Molekulare Liberos
Wachstumsfaktoren regulieren, wie Zellen sich vermehren und heranreifen. Eine Großfamilie von Wachstumsfaktoren sind die "Transformierenden Wachstumsfaktoren-ß", kurz TGF-ß. Die bemerkenswerteste Eigenschaft dieser Faktoren ist ihre Janusköpfigkeit: Sie können die Zellteilung antreiben oder blockieren, sie können Zellen überleben und sterben lassen – und sie können rasch von Abwehr auf Angriff umschalten. Sie sind eben echte "Liberos". Klaus Unsicker vom Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften beschreibt die Moleküle und erklärt, wie sie zur Entwicklung und zum Erhalt des Nervensystems beitragen.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat bei der letzten Europameisterschaft kläglich versagt. Die Bayern haben geglänzt – Deutsche Meisterschaft, Meister der Champions-League. Wie formt man eine überzeugende Nationalmannschaft, eine Meistermannschaft der Bundesliga, der Champions-League? Was gebraucht wird, sagen viele Fußball-Lehrer, sind Spieler, die vielseitig sind, in der Abwehr und im Angriff hervorragend. Ist die beste Fußballmannschaft also eine, in der es nur Liberos gibt und der Torwart nicht nur Tore hält, sondern auch welche schießt? Das ist nicht nur ein Thema für Fußballfans, sondern auch für Wissenschaftler, die sich mit der Entwicklung und dem Erhalt des Nervensystems beschäftigen. Eine besondere Rolle spielen dabei die "Liberos" unter den Wachstumsfaktoren, die so genannten "Transformierenden Wachstumsfaktoren", kurz TGF-ß.
"TGF-ßs" sind eine besondere Klasse von Wachstumsfaktoren. Über 30 Mitglieder umfasst die "Mannschaft", vom Wurm Caenorhabditis elegans über die Fruchtfliege bis zum Menschen sind sie vertreten. Ihre biologischen Funktionen sind vielfältig: Sie legen beispielsweise in der frühen Entwicklung eines Organismus den Bauplan des Körpers und die Anlage der Gliedmaßen fest. Sie beeinflussen aber auch die Entstehung von Blutzellen, die Bildung von Knochen, die Heilung von Wunden und die Regulierung von Entzündungsprozessen.
Vor allem aber sind TGF-ßs maßgeblich an der Regulation fundamentaler zellbiologischer Funktionen beteiligt. Häufig kontrollieren sie diese zusammen mit anderen Wachstumsfaktoren; nicht selten im entgegengesetzten Sinn: Sie fördern oder hemmen die Zellteilung, stimulieren oder unterdrücken das Heranreifen – die Differenzierung – von Zellen und entscheiden über Zell-Leben und Zell-Tod. Es gibt kaum ein Gewebe oder einen Zelltyp, der nicht ein oder gleich mehrere Mitglieder dieser Mannschaft einsetzen würde.
TGF-ßs haben ein charakteristisches Aussehen (siehe Grafik auf Seite 24 oben). Am linken Ende des Moleküls findet sich ein Abschnitt, ein so genanntes Signalpeptid, der das Vorläufermolekül auf den Weg zum Export aus der Zelle bringt. Dann folgt ein Abschnitt, eine so genannte Pro-Domäne, der dafür verantwortlich ist, dass sich das Molekül korrekt faltet. Diese Domäne sorgt auch für die Verbindung eines einzelnen Moleküls mit einem zweiten zu einem "Dimer"; sie reguliert außerdem die biologische Aktivität des Moleküls. Eine kurze Domäne (RXXR) schließt sich der Pro-Domäne an. Dieser Abschnitt sorgt für die korrekte Abspaltung des "reifen", die eigentliche biologische Aktivität tragenden Molekülabschnitts. Schließlich folgt das "reife" Protein. Strukturchemische Untersuchungen haben ergeben, dass alle TGF-ßs im reifen Proteinabschnitt sechs gleiche Aminosäuren (Cystein) besitzen. Die Abstände dieser Proteinbausteine und ihre Verknüpfung ist bei allen TGF-ßs identisch. Sie bilden eine auffällige Knotenstruktur, den so genannten Cysteinknoten. Ein siebtes Cystein dient dazu, zwei einzelne Moleküle zu einem Doppelmolekül, einem Dimer, zu verbinden.
