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Land, Leute und Literatur

Langsam beginnt sich neben einem Europa der Nationen auch ein Europa der Regionen zu etablieren – eine Vorstellung, die historisch eindeutig die ältere ist. Um sie wieder ins kulturelle Gedächtnis zu rufen, haben Literaturwissenschaftler der Universität Heidelberg gewaltige Berge mittelalterlicher Texte vom Liebeslied bis zur theologischen Abhandlung aus den österreichischen Ländern zusammengetragen und studiert. Statt einer nationalen Literaturgeschichte ist so eine regionale Zusammenschau entstanden. Sie ermöglicht es erstmals, historische Fäden zu verknüpfen, die getrennt von verschiedenen Fächern gesponnen wurden. Fritz Peter Knapp vom Germanistischen Seminar beschreibt das engagierte Projekt und erläutert an Beispielen, welche literarische und kulturelle Landschaft sich dem Auge des gebildeten Zeitgenossen in jener Region im Mittelalter dargeboten haben mag.

Literaturgeschichtsschreibung ist wieder in Mode gekommen in Deutschland. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren hatte die zünftige Literaturwissenschaft, außer der marxistischen, über diese Tätigkeit nur noch die Nase gerümpft, sich der allgemeinen Texttheorie in all ihren Spielarten in die Arme geworfen und höchstens eine literarische Reihe von Texten als historisches, aber der allgemeinen Geschichte enthobenes Phänomen für darstellenswert erachtet. Ganz kamen literatursoziologische Erwägungen auch außerhalb des real existierenden Sozialismus freilich niemals ab. Insbesondere die Altgermanistik stand weithin unter dem Eindruck der Arbeiten des Heidelberger Altromanisten Erich Köhler, aber erst Karl Bertaus Literaturgeschichte von 1973 markiert die Wende. Inzwischen liegen gleich mehrere umfassende Überblickswerke zur deutschen Literatur des Mittelalters vor, manches davon noch als Torso.

Alle tragen sie den Titel "Geschichte der deutschen Literatur von ... bis ...", folgen also einem auf die Sprache ausgerichteten, einem "glossozentrischen" Prinzip der Gegenstandskonstitution. Dieses hat insofern durchaus seine Berechtigung, als nichts einen beliebigen literarischen Text so einwandfrei mit einem anderen verbindet wie die gemeinsame Sprache. Den Beweis ex negativo liefert die bekannte Schwierigkeit, literarische Werke zu übersetzen. Der millionenfache Versuch, diese Schwierigkeit zu überwinden, zeigt aber zugleich, dass jenem Prinzip, so sinnvoll es sein mag, kein Absolutheitsanspruch zukommen kann. Das größere Ganze der Weltliteratur, schon von Goethe beschworen, bildet stets den Rahmen, auch wo er ausgeblendet wird.

Doch auch anderswo stößt das Prinzip auf Grenzen. Zum ersten: Die Sprache selbst hat eine wechselvolle Geschichte. Sie wandelt sich nicht einfach als identische Entität, sondern kann sich aus mehreren Sprachen bilden und/oder in solche zerfallen. Vermutlich bildeten die verschiedenen germanischen Sprachen einmal eine mehr oder minder homogene Einheit, eben das Germanische. Das Deutsche der Neuzeit ist dagegen nicht nur ein einzelner Ableger der alten Einheit, sondern auch in beträchtlichem Maße ein Ausgleichsprodukt alter Stammessprachen.

Zum zweiten: Was der Literaturgeschichtsschreibung ihre Legitimation zurückgegeben hatte, war die Erkenntnis gewesen, dass Produktion und Rezeption von Literatur zwar nicht von außerliterarischen Faktoren bestimmt werden, wie eine vulgärmarxistische Maxime wollte, doch auch nicht unabhängig davon erfolgen. Zu diesen Faktoren gehört ganz gewiss der subjektive Identifikationsraum der Produzenten und Rezipienten, das heißt der weitere oder engere geographische Bereich, dem sich ein Individuum zugehörig fühlt, ein realer Raum also, den aber nur gedachte Grenzen umschließen.

Ein denkbarer Raum ist zum Beispiel der deutsche Sprachraum. Aber dieser konkurrierte im Bewusstsein der "Deutschen" mit anderen mindestens ebenso wichtigen Räumen. Wir wissen heute, dass der mittelalterliche Literaturbetrieb grundsätzlich eher kleinräumig organisiert war. Werke entstehen in der Regel zuerst einmal für einen relativ kleinen Kreis von Gönnern und Zuhörern. Erst in einem weiteren Schritt erfolgt meistens, aber nicht immer, die Verbreitung durch Handschriftenkopien oder fahrende Sänger oder beide.

