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Riten und Rituale – ein Kulturenvergleich

In allen alten und neuen Gesellschaften lassen sich Menschen verheiraten, auf irgendeine zeremoniös gestaltete Weise bestatten, nicht wenige beten, opfern, pilgern, feiern Götter- und Gottesdienste, Geburtstage, Jubiläen und Examina. Unter dem Motto "Ritualdynamik" beschäftigt sich ein interdisziplinärer Arbeitskreis der Universität Heidelberg mit der Erfindung, dem Wandel und der Wirkung von Ritualen in verschiedenen Kulturen. Dietrich Harth, der Sprecher des Arbeitskreises, erläutert die Forschungsarbeiten und gibt interessante Einblicke in die mannigfaltigen Erscheinungsformen rituellen Handelns und Verhaltens. Das Projekt wurde kürzlich in die "offiziellen Beiträge zum Internationalen Jahr der Vereinten Nationen: Dialog zwischen den Kulturen" aufgenommen.

Debatten über Sinn und Unsinn von Ritualen sind nicht erst seit der Walser-Bubis-Polemik wieder aktuell. Und es ist auch nicht nur die andauernde Auseinandersetzung über Ort und Gestalt gewisser Denk- und Mahnmale, die Vorbehalte gegenüber Reichweite und Funktion der ans Monument gebundenen Erinnerungsrituale in der Öffentlichkeit laut werden lässt. Die Erfahrung der rituellen Konditionierung des kollektiven Pathos im NS-Staat hat verständlicherweise die Fusion zwischen Kult und Politik in Verruf, ja in den Verdacht bewusst geplanter Verdummungsstrategien gebracht. Einrichtung und Fortbestand moderner demokratischer Systeme seien – so lautet ein anderes Argument – auf Vertrags-, Verfassungs- und Rechtsordnungen, nicht aber auf Rituale angewiesen. "In einer Kultur, die allenthalben auf die bedarfsgerechte Anpassung von Regeln setzt", heißt es in einem Zeitungsartikel über die Rolle der Zivilreligion in säkularen Gesellschaften, "haben solche Riten etwas Anstößiges, die als ,heilige Handlungen' vom Himmel gefallen zu sein scheinen."

Den Ritualkritikern lässt sich jedoch erwidern, dass sich das für überflüssig und bedenklich Gehaltene in allen Lebenszusammenhängen dauerhaft und zäh behauptet. In allen alten und neuen Gesellschaften ließen und lassen sich Menschen initiieren, verheiraten und auf irgendeine zeremoniös ausgestaltete Weise bestatten; nicht wenige beten, opfern, pilgern, feiern Götter- sowie Gottesdienste oder ähnliche liturgische Feste und singen inbrünstig Litaneien. Nach immer gleichen Mustern zelebrieren sie Geburtstage, Jubiläen, Examina, weihen Kinder, Häuser, Schiffe und andre Vehikel. Sie formalisieren und rhythmisieren in leibhafter Weise Grußformeln, Purifikationen, Therapien und Arbeitsprozesse, gesellschaftliche Auseinandersetzungen sowie Wettkämpfe jeder Art und zementieren oder initiieren Herrschaftspositionen mit "Ritualen der Macht" (Michel Foucault).

Übergangs-, Schwellen- und Initiationsriten gehören zu allen individuellen und kollektiven Lebensgeschichten, ja sie funktionieren geradezu wie Scharniere im Verkehr zwischen privatem und öffentlichem Raum. Niemand, der nicht irgendein Initiationsritual, zum Beispiel eine Prüfung und Anfangssetzung an der Schwelle vom Jugend- zum Erwachsenenalter, vom Lehrling zum Meister oder vom Studiosus zum Doktor, mit eigenem Leib vollzogen hätte.

Der Mannigfaltigkeit in den Erscheinungsformen korrespondiert ein vielseitiger und vieldeutiger, kaum zu überblickender Sprachgebrauch. Wie zahlreiche andere normalsprachliche Vokabeln werden "Ritual" und "Ritus" mit unterschiedlichen – positiven wie negativen – Vorzeichen auf Sachverhalte bezogen, die im Rahmen ganz gewöhnlicher, eben alltäglicher Aktionszusammenhänge auftreten. Da ist beispielsweise die Rede vom immer wiederkehrenden, daher ,leeren' Ritual politischer Dementis, oder von den ,undurchsichtigen' Ritualen der Bürokratie, während der Gebrauch von "Ritus" eher auf die Vollzugsregeln liturgischer, meist religiöser Kulte und Feiern (Messe) beschränkt bleibt.

