Radikal, aber bruchlos: Vor- und Nachleben der chinesischen Kulturrevolution
35 Jahre nach Beginn der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" (1966 bis 1976) fanden im Februar 2001 in Budapest und im Universitätsmuseum Heidelberg unter dem Titel "Bilder der Macht, Propaganda und Kunst in der Kulturrevolution (1966 bis 1976)" zwei Ausstellungen mit Propagandaplakaten aus der Sammlung der University of Westminster, London, statt. Propagandabilder waren ein beherrschender Teil des chinesischen Alltagslebens und erlebten während der so genannten "Großen Proletarischen Kulturrevolution" ihren Höhepunkt. Politisch motivierte bildliche Botschaften fanden sich nicht nur auf Plakaten, sondern auch auf Uhren, Kalendern, Weckern und Teebechern. Das Bildmaterial wurde deswegen in den Ausstellungen durch Alltagsgegenstände sowie durch Musik- und Videomaterialien ergänzt.
In der Konzeption gehen die europäischen Ausstellungen auf ein Projekt zurück, das unter dem Titel "Picturing Power" im Herbst 1999 in Bloomington und Ohio der amerikanischen Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Jede der europäischen Ausstellungen hat nun versucht, unter einer eigenen Thematik einen Teil der in den Vereinigten Staaten ausgestellten Propagandaposter in ihren nationalen und internationalen Kontext einzuordnen.
In Budapest ging es um die Verschränkungen von osteuropäischen und chinesischen politischen Ereignissen der Zeit der Kulturrevolution, und in Heidelberg sollten Kontinuitäten in der künstlerischen Darstellung vor, in und nach der Kulturrevolution aufgezeigt werden (http://www.sino.uni-heidelberg.de/conf/propaganda).
Begleitet wurde die Ausstellung von einem Symposium, das in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg und finanziell großzügig unterstützt von der Volkswagenstiftung und der Stiftung Universität Heidelberg stattfand. Im Gespräch zwischen Zeitzeugen und Wissenschaftlern sollte das Symposium die in der Ausstellung hör- und sichtbar vorgeführten Themen auch auf anderen Gebieten der (Alltags-)kunst nachweisen und vertiefen helfen.
Die Kulturevolution wird in der chinesischen ebenso wie in der westlichen Sekundärliteratur als eine politische, ökonomische und soziale Katastrophe dargestellt. Auch Kulturhistoriker beschreiben sie gängigerweise als eine Phase kultureller Stagnation. Dem steht eine Welle der Begeisterung für und Auseinandersetzung mit dieser Kunst und Kultur in China entgegen: Die in der Zeit der Kulturrevolution propagierten so genannten "Modellstücke" werden seit Mitte der achtziger Jahre regelmäßig wiederaufgeführt, ihre beliebtesten Arien auf CD vertrieben. Lieder der kulturrevolutionären Jugendbewegung, der Roten Garden, finden sich in Rocksongs wieder, Mao-Motive sind omnipräsent im Idiom der chinesischen künstlerischen Avantgarde. Ziel des Heidelberger Symposiums war es, dieses Interesse an der Kunst und Kultur einer historischen Periode, die für viele Chinesen traumatische Erinnerungen birgt, zu erklären. Das Symposium sollte die Kultur der Kulturrevolution aus ihrer Sonderstellung als "Abweichung von der Norm" herausholen. In Einzelvorträgen zu unterschiedlichen Kunstformen (Musiktheater, Film, Musik, Literatur und Kunst) und zur Einbettung dieser Kunst in den historischen Alltag während der Kulturrevolution sollte gezeigt werden, dass auch die extrem politisierte Kultur dieser Zeit sich nahtlos in die Entwicklung der chinesischen Kunst und Kultur seit Anfang des 20. Jahrhunderts einordnen lässt. Sie nimmt stilistische, theoretische und künstlerische Vorgaben auf, die nicht erst in der Dekade der Kulturrevolution entwickelt wurden und die eben deswegen auch in der gegenwärtig geschaffenen Kunst noch ihre Relevanz haben.
Eine derartige Einbindung kulturrevolutionärer Kunst und Kultur in den organischen Entwicklungsstrang der Kunst im modernen China kann in der Volksrepublik China aus ideologischen Gründen nicht stattfinden. Das Heidelberger Symposium, das Vorträge, Rundgespräche und Kunstbetrachtungen kombinierte, bot eine erste Gelegenheit für chinesische und nicht-chinesische Wissenschaftler, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler, Literaturwissenschaftler und Historiker, auf gleichsam "neutralem Boden" neue Wege zu finden, wie die kulturrevolutionäre Kunst und Kultur betrachtet werden kann.
Propagandabilder waren ein beherrschender Teil des chinesischen Alltagslebens. Während der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" (1966 bis 1976) erlebten sie ihre weiteste Verbreitung. |
Das Symposium und die Ausstellung wollten einen Impuls geben, um ein Thema, das auf Grund seiner politischen Brisanz wissenschaftlich erst heute und nur außerhalb Chinas fassbar wird, im interdisziplinären Diskurs für neue Forschungsansätze zu öffnen. Die positive öffentliche Resonanz auf das Symposium und die Ausstellung lassen hoffen, das diesem ersten Versuch weitere nachfolgen können.