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Meilenstein der Präventivmedizin

Hinter dem Wortungetüm "Elektrospray-Ionisations-Tandem-Massenspektrometrie" mit dem ebenso kryptischen Kürzel ESI-MS/MS verbirgt sich ein neues Verfahren, mit dem schwere, oft tödlich verlaufende Stoffwechselerkrankungen neugeborener Kinder schnell und sicher erkannt werden können. Die frühzeitige Diagnose macht es den Ärzten möglich, die Neugeborenen rechtzeitig zu behandeln und ihr Leiden zu lindern – oder gar zu verhindern. Die revolutionäre Methode wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1998 an der Universitäts-Kinderklinik etabliert. Georg Hoffmann und Martin Lindner beschreiben ihre bisherigen Erfahrungen und die Chancen, die ein durch ESI-MS/MS erweitertes Neugeborenen-Screening für eine wirkungsvolle Prävention bietet. Sie fordern, dass das neue Verfahren für alle Familien in Deutschland verfügbar sein sollte.


Der deutsche Kinderarzt und spätere Ordinarius für Kinderheilkunde Horst Bickel entwickelte Ende de 1950er Jahre eine Diät, die Kindern mit Phenylketonurie, eine Stoffwechselkrankheit, schwere geistige Behinderung erspart.

Ein kurzer Rückblick soll die Bedeutung des Neugeborenen-Screenings illustrieren. Im Jahre 1934 wurde der so genannten phenylpyruvischen Schwachsinn beschrieben, nachdem im Urin der Betroffenen jenes Stoffwechselprodukt nachgewiesen worden war, welches der "Phenylketonurie", kurz PKU, ihren Namen gab. Die Störung wird durch einen Mangel des Enzyms Phenylalaninhydroxylase im Abbauweg der Aminosäure Phenylalanin verursacht.

Mit der Möglichkeit, die Störung zu diagnostizieren, war den Patienten jedoch noch nicht geholfen. Es dauerte weitere 25 Jahre bis der deutsche Kinderarzt und Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universitätsklinik in Heidelberg (1967 bis 1987) Horst Bickel erkannte, dass die Folgen der Stoffwechselkrankheit verhindert werden können, wenn die Patienten eine strenge, phenylalaninarme Diät einhalten. Wird mit der Diät sofort nach der Geburt begonnen, bleibt den Patienten das Schicksal einer schweren geistigen Behinderung erspart.

Die Geburtsstunde des Neugeborenen-Screenings schlug einige Jahre später. Der amerikanische Arzt Robert Guthrie entwickelte im Jahr 1963 einen einfachen Test. Zum Nachweis einer PKU genügt beim "Guthrie-Test" ein Tropfen Blut, der auf einem Filterpapier getrocknet und dann per Post in ein Untersuchungslabor geschickt wird (Trockenblutprobe).

 

Guthrie-Test
Von dem amerikanischen Arzt Robert Guthrie stammt ein einfacher Trockenblut-Test ("Guthrie-Test", Bilder unten), mit dem die Erkrankung frühzeitig festgestellt werden kann.
Guthrie-Test Robert Guthrie

Horst Bickel sorgte dafür, dass der Guthrie-Test zu Beginn der 70er Jahre in Deutschland flächendeckend eingeführt wurde. Seither können im Bundesgebiet jährlich etwa 30 bis 50 Kinder vor einer schweren geistigen Behinderung bewahrt werden. Mit Hilfe einer Diät können sie heute eine unauffällige geistige Entwicklung durchlaufen.

Im Jahr 1968 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Kriterien aufgestellt, anhand derer weitere angeborene Krankheiten, die in Neugeborenen-Screening-Programme aufgenommen werden sollten, zu überprüfen sind. Die Krankheit soll:

  • in der untersuchten Population ausreichend häufig sein;
  • ein symptomfreies Intervall nach der Geburt aufweisen, in dem die Diagnose anhand klinischer Symptome nicht möglich ist;
  • der Patient muss nachgewiesenermaßen von einer bereits vor den ersten Symptomen eingeleiteten Therapie profitieren;
  • eine einfache, an großen Probenzahlen – möglichst aus Trockenblutproben – und mit geringen Kosten durchführbare Nachweismethode mit hoher Sensitivität und Spezifität muss verfügbar sein.
 

Auf der Grundlage dieser WHO-Kriterien wurden über die Jahre hinweg einzelne Testverfahren in die Neugeborenenvorsorge aufgenommen und im Laufe der Zeit methodisch weiterentwickelt. Im Jahr 1995 umfasste das von der "Ständigen Nationalen Screeningkommission" empfohlene Untersuchungsprogramm insgesamt fünf Krankheiten: drei des Stoffwechsels und zwei des Hormonhaushaltes.

