontrolle tropischer Infektionskrankheiten". Dieser SFB arbeitet eng mit einem ebenfalls im letzten Herbst entstandenen Gesundheitsforschungszentrum, dem "Centre de Recherche en Santé de Nouna" (CRSN) zusammen. Nouna ist eine Kleinstadt im Nordwesten Burkina Fasos, knapp 300 km von der Hauptstadt Ouagadougou entfernt. Trotz ihres ländlichen Charakters ist Nouna mit seinen 28 000 Einwohnern Provinzhauptstadt und Sitz der Verwaltung des gleichnamigen Gesundheitsdistrikts. Das CRSN ist direkt dem Gesundheitsministerium von Burkina Faso unterstellt und unterhält enge Kontakte mit der Universität Heidelberg und der Universität von Ouagadougou. Das Forschungszentrum versteht sich als Plattform für interdisziplinäre Forschung im Bereich der Mikrobiologie, Parasitologie, Epidemiologie, Gesundheitssystemforschung und der Gesundheitsökonomie.
Ralph Würthwein beim Besuch des nationalen Statistik-Instituts in Ouagadougou. |
Das Projekt zur Messung der Krankheitsbelastung im Gesundheitsdistrikt von Nouna zielt auf Beiträge konzeptioneller wie empirischer Natur. Auf der konzeptionellen Ebene stellt sich die grundsätzliche Frage, in welcher Einheit man die Krankheitsbelastung einer Gesellschaft messen sollte. Traditionell wird die Krankheitsbelastung eines Landes oder einer Region im Wesentlichen mittels aggregierter Sterblichkeitsraten wiedergegeben. Diese Größen werden entweder als grobe Sterblichkeitsrate pro 100 000 lebenden Einwohnern oder als so genannte altersstandardisierte Sterblichkeitsrate pro 100 000 Einwohner ausgedrückt. Mit letzterer wird in Betracht gezogen, dass eine im Schnitt ältere Bevölkerung bereits allein aus demographischen Gründen eine höhere Mortalitätsrate aufweist. Die Todesfälle werden hierbei auf eine standardisierte demographische Struktur bezogen, wodurch eine gewisse internationale Vergleichbarkeit der Gesamtmortalität gewährleistet wird. Beispielsweise wird durch dieses Vorgehen im internationalen Vergleich transparent, dass die niedrige Kindersterblichkeit eines geburtenschwachen Landes wie der Bundesrepublik in einer geburtenstarken Gesellschaft wie der Burkina Fasos zu einer drastisch reduzierten Gesamtsterblichkeit führen würde.
Als Indikatoren der Krankheitsbelastung einer Gesellschaft sind aggregierte Sterblichkeitsraten jedoch kontrovers. So fällt beispielsweise der Todesfall eines 80-jährigen Mannes bei ihrer Konstruktion genauso sehr ins Gewicht wie der eines 5-jährigen Kindes. Der Kontrolle einer tödlichen Krankheit, die vorwiegend die Alten trifft, würde somit die gleiche Priorität zugewiesen wie einer, die überwiegend im frühen Kindesalter auftritt. Die unumstößliche Tatsache, dass jeder Mensch einmal sterben muss, die Tragik eines Kindstods aber ungleich größer ist, lässt diese Gleichbewertung des Todesfall-Zeitpunktes fragwürdig erscheinen.
Die Abwägung unterschiedlicher Wohlfahrtswirkungen staatlicher Maßnahmen auf die Betroffenen – während einige gewinnen, verlieren typischerweise andere – ist eine Debatte, die die Nationalökonomie seit Jahrhunderten beschäftigt. Im gegebenen Zusammenhang wird beispielsweise ein Impfprogramm den Betroffenen einen gewissen Schutz vor einer Infektion verleihen. Eine ebenfalls mögliche, vergeblich um diesen Teil des Budgets konkurrierende Verbesserung der Unfallversorgung stünde hingegen Unfallopfern nicht mehr zur Verfügung. Die Grunderkenntnis, dass das, was für gesundheitspolitische Maßnahmen verausgabt wird, bei gegebenem Budget nicht mehr für Alternativen zur Verfügung steht, fordert somit in jedem Falle eine gesundheitspolitische Bewertung. Als Reaktion auf dieses Problem entwickelte sich die epidemiologische Forschung in den letzten Jahren in Richtung einer offenen Diskussion möglicher Wertungen. Dabei wurden unterschiedliche Indikatoren vorgeschlagen, die die expliziten Werturteile in die Analyse mit aufnehmen.