Wie überträgt TGF-ß seine Information auf Zellen? Dazu werden zunächst einmal Rezeptoren benötigt. Das sind Eiweiß-Moleküle, die an ihrer Außenseite TGF-ß binden (siehe Grafik auf Seite 24 unten). Die Bindung schaltet auf der Innenseite der Zellmembran Signalwege an. Diese verändern die Aktivität bestimmter Gene und damit die Syntheseleistung der Zelle. Die Rezeptoren der Mitglieder der TGF-ß Familie sind mit wenigen Ausnahmen so genannte Threonin-Serin-Kinasen. Es handelt sich dabei um Enzyme, welche die Aminosäuren Threonin und Serin im TGF-ß-Molekül mit Phosphatresten versehen – "phosphorylieren" – und es damit in einen anderen Aktivitätszustand versetzen.
Von diesen Rezeptoren gibt es – wie bei den TGF-ßs – mehrere Familien. Ihre Mitglieder werden immer paarweise eingesetzt; man spricht jeweils von Typ I- und Typ II-Rezeptoren. Der Typ II-Rezeptor bindet zuerst TGF-ß (siehe Grafik auf Seite 24 unten). Dann bildet er zusammen mit dem Typ I-Rezeptor einen Komplex und phosphoryliert bestimmte membrannahe Threonine und Serine des Typ I-Rezeptors ("P" in der Grafik). Das aktiviert diesen Rezeptor, und er gibt das Signal weiter. Wie macht er das? Wie schon oft, haben auch hier genetische Untersuchungen am Fadenwurm Caenorhabditis elegans und der Fruchtfliege Drosophila melanogaster – beliebte Modellorganismen der genetischen Forschung – entscheidende Hinweise erbracht.
Die TGF-ß-Informationen, die an das Erbgut (Genom) der Zellen gerichtet sind, werden von einer etwas merkwürdigen Familie von zerstrittenen Geschwistern vermittelt. Die Mitglieder dieser Familie heißen "Smad", abgeleitet von "Drosophila mothers against dpp" (mad); frei übersetzt: "Mütter gegen zuviel Kommerz im Fußball"). Drei verschiedene Smad-Gruppen gibt es: die Rezeptor-regulierten R-Smads (siehe Position 4 in der Grafik auf Seite 24 unten), die Smads mit einem gemeinsamen Partner ("Co-Smads") und die hemmenden (inhibitorischen) I-Smads.
Die Grafik zeigt, wie man sich den Signalweg vom Rezeptor zum Zellkern vorstellt: Der aktivierte Typ I-Rezeptor reagiert vorübergehend mit bestimmten R-Smads, die er phosphoryliert (siehe 4). Die aktivierten R-Smads rekrutieren daraufhin Co-Smads in einen Komplex (5) und wandern in den Zellkern. Dort binden sie – direkt oder über andere Proteine (6) – an die Erbsubstanz Deoxyribonukleinsäure (DNS). Sie regulieren so das Überschreiben der genetischen Information – die Expression – bestimmter Gene.
Im embryonalen Mittelhirnboden können die Wissenschaftler Transformierende Wachstumsfaktoren nachweisen. |
Den Ablauf des Smad-Signalwegs darf man sich nun aber nicht wie die Funktionsweise eines Getränkeautomaten vorstellen: Münzen oben rein – Flasche kommt unten raus. Die Grafik auf Seite 24 zeigt, dass der Smad-Signalweg von vielen Signalen gehemmt oder verstärkt werden kann. Andere Wachstumsfaktoren – etwa Tumornekrosefaktor alpha (TNF alpha), Interleukin-1alpha (IL-1alpha), Hepatozytenwachstumsfaktor (HGF), Epidermaler Wachstumsfaktor (EGF) oder Hormone der Nebennierenrinde (Glucocorticoide) – können den Signalweg hemmen. Andere Signalwege, an deren Anfang so unterschiedliche Stimuli wie Stress-Signale, Vitamin D oder Wachstumsfaktoren wie der Leukämie-inhibierende Wachstumsfaktor (LIF) stehen, können den Smad-Signalweg positiv beeinflussen. Schließlich kommt noch hinzu, dass der Smad-Signalweg auch die Überschreibung von Wachstumsfaktor-Genen kontrolliert. Hier wird klar, wie die "Libero"-Funktionen von TGF-ß und seine zum Teil paradoxen biologischen Effekte zustande kommen: durch die Wechselwirkung mit zahlreichen intrazellulären Signalkaskaden und anderen Wachstumsfaktoren.