Die zumindest anfänglich geringe Reichweite eines Textes korrespondiert mit einer historischen Grundbefindlichkeit des Individuums. Der mittelalterliche Mensch weiß sich, bis auf relativ wenige Ausnahmen, eingebunden in eine ziemlich eng begrenzte Gemeinschaft wie einen Konvent, eine Pfarrei, eine Grundherrschaft, einen Hof oder eine Stadt beziehungsweise in die nächsthöhere Einheit, eine Ordensprovinz, ein Bistum, ein Territorium oder ein Land. Obwohl Angehörige bestimmter Personengruppen von den großen Fürsten bis zu einfachen Pilgern auch damals erstaunlich weit in der Welt herumkamen und es natürlich überregionale Verklammerungen materieller und ideeller Art in reichem Maße gab, dominierte wohl im ganzen Mittelalter, wenngleich mit wechselnder Intensität, der nicht nur standes- und bildungsmäßig, sondern auch geographisch beschränkte Horizont.

Zum dritten: Die deutsche Nation ist ein Produkt der (späteren) Neuzeit und umfasst auch keineswegs alle Deutschsprachigen. Diese entwickeln zwar im Mittelalter durchaus ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das aber nur gelegentlich politisch relevant werden konnte. Zuerst aber gehörte man einem "deutschen Land" an, deren es nicht eines gab, sondern viele, die vom zunehmend schwachen Band des "Römischen (nicht "Deutschen"!) Reichs" zusammengehalten wurden, das auch slawische und romanische Gebiete umfasste. Was unter diesen Umständen eine "deutsche Geschichte des Mittelalters" meinen kann, mögen andere beurteilen. Eine "deutsche Nationalliteratur des Mittelalters" ist auf jeden Fall eine Fiktion.

Zum vierten: Joachim Bumke, Thomas Cramer und Dieter Kartschoke schreiben im Vorwort zu ihrer dreibändigen Literaturgeschichte:
"Das größte Manko teilt unsere Darstellung mit anderen Literaturgeschichten: Wir behandeln in der Regel nur die Literatur in deutscher Sprache. Die Literatursprache des Mittelalters aber war das Lateinische, und die Literatur des Mittelalters ist zunächst lateinische Literatur. Nur in Ausnahmefällen haben sich die literarisch Gebildeten der Volkssprache bedient. Daher entsteht ein einseitiges und unzureichendes Bild, wenn man nur das in den Blick rückt, was auf Deutsch geschrieben worden ist. Die gesamte wissenschaftliche Literatur des Mittelalters und der größte Teil der religiösen und didaktischen Literatur des Mittelalters, der Fach-, der Rechtsliteratur und der Geschichtsschreibung wird damit übergangen und auch ein großer Teil der Dichtung. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das unvertretbar, aber aus praktischen Gründen kann man gar nicht anders verfahren. Die Einbeziehung der lateinischen Literatur würde nicht nur den Umfang der Darstellung mindestens verdoppeln; noch schwerer fällt ins Gewicht, dass die lateinische Literatur vom 13. Jahrhundert an so unüberschaubar wird, dass eine literaturgeschichtliche Zusammenfassung nicht realisierbar erscheint."

Das Argument ist schlagend, nicht aber die Schlussfolgerung. Eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters zu schreiben ist einerseits wissenschaftlich nach wie vor vertretbar, solange sie ihren beschränkten Horizont deutlich macht und sich nicht als Geschichte einer Nationalliteratur ausgibt. Sie ist aber andererseits auch keineswegs ohne praktische Alternative. Wenn nämlich das zweite oben vorgebrachte Argument richtig ist, so muss es auch legitim sein, die Geschichte der Literatur eines historisch definierten Raumes, eines Fürstenhofes, einer Stadt, eines Bistums, eines Territoriums oder eines Landes zu schreiben. Unter einer solchen auf den Raum ausgerichteten, "chorozentrischen" Perspektive wird, wenn jener Raum nicht zu groß gewählt wird, das nach Bumke/Cramer/Kartschoke Unmögliche doch realisierbar, nämlich die Darstellung aller in dieser Region existenten Literaturen, also vor allem der deutschen und der lateinischen.