Ein Indikator, der auf breiten Konsens gestoßen ist, ist der Indikator der "Verlorenen Lebensjahre" (years of life lost – YLLs). Ein YLL misst die Krankheitsbelastung in einer naheliegenden Einheit: der Anzahl der Lebensjahre, die durch einen frühzeitigen Tod verloren gehen. Wenn man für jeden Verstorbenen wüsste, wie alt er beispielsweise bei sofortiger Ausrottung der verursachenden Krankheit geworden wäre, so ließe sich ein Maß der ursachenbedingten Krankheitsbelastung konstruieren. Insbesondere das relativ geringe Gewicht, das Kindersterblichkeit in einer bloßen Sterblichkeitsberechnung erhält, wird dadurch erheblich erhöht.
Allerdings muss beim Einsatz dieser Indikatoren akzeptiert werden, dass man von der grundsätzlichen Abwägung der Wohlfahrtsgewinne und -verluste über die Personen hinweg nicht loskommen kann. So werden auch für YLLs verschiedene Varianten diskutiert. Ein Ansatz nimmt beispielsweise nur solche verlorenen Lebensjahre in die Berechnung auf, die zwischen dem zweiten und dem 66. Lebensjahr liegen. Dahinter steht eine rein produktivitätsbezogene Rechtfertigung: Nach der produktiven Lebensphase trägt das Individuum nicht mehr zur ökonomischen Aktivität der Gesellschaft bei, während in ganz jungen Jahren die bisher in die Person getätigten Investitionen nicht groß genug sind, um den ökonomischen Aufwand einer entsprechenden Gesundheitsmaßnahme zu rechtfertigen.
Im Falle der Erfassung der gesellschaftlichen Bewertung verlorener Lebensjahre wäre es prinzipiell denkbar – wenn auch nicht sehr wahrscheinlich – dass der beschriebene YLL-Indikator das Wertesystem einer Gesellschaft widerspiegeln könnte. Dieser Indikator hat sich jedoch verständlicherweise nicht durchgesetzt.
Stattdessen haben sich Ansätze bewährt, die sich an der Lebenserwartung orientieren, welche die Verstorbenen einer Altersgruppe kurz vor ihrem Ableben aufweisen. Wird internationale Vergleichbarkeit gesucht, so bietet es sich darüber hinaus an, die Lebenserwartung in einer Referenzgesellschaft heranzuziehen. In der Literatur werden üblicherweise japanische Sterbetafeln verwendet, weil die Lebenserwartung der Japaner nach dem Stand heutiger medizinischer Möglichkeiten als Obergrenze betrachtet wird. Somit wiegt konsequenterweise auch der Tod von Frauen in der Berechnung schwerer, denn sie verlieren durch einen frühzeitigen Tod anhand dieser Referenzwahl auch mehr Lebensjahre.
Ein weiteres Problem bei der Messung der Krankheitsbelastung ist die Frage, wie man Krankheitsepisoden erfassen soll, die nicht zum Tode führen. Dabei ist zu klären, wie und ob man Mortalität und Morbidität in einem Indikator darstellen kann. Die bis dato erreichte Akzeptanz des YLL legte es nahe, in einem solchen Indikator dieselbe natürliche Einheit zu verwenden, die man für frühzeitigen Tod verwendet hat – die Zeit.
Der von der WHO und der Weltbank in jüngster Zeit propagierte Indikator zur Messung der Krankheitsbelastung – der DALY (disability adjusted life years) – setzt sich aus dem YLL und aus einem ergänzenden Maß, dem YLD (years lived with a disability) zusammen. Der YLD misst die Zeit, in der der Betreffende auf Grund einer Krankheit beeinträchtigt war.
Da verschiedene Krankheitszustände nicht nur untereinander verglichen, sondern auch in ein gemeinsames Bewertungsschema mit dem Tod gebracht werden müssen, entsteht hier ein immenses ethisches Problem. Die von der WHO und der Weltbank verfochtene pragmatische Lösung war, Expertengremien eine umfangreiche Liste von Krankheitsbildern auf einer Skala von 1 (Tod) bis 0 (perfekte Gesundheit) bewerten zu lassen. Diese Werte wurden verwendet, um die Zeitdauer zu gewichten, in der sich ein Mensch in einem bestimmten Krankheitszustand aufhält. Die Krankheitsbelastung in einer Region in einem bestimmten Jahr setzt sich dann beispielsweise zusammen aus einem verlorenem Lebensjahr durch Tod auf Grund von Malaria, plus drei Wochen Bettlägrigkeit auf Grund von Masern, multipliziert mit dem Beeinträchtigungsgewicht von 0,10 und so weiter.
Fünf Ärzte für 180.000 Einwohner
Es ist offensichtlich, dass ein solches Vorgehen zu Kontroversen führen muss. Letztlich muss es in der gesundheitspolitischen Beratung darum gehen, einen Indikator zu finden, der auf einem möglichst breiten Konsens beruht und der dazu dienen kann, gesundheitspolitische Entscheidungen anhand einer besseren Informationsbasis treffen zu können. Nur so kann ein effizienter Einsatz der knappen Ressourcen im Gesundheitsbereich bewirkt werden.