In manch anderen, vom Alltag keineswegs deutlich zu unterscheidenden Sprachpraktiken fallen solche Wertsetzungen nur gering oder kaum ins Gewicht: Ein tierischer Verhaltenstypus (Balz), eine Markierung sichtbar wiederkehrenden Körperausdrucks im Kinderspiel oder die automatische Wiederholung konventioneller Sprachgesten während einer öffentlichen Rede lassen sich als "rituelles" beziehungsweise "ritualisiertes" Handeln und Verhalten beschreiben.

In jedem Fall bemerkt der Beobachter im Verhalten und Handeln eine Art repetitives Muster, dessen Ausführung – so lautet dann häufig die Annahme – sich der geistesgegenwärtigen Aufmerksamkeit der Akteure entzieht. Sie handeln nicht wie der Schauspieler, der zwischen Selbst und Rolle unterscheidet, um Erfahrung darzustellen; sie leben die Rolle und somit die auf solche Weise schematisierte Erfahrung, auch wenn das Verhalten dem Beobachter hin und wieder wie etwas Inszeniertes und insgeheim Durchdachtes erscheinen und ihn dazu bringen mag, die Sache als etwas durch und durch Ambivalentes zu deuten: das Formelhafte rituellen Handelns als Indiz für Depersonalisation und Exklusivität zugleich. Denn die Person, die ernsthaft das Ritual vollzieht, gibt damit zu erkennen, dass sie einer bestimmten, von anderen sich abhebenden kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Ordnung angehört, eine gestisch und semiotisch gestaltete Form der Abgrenzung, die bis zur feindlichen Ausgrenzung des Andern gesteigert werden kann.

Diese hier an Alltagserfahrungen anschließende Charakteristik rituellen Handelns betont einige Verhaltensmerkmale, die es nahe legen, den dramaturgischen Handlungstyp "Ritual" von den Typen des instrumentellen, des strategischen, des kommunikativen und gespielten Handelns zu unterscheiden, ohne auf diese Weise mögliche Wechselbeziehungen abschneiden zu wollen. Im Gegenteil: Diese lassen sich überhaupt erst auf Grund solcher Unterscheidungen erkennen und interpretieren. Wenn es so etwas wie eine spezifisch "rituelle Kompetenz" (Erving Goffman) gibt, muss gefragt werden, wie sie tradiert, erworben und verändert wird. Nicht zuletzt aber erhebt sich die Frage nach dem, was denn nun, außer bestimmten formalen Eigenschaften die Ritualpraxis vor andern Erscheinungsformen sozialen Handelns auszeichnet.

Solche Fragen berühren wesentliche Punkte des geplanten Forschungsprojekts. Es ist unwahrscheinlich, so lautet eine der Arbeitshypothesen, dass die rituelle Kompetenz ganz unabhängig von anderen Handlungskompetenzen erlernt und weiter ausgebildet wird. Ja die Unterscheidung hat zumindest im Rahmen jener Pseudo-Speziation, die der Anthropogenese zu Grunde liegt, den Geschmack des Nachträglichen. Kompetenzen sind das Resultat von Lernprozessen, und diese vollziehen sich – betrachtet man vor allem den Typus des mimetischen Lernens – in Wiederholungs- und Einverleibungshandlungen, die sich unter dem Titel eines "Ritualschemas" subsumieren lassen, das es den Heranwachsenden/Lernenden erlaubt, nach und nach die Sicht einer als ,Eigenbesitz' empfundenen Welt zu entwickeln, in der individuelle und soziale Identität konvergieren.

Es ist daher zu prüfen, ob die allgemeine rituelle Kompetenz nicht in einem Zug mit dem auf mimetische Art vollzogenen Erwerb bestimmter Geschicklichkeiten beziehungsweise besonderer Herstellungs- oder Handlungs- und Symbolisierungskompetenzen ausgebildet wird. Es mag an dieser Stelle genügen, auf die sozialpsychologischen und anthropologischen Bedeutungen eines handlungstheoretisch disziplinierten Ritualbegriffs lediglich hinzuweisen, um – ganz im Sinne einer den Anfang bestimmenden produktiven Komplexitätssteigerung – der Vorstellungskraft den Reichtum transdisziplinärer, d.i. fächerübergreifender Beziehungen vor Augen zu rücken. Wo es viele unterschiedliche Frage-Ebenen gibt, wo ein Begriff den Schlüssel zum Netzwerk der Kulturen und Gesellschaften bildet, dort sind die Wissenschaften zur konzertierten Aktion aufgefordert.