Aus dieser Überlegung heraus schien es seinerzeit mehr als gerechtfertigt, die ursprünglich aus anderen Quellen geflossene Anregung aufzugreifen, eine Literaturgeschichte der mittelalterlichen südöstlichen Regionen des (Römischen) Reiches, der (allerdings teilweise erst zu Beginn des Spätmittelalters verfassungsmäßig herausgebildeten) Länder Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol zu schreiben.

Die Auswahl und Zusammenstellung dieser Länder entspringt allerdings weniger historischen Bedingungen (der habsburgischen Herrschaft über Österreich und Steier ab 1278, über Kärnten ab 1335 und über Tirol ab 1365) als der Ausrichtung auf den Identifikationsraum eines gegenwärtigen, des österreichischen Leserpublikums, auf das die Literaturgeschichte allerdings beileibe nicht ausschließlich zielt. So wird das Projekt auch erst seit zweieinhalb Jahren vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert; zuvor hat die Kosten eines wissenschaftlichen Mitarbeiterpostens für eine ganze Reihe von Jahren (mit Unterbrechungen) die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) übernommen.

Als Ergebnis habe ich bisher zwei Bücher vorlegen können. Sie befassen sich mit der Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273 (Band I) sowie der Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1358 (Band II/1). Ein dritter Band zur Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1358 bis 1439 steht noch aus.

Der zu Grunde liegende Literaturbegriff ist ein sehr breiter. Es werden freilich Schriftdenkmäler, die rein technischen Charakter aufweisen und in ihrer Gebrauchsfunktion für die Lebenspraxis aufgehen, in aller Regel völlig ausgeklammert: Inschriften, Urkunden, Register, Gesetze, Personen-, Ämter-, Güterlisten, Arzneibücher etc. Theologische und historiographische Texte werden dagegen behandelt, obwohl hier und anderwärts der Literarhistoriker vieles nur aus zweiter Hand berichten kann. Aber auch bei den poetischen Denkmälern, die naturgemäß im Vordergrund stehen, ist es im Einzelnen angesichts der Masse unmöglich, stets ad fontes zu gehen. Handbücher müssen häufig den Weg weisen, der dann leider auch in die Irre führen kann.

Vorstellung und Interpretation der einzelnen Texte folgen natürlich in hohem Maße dem gängigen Muster einer ganz gewöhnlichen deutschen Literaturgeschichte. Den regionalen Zuschnitt erhält die Darstellung einerseits durch Auswahl, Anordnung und Querverbindung der lateinischen und deutschen Denkmäler, andererseits durch eigene Abschnitte mit dem Titel "Profil der Epoche", welche eine Zusammenschau unter regionalem Aspekt am Ende jeder dargestellten Literaturperiode leisten sollen.

Dabei entsteht selbstverständlich keineswegs das Bild eines hermetisch geschlossenen und autochthonen Literaturraumes, aber zumindest an einzelnen Stellen der Eindruck einer unverwechselbaren Eigenart, und zwar in gesteigertem Maße im Spätmittelalter, zur selben Zeit also, da sich einerseits die gattungsmäßigen Grenzen zwischen den deutschen und den lateinischen Texten aufzulösen beginnen, andererseits die höfisch-weltlichen Literaturgattungen eindeutig ins Hintertreffen geraten.

Gleichzeitig konzentriert sich das literarische Schaffen immer mehr und mehr auf das Herzogtum Österreich, vor allem Niederösterreich und Wien. Explosionsartig steigt die Produktion mit der (zweiten) Gründung der Universität Wien 1384. Damit ist zugleich der Punkt erreicht, wo der für Band I prinzipiell angestrebte, für Band II/1 schon eingeschränkte Anspruch auf vollständige Erfassung der literarischen Denkmäler endgültig aufgegeben werden muss zu Gunsten einer repräsentativen Auswahl namentlich auf dem Felde der wissenschaftlichen, religiösen und didaktischen Prosa.

Zum Exempel: Der vermutlich fruchtbarste Schriftsteller der so genannten Wiener Übersetzerschule des späten Mittelalters, Ulrich von Pottenstein († 1416/17), bringt es in seinem deutschen katechetischen Werk auf einen errechenbaren Umfang von vielleicht 5000 Druckseiten einer (nicht existenten) modernen Gesamtausgabe. In etwa gleich dick wäre eine entsprechende Edition der magistralen lateinischen Vorlesung über das Buch Genesis, Kapitel I bis III, des bedeutendsten Theologen der jungen Alma Mater Rudolphina, Heinrichs von Langenstein († 1397).