Eine Alternative wäre, darauf zu verzichten, die Morbidität in einen Indikator zu integrieren. Dann würden die gesundheitspolitischen Entscheidungen nur hinsichtlich der Mortalitätssituation getroffen. Das Ausklammern von Krankheiten, die nicht zum Tode führen, mag jedoch zu einer Fehlsteuerung von Ressourcen führen, über deren Ausmaß man dann keinerlei Informationen besitzt.
Zwei weitere gesundheitspolitische Wertungen, die in den DALY einfließen, sind die Bewertung des Alters des Kranken oder Verstorbenen und die Bewertung des Zeitpunktes von Krankheitsepisode und Todesfall. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass der Haushaltsvorstand einer Familie im ländlichen Afrika, der vor der Entscheidung steht, seinem 20-jährigen Sohn, der bei der Feldarbeit hilft, eine Behandlung zukommen zu lassen oder dem jüngsten Kind oder dem 70-jährigen Großvater, eine Abwägung trifft, die die erstgenannte Alternative favorisiert. Ähnliche Erwägungen betreffen die zeitliche Struktur der Erträge und Kosten staatlicher Eingriffe: Bei der Finanzierung zweier alternativer Gesundheitsprojekte – beispielsweise eines Präventionsprogramms, dessen Erfolg erst in zehn Jahren sichtbar wird und eines Programms zum Ankauf und zur Verteilung von dringend benötigten Medikamenten für eine aktuelle Meningitis-Epidemie – müssen in der Abwägung die zukünftigen Erträge des ersten Programms erheblich sein, sollen sie die momentanen Vorzüge des zweiten Programms aufwiegen.
Eine der Moscheen von Nouna |
Unabhängig vom Messkonzept besteht das empirische Problem, das Auftreten von Krankheitsepisoden und Sterbefällen nach detaillierten Ursachen und demographischen Charakteristika getrennt zu erfassen. Da eine Totalerhebung, so wie sie in entwickelten Volkswirtschaften üblich ist (auch dort werden im Übrigen nicht nur fehlerfreie Informationen geliefert), schon auf Grund logistischer und finanzieller Hemmnisse in unserer Zielregion undenkbar ist, muss eine überzeugende stichprobenbasierte Strategie entworfen werden. Ein solcher Ansatz ist die Kombination einer Volkszählung mit einem so genannten demographischen Überwachungssystem (DÜS) in einer Region. Die erhobenen Daten werden dann als Stichprobe der Grundgesamtheit aufgefasst und – unter Zuhilfenahme beobachtbarer Größen wie der Altersstruktur – hochgerechnet.
Zwischen November 1997 und März 1999 starben in der Region, in der unsere Untersuchungen stattfinden, 464 Menschen. Um die Sterblichkeit festzustellen, betreibt das CRSN ein demographisches Überwachungssystem, welches in 39 zufällig ausgewählten Dörfern des Gesundheitsdistriktes von Nouna demographische Bewegungen (Geburt, Tod und Migration) festhält. Zu Beginn der Überwachung erfolgte in den 39 Dörfern eine Volkszählung, die seither alle drei Monate durch ein System der so genannten "Vital Events Registration" aktualisiert wird. Wird festgestellt, dass ein Bewohner verstorben ist, besucht die Familie nach mehreren Wochen (um die Angehörigen in ihrer Trauer nicht unnötig zu belästigen) ein Interviewer, der mit demjenigen Angehörigen, der am besten über die Begleitumstände des Todes informiert ist, einen umfangreichen Fragebogen ausfüllt. Dieser soll über alle Symptome und Begleiterscheinungen des Todes Auskunft geben.
Der Fragebogen wird von zwei Medizinern durchgesehen, die daraufhin unabhängig voneinander eine Diagnose erstellen. Stimmen die beiden Ärzte in ihrer Diagnose nicht überein, wird ein dritter Arzt hinzugezogen. Bei zwei übereinstimmenden Diagnosen wird der Todesfall ICD-kodiert, das heißt, die Todesursache wird nach dem Kodierungssystem der "International Classification of Diseases" (ICD) festgestellt. Auf den ersten Blick mag eine solche "verbale Autopsie" abenteuerlich erscheinen. Es lässt sich aber schwerlich rechtfertigen, dass in einem Land, in dem fünf Ärzte 180000 Einwohner betreuen, knappe ärztliche Kapazität gebunden wird, um Autopsien durchzuführen. Nur rund ein Fünftel aller Todesfälle wird von den Statistiken der Krankenhäuser und sonstigen Gesundheitseinrichtungen erfasst, und es ist davon auszugehen, dass diese Todesfälle kein repräsentatives Bild der in der Bevölkerung vorherrschenden Krankheiten wiedergeben.