Vom Standpunkt einer scheinbar entritualisierten Moderne erscheinen dem historisch interessierten Rückblick manche frühen Kulturen wie reine Verkörperungen einer ritualistischen Mentalität. Tatsächlich wurden in der vorkapitalistischen Welt urbane Kulturen als Zentren ,segmentärer Staaten' architektonisch und städtebaulich so konstruiert, dass ihr umbauter Raum, soweit er sich aus den Überbleibseln überhaupt wieder zusammensetzen lässt, durchaus als ein mit allen Sinnen wahrnehmbarer Ritualschauplatz zu deuten ist, dessen Ausstrahlung über die Stadtgrenzen hinausging. Tempel- und Palastanlagen lagen oft ebenso eng zusammen wie der Königskult und das religiöse Ritual, und diese Nähe wurde sichtbar in der zentralen Lage der weltlich-religiösen Macht, deren ritueller, an entsprechende Kultorte und -symbole geknüpfter ,Magnetismus' bis weit in die Peripherie hinein wirksam war. Die Verbindung zwischen Ritual und Architektur (Triumphbögen, Tempel, Kirchen, Kremationsorte, Prozessionswege, Aufmarschplätze etc.) mag daran erinnern, dass jedes Ritual etwas mit topographischen beziehungsweise kartographischen Landnahmen, mit bauintensiven Arbeitsprozessen und mit dem Einsatz ökonomischer sowie materieller Ressourcen zu tun hat, Aspekte, die eine systemische Kontextanalyse ritueller Phänomene nicht vernachlässigen darf.

Die mit diesen Hinweisen nur angedeutete Komplexität des Forschungsgegenstandes mag manchen populären Voreingenommenheiten widersprechen. Ist doch nicht selten die vereinfachende Rede zu hören, Rituale seien nun einmal ,stereotype', ,statische' und ,erstarrte' Aktionsformen und mithin Ausdruck einer konservativen beziehungsweise rückwärtsgewandten, am Status quo ante klebenden Gesinnung. Das ist sicher nicht ganz falsch; insbesondere im Fall religiöser Rituale, denen es ja häufig darauf ankommt, Glaubenssätze und -texte der Gemeinde auf dem Weg solcher streng geregelten Kult- und Ritualhandlungen einzuverleiben, deren Code als unantastbar, als ,heilig' gilt.

Aber dieses Urteil ist auch nicht ganz richtig, da erstens kein Ritualvollzug völlig dem andern gleicht, zweitens Rituale wie jedes andere Handeln auch langfristig kontingenten Veränderungen ausgesetzt sind und daraus drittens folgt, dass der Beobachter der Ritualhistorie einer Kultur – jedes Ritual hat eine bestimmte, in die kulturelle Ordnung eingreifende Geschichte – mit Neuerfindungen und Gegenbewegungen (Anti-Rituale) rechnen muss. Und oft werden hier Synkretismen sichtbar, die der Vermutung Recht geben, kein Ritual könne – wie ,heilig' es auch immer gehalten wird – als absolut ,reine' und ,ursprüngliche' Stiftung gelten, obwohl genau das gern als ein konstitutives Kriterium für rituelle Praktiken ins Feld geführt wird. Rituale, so lautet dann das Argument, seien Stiftungen ohne individuellen, historisch identifizierbaren Urheber; es sei denn, man bezieht ihren Ursprung auf eine bestimmte sakrosankte Überlieferung, einen legendären Religionslehrer oder eine metaphysische Instanz.

Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Wenn der Präsident der Arabischen Republik Syrien, Hafis al-Assad, lange vor seinem eigenen Tod seinem in einem Unfall getöteten Sohn Basil einen Totentempel als Ort eines besonderen, die dynastische Nachfolge sakralisierenden Rituals der Macht errichten lässt, so knüpft diese ,Erfindung', die zugleich die verwandelnde Übernahme schiitisch-alawitischer Ritualgebräuche einschließt, zwar an Hergebrachtes an. Aber durch eben dieses Manöver verändert die ,Erfindung' die Symbolik der religiösen Ritualtradition grundlegend im Sinne einer politischen Funktionsverschiebung, an deren Ende der Kult einer das Muster sakral legitimierter Königsherrschaft nachahmenden Familie steht.