Immerhin hat Ulrich neben seinem genannten Hauptwerk nur noch ein kleineres Nebenprodukt hinterlassen, Heinrich dagegen circa 150 weitere von verschiedenem, mitunter beträchtlichem Umfang. Und Heinrich ist nur einer von circa vierzig Wiener Universitätslehrern vor der Mitte des 15. Jahrhunderts, von denen sich Vorlesungsmanuskripte erhalten haben, wenn auch vielleicht der produktivste.

Nur ein Bruchteil dieser Schriften ist bisher zum Druck gelangt. Beim deutschen Schrifttum im Umkreis der Universität ist die Editionslage vergleichsweise besser, aber auch von Ulrichs Oeuvre beispielsweise bisher erst rund ein Zehntel ediert worden. Den meisten seiner Kollegen, etwa einem Dutzend, ist es nicht besser ergangen. Wenigstens biobibliographisch sind diese Oeuvres inzwischen ganz gut erschlossen, während man dies für die meisten lateinischen Autoren der Zeit wahrlich nicht behaupten kann, da sich die Germanistik dafür natürlich nicht zuständig fühlte.

Ohne Vorarbeiten im Rahmen des DFG- beziehungsweise FWF-Projekts hätte auf diesem Gebiet nicht einmal ein schattenhafter Umriss des Schrifttums gezeichnet werden können, doch gilt dies für andere in diesem Rahmen zu bearbeitende Felder, auch schon früherer Bände, genauso, wenn auch in geringerem Maße. Die fremden und eigenen Vorarbeiten hatten dabei zuerst einmal die Aufgabe, riesige Schuttberge literarhistorisch wenig interessanten Materials zu durchwühlen und das meiste davon als unverwertbar beiseite zu räumen. Übrig blieben biobibliographische und texttypologische Grunddaten einiger zum allergrößten Teil streng normierten, sehr stark quellenabhängigen Literaturgattungen und ein paar ausgewählte Beispiele, die als besonders repräsentativ für das Ganze gelten können. Nur gelegentlich stößt man auf eine echte Trouvaille, beispielsweise die ältesten erhaltenen Judenbekehrungspredigten aus dem deutschen Sprachraum.

Im übrigen besteht der Lohn der entbehrungsreichen Kärrnerarbeit vor allem in der Möglichkeit, erstmals Fäden zu verknüpfen, die getrennt in diversen kulturhistorischen – nicht bloß literarhistorischen – Darstellungen und Einzelstudien verschiedener Fächer gesponnen worden waren, und so ein Gewebe entstehen zu lassen, das sich so oder ähnlich dem Auge des gebildeten Zeitgenossen an einem bestimmten Ort als Ganzes darbot. Dafür hier ein paar wenige Beispiele zur Veranschaulichung:

(1) Im Hochmittelalter besteht zwischen lateinischer und deutscher Sprache auch innerhalb derselben Region so etwas wie eine gattungsmäßige Arbeitsteilung, durch welche erst gemeinsam das ganze Feld bestellt wird. Aber Wechselbeziehungen stellen sich naturgemäß leichter ein als über weite geographische Distanzen. Kann es da Zufall sein, wenn just zur Zeit der Blüte des frühen donauländischen Minnesangs in Österreich auch in österreichischen lateinischen Marienliedern ab und an Minnesangstöne zu vernehmen sind (z.B. Analecta Hymnica 54, Nr. 224: Salve, proles Davidis, Str. 12 bis 13 – vgl. Bd. I, S. 212, 586)?

(2) Im Spätmittelalter wird jene Arbeitsteilung immer mehr durchbrochen, jedoch meist nur von Seiten des Deutschen, während sich etwa die lateinische Poesie weitgehend auf den liturgischen und paraliturgischen Bereich der Kirche zurückzieht. Hier gibt es jedoch wahre lyrische Zimelien zu entdecken wie die geistlichen Lieder Konrads von Hainburg († 1360). An Beziehungen zur deutschen Literatur mangelt es auch hier nicht ganz. Eindrucksvoller aber sind die zur bildenden Kunst, die sich freilich nur der chorozentrischen Perspektive eröffnen.

