Aus der Stiftung Universität Heidelberg
Vierzig Vertreterinnen und Vertreter der Theologie, Religionswissenschaften, Soziologie, Literaturwissenschaften, Spezialisten für Medientheorie und Ritualtheorie sowie in der praktischen Medienarbeit erfahrene Gäste aus aller Welt trafen sich im vergangenen Jahr im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg. Das Ziel der von der Stiftung Universität Heidelberg finanziell unterstützten Veranstaltung war es, die seit Jahren diskutierte Frage: "Hat das Fernsehen in der modernen Gesellschaft als Ort öffentlicher Symbolisierung Funktionen und kulturelle Formen von Religion übernommen?" von verschiedenen fachwissenschaftlichen Diskussionsansätze her zu differenzieren. Dies erfolgte in vier Spezifikationen:
1. Bewirkt die Evolution des Fernsehens Wandlungen der Religiosität in der Mediengesellschaft?
Knut Hickethier (Hamburg) beleuchtete den Übergang dominierender Fernsehangebote von "geschlossenen" zu "offenen" Formen. Die geschlossenen Formen der Fernsehfilme – an klassischer Literatur und am klassischen Theater orientiert – präsentieren einen bestimmten Handlungszusammenhang und unterstellen eine bestimmte "höhere Ordnung", die sie affirmieren. Die offenen Formen der täglich präsentierten "soap opera" und "shows" präsentieren einen Fluss von Unterhaltungs- und Betroffenheitseffekten, über die fließende Normenzusammenhänge und Weltbilder vermittelt werden. Sinnstiftung, Orientierung und Integrationsformen werden potentiell ständig umgebaut. Der Rezipient wird zum "Programmdirektor", aber auch zum "Voyeur" (Wolf-Rüdiger Schmidt).
James Carry analysierte die Auflösung klassischer Patterns und die Ablösung von kirchlichen, nationalstaatlichen und historisch gewachsenen Strukturen, was zu einem "belief without belonging" führe. Stewart Hoover bezeichnete die Soaps als Katalysatoren in der Neudefinition sozialer und familialer Rollen. Interessant war in diesem Zusammenhang die von Elihu Katz wiederholt in die Diskussionen eingebrachte These, dass die erfolgreichsten Soaps eine starke Bindung an Themen und Formen der kanonischen biblischen Überlieferungen aufwiesen.
Günter Thomas plädierte dafür zu prüfen, ob das Fernsehen nicht mit der für es charakteristischen Programm-Liturgie einen Integrationshorizont für pluralistische und nachmoderne Gesellschaften bereitstelle. Wird hier nicht eine "Kosmologie für nachmoderne Gesellschaften" angeboten, die sich durch die Fähigkeit, eine Fülle anderer Symbolisierungsprozesse in sich abzubilden, auszeichnet? Ist es diese Leistung, mit der sich das Fernsehen weltweit so resonanzstark imponiert? Burkhard Gladigow zeichnete den Prozess von der Lesbarkeit der Religion zum "iconic turn" nach. Mit Hickethier, Carey und Hoover stellte er einerseits eine mit dem "iconic turn" einhergehende "Deregulierung des religiösen Marktes" fest. Mit Thomas sah er andererseits den Aufbau einer neuen Kontextualität und "Parallelwelt" durch die "Fernsehgemeinde" gegeben.
2. Bedient sich die mediale Produktion von "Media-Events" und medialer Auren im Fernsehen religiöser und mythischer Formen?
Die Frage, ob sich die mediale Produktion von Media-Events und medialer Auren im Fernsehen religiöser und mythischer Formen bediene, wurde von Kristin Bleicher mit der These beantwortet, es gebe eine TV-Mythologie. Das Fernsehen sei eine "Erzählmaschine", die zum Beispiel auf das Bedürfnis nach Reaffirmierung der eigenen Wertsysteme ausgerichtet sei. Michael Real beschrieb den Aufbau eines Mythos und die ritualisierte Praxis des Umgangs mit ihm im Blick auf die "Diana-Story" und vertrat die These, dass die Medien einerseits unsere Werte zu definieren helfen, dass wir andrerseits unsere Moralen im medienbegleiteten individuellen und gemeinsamen Erleben stetig verändern. Zu beachten seien die Transformationsbeschleunigung und die Zielunsicherheit im medienbestimmten Wandel der Wertsysteme gegenüber der religiösen Prägung.
Spezifische Theorien des Mythos und des Rituals vertraten Ben Bachmair und Carolyn Marvin. Der Mythos, so Bachmair, integriere die Wirklichkeit und ihren Doppelgegensatz, nämlich "Himmel und Hölle". In Moderne und Nachmoderne träten "Utopie und Horror" an deren Stelle (beispielsweise "Rambo", "Wrestling" und tabuverletzungssüchtige Talkshows). Carolyn Marvin vertrat die These, dass die elektronischen Medien ein Anliegen aller Rituale wahrnehmen: den Fluss der Zeit zu unterbrechen, Abwesendes zu vergegenwärtigen und ein Gedächtnis zu stiften, das der Restauration leiblichen Lebens diene. Allerdings richteten sich die Medien nicht auf Gruppen mit festen Selbstbindungen aus, sondern auf unbeständige Gemeinschaften. Die Diskussionen im Anschluss an diese Beiträge legten aber Differenzen zwischen nordamerikanischen und deutschen Medienkonsumenten frei. Sowohl das Interesse an "Szenarien des Horrors" als auch die Bereitschaft, mit fließenden Formen und Inhalten des kollektiven Gedächtnisses zu leben, wurde von den nordamerikanischen Medienforschern deutlicher der Unterschicht zugerechnet als von den deutschen.