Wie anhand zahlreicher ähnlicher Beispiele zu belegen wäre, entspricht eine solche Ritual-,Erfindung' dem, was das lateinische Wort "inventio" aussagt: die Setzung eines Neuanfangs durch die Kombination heterogener, aber traditionell verankerter Symbolisierungs- und Inszenierungshandlungen, deren usrpüngliches, als "rite de passage" (Schwellen- und Übergangsritual) lesbares Schema sich zudem in der Dämmerung einer sehr weit zurückliegenden Vergangenheit verbirgt.

Auch das Paradox, die Anfangssetzung – es geht um die Sichtbarmachung dynastischer Herrschaftslegitimation, da Assad vorausschauend seinen zweiten Sohn als Nachfolger in den Personenkult einbezogen hat – auf einen Totenkult zu gründen, gehört ins Arsenal der ältesten und verbreitetsten Machtrituale. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, übrigens eine Signatur zahlloser Riten und Rituale, ist in diesem Fall mit Händen zu greifen und lässt sich einmal mehr zur Verteidigung der These heranziehen, dass sozio-ökonomische Modernisierung und vormoderne Ritualpraktiken einander keineswegs ausschließen. Unser zweites Beispiel bezieht sich auf die ,Erfindung' von Gegen-Ritualen. Der in vielen Ländern Afrikas geübten weiblichen Beschneidung (circumcisio) liegt keine religiöse Symbolik zu Grunde, sie gilt vielmehr als Initiationsritus, der buchstäblich auf der Schwelle des Elternhauses, das heißt: an der Schwelle zum Erwachsenenstatus vollzogen wird. Es hat sich gezeigt: Gesetzliche Verbote haben an dieser die Unversehrtheit des Leibes missachtenden Ritualpraxis nicht rütteln können. In Kenia hat daher eine Frauenorganisation als Gegen-Ritual ein fünf Tage währendes Initiationsfest ins Leben gerufen, das den Übergang ins Erwachsenenleben ohne physische Verstümmelung, aber unter Beteiligung der gesamten Dorfjugend vollzieht. Initiationsrituale gelten in allen Gesellschaften als Garanten der sozialen oder Gruppen-Identität. Sie abzuschaffen, das lehrt das afrikanische Beispiel, zerstört den traditionsvermittelten kollektiven Integrationsprozess, während das Alternativ- oder Gegen-Ritual diesen Prozess ohne gewaltsam zugefügte Anpassungsschmerzen aufrecht erhält.

Viele, wenn nicht sogar die meisten Rituale beruhen auf Gewohnheit und fordern daher kaum mehr Aufmerksamkeit und Bewusstheit als eine Alltagsroutine, mit der sie nicht zu verwechseln sind. Gewiss ist das einer der Gründe, warum die Akteure des Rituals auf die Frage nach dem Warum und Wozu ihres Tuns meist keine Antwort wissen. Für Gewohnheit sagen wir auch ,Sitte' oder ,Brauch' und umschreiben mit diesen Vokabeln das Zusammenleben gleichsam wie das ,Bewohnen' eines gemeinsamen Hauses mit einer von den Bewohnern anerkannten und, wie es scheint, von Generation zu Generation weitergegebenen Ordnung. Just diese Aneignung läuft zu einem guten Teil über jene teils spielerisch, teils pädagogisch induzierten Akte der Einverleibung, die sich als "Ritualisierungen" des Verhaltens beschreiben lassen.

Apollon mit Leier beim Trankopfer
Apollon mit Leier beim Trankopfer (Quelle : Antikenmuseum des Archäologischen Instituts, Universität Heidelberg)

Eine Spur in die moralphilosophischen Regionen des Projekts legt das Wort "Ethos", das altgriechische Äquivalent für Gewohnheit, Brauch, Sitte. Denn das Ethos einer Person verkörpert sich in ihrer am Maßstab einer allgemein geltenden ,Richtigkeit' zu messenden Haltung, eine vom Gedanken an das ,rechte Tun' und somit von ethischen Idealen begleitete Vorstellung. "Ritualisierung" bedeutet vor diesem Hintergrund das körperlich disziplinierende Einüben – das Einverleiben – des Richtigen und Rechten, sei es auf der Ebene des Kinderspiels, sei es auf der Bühne der politischen Machtdemonstration, sei es in der Konkurrenzsituation wissenschaftlicher Urteilsbildung.