Zu den Stoffwechselkrankheiten zählen neben der Phenylketonurie die so genannte Galaktosämie und der Biotinidase-Mangel. Bei der Galaktosämie ist der Abbau des Milchzuckers gestört. Unbehandelt kann sie bei Neugeborenen zu lebensbedrohlichen Leberfunktionsstörungen und zur Erblindung auf Grund von Linsentrübungen führen. Mangelt es am Enzym Biotinidase (Biotinidase-Mangel) kann das Vitamin Biotin nicht aus der Nahrung freigesetzt und vom Körper verwertet werden. Die Folgen sind schwerste Hautveränderungen, Krampfanfälle, Taubheit, Erblindung und Tod.

Bei den Hormonmangelkrankheiten handelt es sich um die "angeborene Hypothyreose" und das "adrenogenitale Syndrom". Bei der angeborenen Hypothyreose fehlt das Schilddrüsenhormon. Die geistige Entwicklung wird dadurch schwer beeinträchtigt. Dies kann nur dann verhindert werden, wenn das Schilddrüsenhormon (T4) noch vor Ende der zweiten Lebenswoche regelmäßig in Tablettenform verabreicht wird. Geschieht dies nicht, resultiert eine bleibende Entwicklungsstörung.

Beim adrenogenitalen Syndrom führt ein angeborener Mangel in der Steroidsynthese zu schweren Symptomen auf Grund des Verlustes von Elektrolyten. Unterzuckerungen schädigen zudem das Hirn. Bei Mädchen kommt es zu einer Vermännlichung des äußeren Genitale. Diese kann so ausgeprägt sein, dass das Geschlecht falsch zugeordnet wird.

Die seit rund 30 Jahren etablierten Programme für ein genetisches Neugeborenen-Screening haben seit Mitte der 1990er Jahre einen zum Teil revolutionären Wandel erfahren. Damals wurde eine neue Methode, die so genannte Elektrospray-Ionisations-Tandem-Massenspektrometrie (ESI-MS/MS), eingeführt. Wegen ihrer außerordentlichen Bedeutung wird das Verfahren hier ausführlich dargestellt (siehe auch Grafik unten).

ESI-MS/MS

Die Elektrospray-Ionisations-Tandem-Massenspektrometrie hat die Diagnostik angeborener Stoffwechselkrankheiten von Grund auf gewandelt (s. Grafik oben). Mit dieser Methode werden nicht mehr einzelne Stoffwechselprodukte (Metabolite) und damit einzelne Stoffwechselstörungen gesucht. Vielmehr werden ganze Gruppen biochemischer Moleküle in einem Analysegang identifiziert und quantifiziert.

Die Massenspektrometrie ist ein lang bekanntes physikalisches Verfahren, mit dem das Molekulargewicht geladener Teilchen bestimmt wird. Dazu werden ionisierte Teilchen im Hochvakuum beschleunigt, in einem Magnetfeld entsprechend des spezifisches Verhältnisses von Masse zu Ladung abgelenkt und detektiert. Bei der ESI-MS/MS werden zwei Massenspektrometer durch eine Kollisionszelle verbunden. Im ersten Massenspektrometer (MS1) werden die Ausgangsmoleküle entsprechend ihres Masse-Ladung-Verhältnisses getrennt. In der Kollisionszelle wird das Ausgangsmolekül durch den Zusammenprall mit Gasmolekülen (Argon, Stickstoff) in Fragmente gespalten. Aus den Masse-Ladungs-Verhältnissen des Ausgangsmoleküls und den Spaltprodukten können beliebige Metabolite äußerst sensitiv und spezifisch bestimmt und durch die Verwendung stabiler Isotope gleichzeitig quantifiziert werden.

Screening
Das neue Verfahren, mit dem schwere Stoffwechselerkrankungen bei Neugeborenen schnell und sicher erkannt werden können, wurde vor vier Jahren erstmals in der Universitäts-Kinderklinik in Heidelberg etabliert. Der Kinderarzt Martin Lindner (rechts) wünscht sich, dass die neue Methode bald überall in Deutschland zum Einsatz kommt.

Für das Neugeborenen-Screening wurden diese Methoden adaptiert, um Eiweißabbauprodukte sowie Zwischenprodukte des Fettsäurenabbaus zu bestimmen. Aus allen physiologisch auftretenden Aminosäuren wird in der Kollisionzelle beispielsweise immer ein typisches neutrales Fragment mit einem Molekulargewicht von 102 Dalton (Da) freigesetzt. Bei organischen Säuren, die aus dem Eiweißabbau stammen, und bei Fettsäuren macht man sich zunutze, dass diese im Körper an ein Trägermolekül (L-Carnitin) gebunden transportiert werden. Sie gehören damit zur Gruppe der Acylcarnitine. Aus L-Carnitin-Estern wird in der Kollisionzelle immer ein geladenes Fragment mit einer Masse-Ladung von 85 frei.