Nervenzellen in der Großhirnrinde, die Wachstumsfaktoren enthalten (rot); die Pfeile zeigen auf Nervenzellen, in denen keine Wachstumsfaktoren nachweisbar sind. |
Schon am Anfang der Entdeckungsgeschichte von TGF-ß stand ein Paradox: Der Faktor wurde wegen seiner Fähigkeit entdeckt, bestimmte Nierenzellen zu "transformieren", das heißt, sie so zu verändern, dass sie in Zellkulturen unabhängig von einer Unterlage (Substrat) wachsen. So entstand der Name "Transformierender Wachstumsfaktor". Bei der genaueren Analyse stellte sich heraus, dass diese "Transformation" das Ergebnis des Zusammenwirkens von zwei Faktoren war: TGF-alpha und TGF-ß. TGF-ß allein kann die Transformation nicht bewirken.
An der Entdeckung von TGF-ß hat das Labor von Mike Sporn am National Cancer Institute der National Institutes of Health in Bethesda entscheidenden Anteil. Durch viele Publikationen des Sporn-Labors zog sich die Botschaft, dass TGF-ß offenbar (fast) alles kann und überall vorkommt – jedoch nicht im Nervensystem. Schließlich wurden zwei, damals neue TGF-ßs im Nervensystem entdeckt: TGF-ß2 und TGF-ß3. Richtig war also, dass der "klassische" TGF-ß1 nicht im Nervensystem vorkam – zwei nahe Verwandte waren dort aber in großen Mengen zu finden und warteten darauf, hinsichtlich ihrer Funktionen untersucht zu werden.
Das Bild oben zeigt ein Beispiel für das Vorkommen von TGF-ß3 in großen Nervenzellen der Hirnrinde. Das Molekül wurde mit Hilfe eines spezifischen Antikörpers nachgewiesen. Die Pfeile weisen darauf hin, dass es nur wenige Nervenzellen gibt, bei denen TGF-ß3 nicht nachgewiesen werden kann. TGF-ß3 tritt im Nervensystem stets zusammen mit TGF-ß2 auf. Beide haben in biologischen Experimenten – die meist in Zellkulturen gemacht werden – identische Effekte. Worin sie sich möglicherweise unterscheiden, lernen wir aus der Analyse der verschiedenen TGF-ß-Mausmutanten.
Anfang der 90er Jahre war bekannt, wie sich die TGF-ßs im heranreifenden und im erwachsenen Nervensystem verteilen. Auch ihre Regulierung war in Grundzügen bekannt. Wie unsere Arbeitsgruppe erkannte, spielen TGF-ßs unter anderem eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Produktion von Matrixmolekülen, zum Beispiel der Produktion von Laminin durch Astrogliazellen. Welche Bedeutung TGF-ßs allerdings für Nervenzellen haben, war immer noch weitgehend unbekannt. Anfang 1993 entdeckte Kerstin Krieglstein, damals Mitarbeiterin unserer Arbeitsgruppe, dass TGF-ß bestimmte Nervenzellen, die bei der Parkinson-Krankheit zugrunde gehen, vor Schäden schützen kann. Sie war auch entscheidend an der Entdeckung beteiligt, dass TGF-ß diesen Effekt nicht selbst bewirkt, sondern anderen Faktoren, die als etablierte Nervenwachstumsfaktoren gelten, dazu verhilft.