Wird das Ethos im Sinne des Gewohnten als ein Produkt jener Ritualisierung verstanden, die das Subjekt an die bestehenden kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Ordnungen anpasst, so bleiben allerdings zwei wichtige Fragen offen: Erstens, worin ist die Freiheit der Person begründet, die rituell konditionierte, zur Gewohnheit gewordene Haltung (Ethos) zu verändern? Zweitens, in welchem Maß und auf Grund welcher Funktionen sind Rituale und Ritualisierungen am Wandel des Beständigen beteiligt? Beide Fragen sind eng miteinander verquickt. Denn die Freiheit der Person steht in unmittelbarer Wechselbeziehung mit der allgemeinen Ordnung, während diese im Zuge eines jeden einzelnen Interaktionsereignisses – im Sinne der linguistischen "performance", die Reden und Handeln identifiziert – mehr oder weniger folgenreich ihren Systemcharakter verändern kann.

Auf diesen Gesichtspunkt verweist auch der für unser Projekt maßgebende Schlüsselbegriff "Ritualdynamik". Die semantischen Indizes dieses Terminus deuten in zwei unterschiedliche, aber korrelative Richtungen:
– Der erste Index gilt den dynamischen Veränderungen der Rituale durch die Autoren, Gruppen und Institutionen, die an den Ritualinszenierungen und -ausführungen beteiligt sind. Sie müssen nicht mit den Repräsentanten der politischen, religiösen oder einer anderen, hier nicht näher zu bestimmenden Zentralmacht identisch sein, sondern können aus peripherer Position ihrerseits Veränderungen im Zentrum bewirken. Entscheidend sind die normativen Vorgaben des rituellen Handelns in der Gruppe, die wir unter dem Terminus "Skript" zusammenfassen wollen; das können schriftliche Überlieferungen oder auch mündlich tradierte Handlungsmuster sein.
– Der zweite Index verweist auf die Veränderungen, die – sei es mit stabilisierender, sei es mit destabilisierender Wirkung – im kulturellen, sozialen, ökonomischen, politischen Ordnungsgefüge der jeweiligen sozialen Einheit durch den Vollzug des rituellen Handelns hervorgerufen werden. Wir bezeichnen diesen Index mit dem Terminus "Performanz", um damit anzudeuten, dass die Durchführung eines jeden Rituals "in actu" – d.i. die eigentliche Ritualpraxis – einen kontingenten, die Normen der Skript-Vorgabe transformierenden Effekt erzeugt.

Darüber hinaus kreuzen sich zwei analytische Linien im Rahmen unseres Projekts: die Linie der Synchronie, die systemische Querschnittanalysen bezeichnet und die der Diachronie, ein Sinnbild für jene Längsschnittanalysen, die dem historischen Gestalt- und Funktionswandel bestimmter Rituale auf den Grund gehen wollen. Unter mikrostrukturellen Voraussetzungen heißt das: Die Auswertung der vor Ort des Ritualgeschehens gesammelten Beobachtungen ist in allen Fällen auf historische Recherchen angewiesen, während die auf schriftliche und bildliche Zeugnisse zurückgreifende historische Forschung die mögliche Form der einst aktuellen Ritualgestalt auf einer Ebene fiktiver Gleichzeitigkeit herstellen muss.

Unter makrostrukturellen Voraussetzungen bedarf diese Perspektivenkreuzung einer großzügigeren theoretischen Begründung. Diese entnehmen wir einer universalhistorischen Konzeption, der "World-system theory", die zu vermitteln sucht zwischen (a) den lokal beziehungsweise regional orientierten, synchrone Schnitte legenden Einzelanalysen und (b) den makrohistorischen, die Phasen einer langfristigen kulturellen Evolution skandierenden idealtypischen Konstruktionen.