Aus der Erhöhung einzelner oder mehrerer Aminosäuren und aus der Erhöhung einzelner Acylcarnitine – vor allem aber auch durch Veränderungen ihrer Verhältnisse zueinander – lassen sich in einer nur zwei Minuten dauernden ESI-MS/MS-Untersuchung mehr als 20 verschiedene genetische Erkrankungen diagnostizieren. Dabei handelt es sich um Störungen

  • des Aminosäurenstoffwechsels (Aminoazidämien),
  • des Abbaus organischer Säuren (Organoazidurien),
  • der Fettsäurenoxidation (Fettsäurenoxidations- und Carnitinstoffwechseldefekte).
Screening
Das erweiterte Neugeborenen-Screening mit ESI-MS/MS bietet alles Chancen einer wirkungsvollen Prävention.
Screening

Kumulativ treten diese Erkrankungen nach unseren Ergebnissen im Neugeborenen-Screening mit einer Häufigkeit von circa 1 : 2500 auf, wobei die Störungen des Fettsäurenabbaus zusammengenommen häufiger sind als die PKU. Wie verlaufen die genannten Erkrankungen und welche Möglichkeiten gibt es, sie zu behandeln?


Aminoazidämien:
Das klassische Beispiel einer Aminoazidämie ist die bereits beschriebene PKU. Sie geht mit einer Erhöhung der Aminosäure Phenylalanin im Blut einher. Bleibt sie unbehandelt, kommt es zu einer schweren geistigen Behinderung. Ein erhöhtes Vorkommen der Aminosäuren Leuzin, Isoleuzin und Valin im Blut weist auf die "Ahornsirup-Krankheit" hin. Es kommt zu einer krisenhaften Vergiftung des Zentralnervensystems mit Folgeschäden wie einer gestörten geistigen Entwicklung und Spastik. Auch hier besteht die Therapie in einer Diät: Die Zufuhr der betreffenden Aminosäuren mit der Nahrung muss beschränkt werden.

Die "Tyrosinämie Typ I" führt unbehandelt zu einem Ausfall der Leberfunktion, der tödlich verlaufen kann. Oder die Leberfunktion wird schleichend beeinträchtigt, was zu Leberzirrhose und Leberzellkrebs führt. Die Erkrankung wird heute mit Medikamenten, kombiniert mit einer diätetischen Einschränkung der Tyrosinzufuhr, behandelt. Die Patienten können unter dieser Therapie unbeeinträchtigt leben.

Fettsäurenoxidationsdefekte:
Der häufigste Defekt bei der Umwandlung von Fett in Energie liegt im ersten Schritt des Abbaus mittelkettiger Fettsäuren (Medium Chain Acyl-CoA), der von einer so genannten Dehydrogenase katalysiert wird. Dieser "MCAD-Mangel" ist in kaukasischen Bevölkerungsgruppen gleich häufig wie die PKU. Kinder, die an dieser Krankheit leiden, sind als Neugeborene zunächst gesund und unauffällig. Harmlose Infekte, insbesondere Durchfallerkrankungen, können jedoch zu schweren Unterzuckerungen führen, die tödlich verlaufen – dies wird oft als "plötzlicher Kindstod" fehlgedeutet – oder schwere Behinderungen zurücklassen. Die vorbeugende Behandlung ist einfach: Sie besteht in der Gabe von Zucker, wenn die Kinder wenig Nahrung zu sich nehmen und an Infekten leiden. Diese Therapie wirkt zuverlässig und verhindert die schweren Folgen der Krankheit.

Andere Defekte im Fettsäurenabbau führen zu Herzmuskelerkrankungen oder Schwäche und Krämpfen der Skelettmuskulatur. Es gibt zwei Verlaufsformen: Bei der "neonatalen Form" versterben die Kinder oft trotz Therapie in den ersten Tagen ihres Lebens. Bei den so genannten infantilen Formen erscheinen die Kinder als Neugeborene gesund; der klinische Verlauf ähnelt oft dem oben beschriebenen MCAD-Mangel. Die Kinder erkranken krisenhaft im Rahmen sonst harmloser Infekte. Die von dieser Verlaufsform betroffenen Kinder profitieren von der frühzeitigen Entdeckung im Neugeborenenalter: Mit einer diätetische Behandlung können alle Symptome verhindert werden.