Eine aktuelle Studie des Projektes, das sich auf die Erfassung von YLLs konzentriert, bestätigt, dass Malaria die Haupttodesursache in der Erhebungsregion ist. Mehr als ein Viertel der durch YLLs gemessenen gesamten Krankheitsbelastung wird von Malaria verursacht. Auf Platz zwei rangieren Durchfallerkrankungen und auf Platz drei Erkrankungen der unteren Atemwege. Bedenkt man, dass alle diese Krankheiten mit verhältnismäßig preiswerten Medikamenten und einfachen Präventivmaßnahmen vermieden werden können, so wird der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gesundheit und Krankheit und Armut sofort transparent. Knapp 60 Prozent der gesamten durch Tod verursachten Krankheitsbelastung (gemessen in YLLs) könnten demnach mit einfachen Mitteln vermieden werden.
Der Vergleich der lokal erhobenen Daten und der aus ihnen abgeleiteten Indikatoren mit den veröffentlichten Ergebnissen der WHO und der Weltbank für Afrika südlich der Sahara ist besonders brisant. Die von WHO und Weltbank veröffentlichten Zahlen erheben nicht nur einen gewissen Anspruch, repräsentativ zu sein, sondern werden weltweit – nicht zuletzt auch mangels Alternativen – von Entscheidungsträgern herangezogen, wenn gesundheitspolitische Weichenstellungen im globalen Rahmen diskutiert werden. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Modellberechnungen und Extrapolationen eines südafrikanischen Datensatzes, was zumindest die Frage nach der Berechtigung des erhobenen Anspruchs nahe legt.
Der Vergleich mit den lokal erhobenen Daten ergibt, dass hinsichtlich Alter und Geschlecht die Struktur der gesamten Krankheitsbelastung tatsächlich keine großen Unterschiede aufweist. Die Rangfolge der Haupttodesursachen jedoch unterscheidet sich auffallend. In beiden Fällen belegen zwar Malaria, Durchfallerkrankungen und Erkrankungen der unteren Atemwege die ersten drei Plätze, wenn auch in verschiedener Reihenfolge. Danach treten jedoch erhebliche Unterschiede auf. Meningitis beispielsweise würde gemäß WHO mit Platz 27 gesundheitspolitisch eine eher untergeordnete Bedeutung erlangen, liegt in der westafrikanischen Studienregion jedoch auf Platz 6. Es liegt daher nahe, dass eine regionale oder lokale Gesundheitspolitik sich nicht unbedingt auf die WHO-Daten verlassen kann. Es sollten epidemiologische Daten lokal und regional erfasst werden, um eine Fehlallokation von knappen Mitteln im Gesundheitsbereich zu vermeiden.
Die Heidelberger Forschergruppe wird mit ihren Kooperationspartnern diese Fragen weiter verfolgen. Das CRSN ist Mitglied in einem Zusammenschluss von 14 afrikanischen Feldstationen. Derzeit wird gemeinsam eine standardisierte Methodologie für demographische Überwachungssysteme, verbale Autopsien und damit die Erstellung epidemiologischen Datenmaterials erarbeitet. Somit ist zu erwarten, dass über kurz oder lang für verschiedene geographische, klimatische und ökonomische Gegebenheiten Daten über die Krankheitsbelastung nach Ursache zur Verfügung stehen werden, auf die afrikanische Gesundheitsministerien abhängig von ihrer eigenen Situation zurückgreifen können.
Zu Beginn diesen Jahres wurde darüber hinaus das demographische Überwachungssystem auf 41 Dörfer und die Provinzhauptstadt Nouna erweitert. Damit verfügen wir nun nahezu über den doppelten Stichprobenumfang und eine semi-urbane Erhebungsregion, die voraussichtlich ein etwas anderes Krankheitsmuster aufweist. Schließlich wurde Mitte diesen Jahres zusätzlich ein Haushaltspanel eingerichtet: Knapp 800 Haushalte wurden zufällig ausgewählt, die vier mal jährlich nach ihrer Morbiditätssituation und zwei mal jährlich nach demographischen und sozio-ökonomischen Charakteristika befragt werden. Diese Bemühungen lassen darauf hoffen, die augenblickliche Krankheitsbelastung in den nächsten Jahren noch besser beschreiben zu können und weitere Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Wohlstand und Gesundheit und Armut und Krankheit zu erzielen.
Autoren:
Prof. Dr.
Christoph M. Schmidt und Dipl.-Volkswirt Ralph Würthwein
Alfred
Weber-Institut, Grabengasse 14, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54
31 03, Fax (0 62 21) 54 36 40, e-mail: schmidt@uni-hd.de