Um in allen geplanten Teilprojekten und Projektgruppen von einem gemeinsamen, nach analogen Kriterien strukturierten Objektbereich ausgehen zu können, werden sich die Einzelforschungen vor allem auf solche Aktionsformen beziehen, die sich als "Rituale der Macht" beschreiben lassen. ,Macht' ist in dieser Verbindung als "potestas" zu verstehen; will sagen: als eine Form der Herrschafts- und Machtausübung, die zum einen in den institutionellen Gehäusen etwa der politischen und/oder religiösen Systeme verdinglicht ist, zum andern aber in den Medien des Rituals, des Zeremoniells und der Ritualisierung jene dynamische und öffentlich manifeste Gestalt annimmt, die von der beteiligten Elite und Gruppe nicht allein als Darstellung oder Inszenierung, sondern vor allem als Vollzug von Machtsymbolisierung, Herrschaftslegitimierung und Vergegenwärtigung überpersönlicher Kräfte (im Sinne des "mana") intendiert und erfahren werden kann. Rituale der Macht sind indessen nur die eine Seite des allgemeinen Ritualgeschehens, sie rufen – heute mehr denn je – Rituale des Widerstands hervor. Und auf eben dieses Spiel von Aktion und Reaktion, hinter dem sehr oft eine konfliktgeladene Auseinandersetzung zwischen den kulturgeographischen Segmenten der Peripherie, der Semi-Peripherie und des Zentrums steht, haben die geplanten Forschungen ein ganz besonderes Augenmerk.

Es sind also nicht die üblichen Sachverhalte – Strukturen und Ereignisse – individueller, national eingehegter Kulturgeschichten, die unser Forschungsobjekt bilden sollen. Angestrebt ist vielmehr eine vergleichende, regional, interregional und evolutionär fundierte Geschichte jener ausnahmslos in allen Kulturen auftretenden Handlungstypen, die nach Maßgabe der oben angedeuteten Kriterien als ritualdynamische Phänomene zu begreifen sind. Diesem Ziel sich anzunähern, ist nur im Rahmen einer intensiven, fächerübergreifenden Kooperation möglich. Das Heidelberger Projekt besitzt dafür die besten Voraussetzungen: Auf globaler Ebene berührt es sich mit den von der Unesco erhobenen Forderungen, das lebendige und das traditionelle Weltkulturerbe zu bewahren, denn Rituale bilden in allen Kulturen gleichsam den Inszenierungsrahmen der heilig gehaltenen Orte und Monumente und sind zugleich die wirksamsten Energiespender für jene Popularkulturen, die alles einschließen, was im Namen einer überpersönlichen Kraft oder Idee in liturgisch geordneter Gestalt auftritt.

Auf der lokalen Ebene ist der Arbeitskreis gut auf die Aufgaben vorbereitet, da seit langem Diskussions- und Arbeitskontakte zwischen verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen – Altertumswissenschaften, Literatur- und Religionswissenschaft, Geschichte, Ethnologie, Theologie, Archäologie und Indologie, neuerdings medizinische Psychologie, Politik- und Erziehungswissenschaft – zum akademischen genius loci Heidelbergs gehören. Die Palette der in das Projekt integrierten Einzelforschungen ist bunt; sie umfasst Ritualerfindungen in indischen, nepalesischen und japanischen Lebenswelten, Heilrituale in Asien und Europa, altägyptische Totenrituale, rabbinische Opferrituale, Macht- und Religionsrituale in der griechisch-römischen Antike, Ritualmissbrauch in totalitären Systemen, die rituelle Instrumentalisierung von Kunst und Literatur und nicht zuletzt die Ritualisierung des Holocaust-Gedenkens.

Die Zusammenarbeit im Arbeitskreis "Ritualdynamik" hat bereits zu zwei international besetzten, thematisch relevanten Symposien geführt, die im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität stattgefunden haben. Geplant sind weitere, mittelfristig zu realisierende gemeinsame Veranstaltungen (zum Beispiel die Ringvorlesung des Wintersemesters "Riten und Rituale im Leben der Kulturen"), verschiedene Formen der internationalen Kooperation und eine Reihe von Veröffentlichungen zum Thema, die jüngst mit dem vielsagenden Titel "Im Rausch des Rituals" (herausgegeben von Klaus-Peter Köpping und Ursula Rao) eröffnet worden ist.

Autor:
Prof. Dr. Dietrich Harth, Germanistisches Seminar, Hauptstraße 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 32 07, Fax (0 62 21) 54 32 55, e-mail: harth@uni-hd.de

 

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