Konrad war von 1350 bis 1360 Prior der Kartause Marienthron (Thronus Beatae Mariae Virginis) in Gaming (Niederösterreich). Die 20 Strophen seines Liedes Nr. 4 Thronus B. M. V., einer mariologischen Allegorese des salomonischen Thrones, die aus je zwei vierzeiligen Versikeln bestehen und die sechs Stufen des Thrones beschreiben, haben ihre genaue zahlenmäßige Entsprechung in den 20 Mönchszellen der Kartause, in den vier Jochen des einschiffigen Langhauses der Klosterkirche und dem sechsseitigen Dachreiter, der den bei Kartäusern verbotenen Turm ersetzt.

(3) Das geht natürlich weit über die sonst mögliche und aus regionalem Blickwinkel besonders ergiebige wechselseitige Erhellung der Künste in stilistischer Hinsicht hinaus, die es in diesem Falle berechtigt erscheinen lässt, auf beiden Seiten von gotischem Formgefühl zu sprechen. Unmittelbare Berührung und Beeinflussung liegt aber natürlich dort nachweislich vor, wo ein Werk bildender Kunst nach einem literarisch vorgegebenen Programm gestaltet wurde wie etwa das allegorische Marienbild des Heuberger Altars im Zisterzienserkloster von Stams in Tirol von 1426 nach dem Defensorium inviolatae perpetuaeque virginitatis castissimae genetricis Mariae (Schrift zur Verteidigung der unverletzten und immerwährenden Jungfräulichkeit der keuschesten Gebärerin Maria) des österreichischen Dominikaners und Wiener Universitätslehrers Franz von Retz († 1427).

Das Weihnachtsbild (Abb. Seite 31 links) wird hier umrahmt von 26 Bildern, welche (größtenteils) widernatürliche Naturerscheinungen als Analogiebeweise für die jungfräuliche Geburt zeigen, darunter Aaron mit dem früchtetragenden Stab, Mose vor dem brennenden Dornbusch, eine Jungfrau mit einem Einhorn oder einen Löwen, der seine zwei Jungen durch sein Gebrüll zum Leben erweckt.

(4) Strukturelles Vorbild dieser Darstellung sind zweifelsohne die schematischen Zyklen typologischer Bibelexegese wie die berühmten Concordantiae caritatis Ulrichs von Lilienfeld aus der Zeit zwischen 1351 und 1358 (Abb. Seite 32). Hier hat die Literatur sogar dienende Funktion, da die Texte die vorgegebenen allegorischen Bilder erklären sollen: Ereignisse des Alten Testaments, Propheten, aber auch die Natur künden das Heilsgeschehen der Erlösung längst im Voraus haargenau an.

(5) Viel seltener als die geistliche strahlt die weltliche Literatur auf die bildenden Künste aus. Das berühmteste, nicht erst zu entdeckende Zeugnis ist die "Bilderburg" Runkelstein bei Bozen. Die Brüder Niklaus und Franz Vintler, Mitglieder des Bozener Patriziats, erwarben 1385 die Burg, bauten sie um und ließen sie prachtvoll ausmalen, darunter das neu errichtete Sommerhaus mit einer Reihe literarischer Helden und mit Illustrationen zu drei hochmittelalterlichen deutschen Versromanen (Abb. Seite 31 rechts). Einer davon entstand auch ziemlich sicher im Ostalpenraum, allerdings nicht in Tirol, sondern nach 1260 (?) vermutlich im Auftrag des steirischen Adels, der Garel von dem blühenden Tal von dem Pleier (vgl. Bd. I, S. 558ff.).

Als spätes Rezeptionszeugnis gibt der Bilderzyklus zwar für die Interpretation des weit älteren Textes wenig her, dafür aber umso mehr für die Rekonstruktion des literarischen und adelig-höfischen Lebens in Tirol um 1400 – einem wesentlichen Anliegen der chorozentrisch konzipierten Literaturgeschichte.

Selbstverständlich schneidet diese genauso ein Stück aus der kulturellen Wirklichkeit heraus, wenn sie an der Grenze eines Landes Halt macht, wie es auf andere Weise eine Literaturgeschichte tut, die ein weit größeres Gebiet erfasst, sich dafür aber auf deutschsprachige Texte beschränkt. Es gilt also, sich dieses fragmentarischen Charakters stets bewusst zu bleiben. Fernziel muss das aus derartigen Ausschnitten mosaikartig zusammengesetzte Gesamtbild der europäischen Literatur des Mittelalters sein.

Autor:
Prof. Dr. Fritz Peter Knapp,
Germanistisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität,
Hauptstraße 207, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 543217, Fax: (06221) 543378,
e-mail: knapp@uni-heidelberg.de

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