3. Weist die Rezeption des Mediums Fernsehen rituelle Formen auf, die religiöse Züge annehmen?
Die Frage, ob die Rezeption des Mediums Fernsehen rituelle Formen aufweise, die religiöse Züge annehmen, wurde von Daniel Dayan zögernd bejaht. In einer Untersuchung zur Emergenz medialer Öffentlichkeiten beschrieb er "Morphologisierungen" von Ereignissen durch das Fernsehen, die den Rezipienten Empfindungen der "Pilgerschaft zum Zentrum", des Zugangs zu "heiligen Räumen" und der Partizipation an zeremoniellen Ereignissen suggerieren. "Metaphysical seductiveness"nannte er diese Einflussnahme auf die Rezeptionsmentalitäten. Dass jedenfalls die deutschen Fernsehprogramme ganz bewusst in pastorale Räume eindringen, zeigte Jo Reichertz. Die Bereitschaft von Menschen, kirchliches Handeln auf das Fernsehen zu übertragen beziehungsweise von ihm abzurufen, wird, etwa in Medienhochzeiten (mehrere Hundert in den letzten Jahren in Deutschland) zur Resonanzsteigerung des Mediums genutzt. Reichertz beobachtete: Mehr und mehr Menschen streben in die Studios, um dort "ihr Leben zu verändern" beziehungsweise dort – etwa in Talkshows – "Vergebung zu erfahren". Die "frohe Botschaft" der Television brachte er auf die Formel: "Wir lösen alle Probleme. Alles wendet sich zum Guten. Das Fernsehen ist für die ganze Menschheit da. Es ist immer jemand da, der hilft und zuhört." Auch hier bekundeten die nordamerikanischen und israelitischen Medienbeobachter größere Skepsis. Sie wiesen auf die "sekundäre Viktimisierung" der Talkshow-Opfer vor einem voyeuristischen Publikum hin. Daneben löste der Beitrag deutliche Immunreaktionen auf Seiten der deutschen Medienpraktiker aus, die sich offensichtlich den "pastoralen Markt" nicht schmälern lassen wollen.
Angela Keppler plädierte demgegenüber dafür, die hohen Standards der Religion im Vergleich mit dem Fernsehen nicht aus dem Auge zu verlieren. Weder der Anschluss an einen Bestand substantieller Glaubensinhalte noch an spezifische Traditionen sei beim Fernsehen gegeben. Bestenfalls kleinkalibrige Transzendenzen und fiktionale moralische Räume könne das Medium aufbieten. Sowohl Lothar Mikos als auch Don Handelman machten auf die Familienbezogenheit des Fernsehens aufmerksam, und zwar nicht nur inhaltlich, etwa auf Grund der hohen Anteile virtueller Familiengeschichten am prime-time Programm. Die Fernsehrituale müssten als "dichte Orte" von Familien- und Gruppenerfahrungen angesehen werden. Kontrovers wurde die These diskutiert, dass das Fernsehen die Menschen immerhin unter einem Dach halte, auch wenn in verschiedenen Zimmern verschiedene Programme liefen. Gegenüber dieser vor allem von amerikanischer Seite vertretenen These wurde auf die Zerstörung oraler Kommunikation und Tradition und des damit verbundenen Familienlebens durch das Fernsehen in vielen Weltgegenden hingewiesen (Theo Sundermeier). Auch hier zeichnete sich ein wichtiges – in kulturvergleichenden Perspektiven zu erschließendes – Forschungsgebiet der Zukunft ab.
4. Hat die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der spätmodernen Gesellschaften durch audiovisuelle Medien greifbare religiöse und normative Implikationen?
Als ein noch kaum bebautes Forschungsfeld erwies sich die Fragestellung, ob die Selbstbeschreibung der spätmodernen Gesellschaften durch audiovisuelle Medien greifbare religiöse Implikationen habe. Deutlicher absehbar hingegen waren die normativen Implikationen, die vor allem mit der Karriere "offener Formen" in den Medien verbunden sind. Albrecht Grötzinger brachte dies auf die Formel: praescriptive normative Lebensgeschichten würden von den Medien durch attraktive Lebensgeschichten ersetzt. Sehr skeptisch blieb die Sicht von Siegfried J. Schmidt: Die Medien instrumentalisierten die religiösen Symbole und Formen, um ihre eigenen Resonanzbedürfnisse zu befriedigen. Ihre notorische Fixierung auf "das Neue" sei der Kultur ebenso abträglich wie die Typisierung und Homogenisierung der Erlebensstile und Erkenntnisformen, die sie provozieren: "Was immer die Medien berühren – das wird Soap!"
Alle Perspektiven auf den vierten Themenkomplex blieben aber klar erkennbar Thesen und Vermutungen. Die deutlichen – und zahlreichen – Erkenntnisfortschritte lagen auf den anderen Gebieten. Doch sowohl die Erkenntnisfortschritte im Detail als auch die mehr oder weniger gewagten Hypothesen über komplexe kulturelle Entwicklungszusammenhänge waren und sind hilfreiche Impulse für die weitere interdisziplinäre Erkundung des unübersichtlichen Geländes zwischen den Medien und den Religionen in unseren Gesellschaften.
Autor:
Prof. Dr. Dr. Michael Welker
Direktor des Internationalen Wissenschaftsforums der Universität Heidelberg