Organoazidurien:
Bei diesen Krankheiten ist der Verlauf abhängig vom Enzymdefekt und ähnlich variabel wie bei den Fettsäurenoxidationsdefekten. Die meisten Störungen sind so behandelbar, dass sich die Kinder normal entwickeln. Bei einigen Störungen ist es jedoch nur möglich, die Symptome zu lindern und die Anzahl der krisenhaften, oft lebensbedrohlichen Zustände gering zu halten.
In Deutschland wurde die ESI-MS/MS-Methode erstmals 1998 im Neugeborenen-Screening-Zentrum der Universitäts-Kinderklinik in Heidelberg etabliert und zunächst in einem Pilotprojekt evaluiert. Andere Zentren folgten. Mittlerweile werden mehr als 50 Prozent der Neugeborenen in Deutschland mit dieser Methode untersucht. In anderen Ländern finden erst langsam erste Überlegungen zur Etablierung des erweiterten Screenings statt.

Vergleicht man die in einer Heidelberger Studie ermittelten Prävalenzen mit der Häufigkeit der beschriebenen Krankheiten in denjenigen Gebieten Deutschlands, die noch kein ESI-MS/MS-Screening durchführen, zeigt sich, dass die entsprechenden Diagnosen anhand ausschließlich klinischer Kriterien wesentlich seltener gestellt werden. Es ist davon auszugehen, dass trotz schwerer klinischer Symptome bis hin zum Tod der betroffenen Kinder eine Stoffwechselstörung ohne MS/MS oft nicht diagnostiziert wird. Dies trifft möglicherweise bei bis zu 50 Prozent der betroffenen Kinder zu.

Screening
Das neue Untersuchungsverfahren hilft, schwere Behinderungen und Tod zu vermeiden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Erweiterung des Neugeborenen-Screenings durch ESI-MS/MS-Analysen den präventiven Nutzen dieser Maßnahme fast verdoppelt hat. Viele der mit dieser Methode identifizierbaren Krankheiten entsprechen den Screening-Kriterien der WHO, sind also schon in einem Stadium, in dem sich noch keine Symptome zeigen, so gut behandelbar, dass schwerwiegende Folgen wie Behinderung und Tod vermieden werden können. Selbst wenn bereits Symptome aufgetreten sind, kann die schnelle Einleitung einer Therapie, die Schäden in vielen Fällen begrenzen.

Eine Gruppe von Krankheiten kann allerdings nach dem heutigen Wissensstand nicht befriedigend therapiert werden – ein Argument, nach diesen Krankheiten im Neugeborenen-Screening nicht zu suchen. Wie unsere Erfahrungen zeigen, können jedoch den Patienten auch hier diagnostische Irrwege erspart werden, wird die Krankheit bereits im Neugeborenenalter festgestellt. Den Familien eröffnet eine frühe Diagnose die Möglichkeit einer informierten Familienplanung.

Insgesamt bietet ein durch ESI-MS/MS erweitertes Neugeborenen-Screening alle Chancen einer wirkungsvollen Prävention. Unabdingbar ist jedoch, dass das Verfahren wissenschaftlich fundiert angewendet wird und die Ergebnisse von Stoffwechselspezialisten interpretiert und kontrolliert werden. Ebenso gilt es, die Diagnose schnell abzusichern und eine dem neuesten Wissenstand entsprechende Therapie einzuleiten.

Ein erweitertes Neugeborenen-Screening mit ESI-MS/MS sollte für alle Familien in Deutschland verfügbar sein. Das Verfahren muss aber gleichzeitig im Konsens mit allen gesellschaftlichen Gruppen, unter öffentlicher Kontrolle und Qualitätssicherung durchgeführt werden. Die Voraussetzung dafür wird hoffentlich eine grundlegende Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur einheitlichen Finanzierung dieser wirkungsvollen Präventivmaßnahme noch im Laufe dieses Jahres schaffen.

Das erweiterte Neugeborenen-Screening mit ESI-MS/MS ist ein Meilenstein der Präventivmedizin. Die Ergebnisse des Human-Genom-Pojektes für die Diagnose und Therapie genetischer Erkrankungen lassen in naher Zukunft auf weitere umfangreiche Anwendungen präventivmedizinischer Ansätze hoffen. Seit über 30 Jahren hat sich das Neugeborenen-Screening für betroffene Kinder und ihre Familien bewährt. Die bereits erprobten Strukturen bieten Voraussetzungen, neue Ansätze genetischen Screenings verantwortungsbewusst unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und individueller Wertvorstellungen zu entwickeln.

Autoren:
Prof. Dr. Georg Hoffmann und Dr. Martin Lindner,
Universitäts-Kinderklinik,
Im Neuenheimer Feld 150, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 562302, Fax (0 62 21) 56 40 69,
e-mail: martin_lindner@med.uni-heidelberg.de

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