Die Grafiken veranschaulichen die molekulare Struktur der Transformierenden Wachstumsfaktoren (oben) und den Signalweg von der Zellmembran zum Zellkern (Bild unten). Einzelheiten erklärt der Text. |
Allen voran muss hier der Faktor "GDNF" (glial cell line-derived neurotrophic factor) genannt werden – hoch gehandelt als potenzielles Heilmittel für die Parkinson-Krankheit, bislang aber ein Versager in klinischen Studien. Wir fanden, dass GDNF seine Wirkung nur dann entfalten kann, wenn TGF-ß vorhanden ist. In Tiermodellen des Parkinsonismus findet man TGF-ß drastisch erhöht – nicht jedoch im Gehirn parkinsonkranker Menschen. Vielleicht – lautet unsere Arbeitshypothese – wirkt GDNF bei den Patienten deshalb nicht, weil es an ausreichenden Mengen von TGF-ß fehlt.
Derweil wird die TGF-ß-Mannschaft immer größer. Dazu hat auch die Entdeckung eines neuen TGF-ß durch Martina Böttner und Clemens Suter-Crazzolara aus unserer Arbeitsgruppe beigetragen. Der neu entdeckte Faktor heißt "Growth/differentiation factor 15" (GDF-15). Jens Strelau, einem weiteren Mitarbeiter in unserem Labor, ist es zu verdanken, dass wir nach einjährigem Frust ein biologisch aktives Protein und eine Maus haben, in der das Gen für GDF-15 ausgeschaltet wurde. Dies wird uns hoffentlich helfen, mehr über die biologischen Funktionen von GDF-15 zu erfahren.
GDF-15 ist der bisher potenteste Schutzfaktor für dopaminerge Nervenzellen (Nervenzellen, die Dopamin als Überträgersubstanz benutzen), auch im Parkinson-Tiermodell. GDF-15 wird im Gehirn vor allem von den Zellen hergestellt und abgegeben, welche die Hirnflüssigkeit (Liquor) produzieren. Über die inneren Hohlräume des Gehirns (die Ventrikel) wird GDF-15 verteilt. Während der Embryonalentwicklung gelangt der Faktor auch ins Hirngewebe. Gesunde Nerven- und Gliazellen produzieren ihn nur in geringen Mengen. In geschädigten Nervenzellen aber, die dem Tod entgegengehen, steigt er deutlich an. Dies hat Andreas Schober aus unserer Arbeitsgruppe herausgefunden. Ist das der Versuch einer Nervenzellrettung? Ist es "Sterbebegleitung" oder ist GDF-15 gar der Dolch, der die Zelle endgültig umbringt?
Auch die Fresszellen (Makrophagen) des Immunsystems enthalten Transformierende Wachstumsfaktoren. Das Bild zeigt einen Makrophagen mit grün gefärbten Mitochondrien und blau gefärbtem Zellkern. |
Den Paradoxien der Funktionen von TGF-ß im Nervensystem hat Kerstin Krieglstein kürzlich noch eine weitere hinzugefügt. Sie fand, dass derselbe TGF-ß, der zum Überleben von Nervenzellen beitragen kann, sie auch umbringen kann. Macht man beispielsweise mit Hilfe von Antikörpern alle drei TGF-ßs unwirksam, findet während der Entwicklung kein Nervenzell-Tod mehr statt. Dieser so genannte ontogenetische Nervenzell-Tod ist ein seit über hundert Jahren bekanntes Phänomen. Kontrolliert wird es nach Lehrbuchmeinung vor allem von neurotrophen – also das Überleben fördernden – Faktoren. Was wir jetzt erkennen, ist, dass es ein "Meister"-Molekül gibt, das im Verein mit anderen Faktoren nicht nur neurotroph sein kann – es kann ebenso ein unerbittlicher Exekutor des neuronalen Zelltods sein. Dies ist eine wichtige Botschaft für die Kliniker: Ohne TGF-ß ist auch der Tod von Nervenzellen nach einer Schädigung – beispielsweise nach der Durchtrennung ihrer Fortsätze – weitgehend blockiert.
Wie die scheinbar pardoxen biologischen Funktionen von TGF-ß molekular zustande kommen könnten, habe ich versucht, anhand der Smad-Signalkaskade zu erklären. Wie das Paradoxon von TGF-ß als Lebens- und Todessignal für Nervenzellen konkret zustande kommt, wissen wir noch nicht – aber wir arbeiten daran. Wie pflegt der Kaiser der Liberos zu sagen: "Schau'n mer mal!"
Autor:
Prof. Dr.
Klaus Unsicker
Interdisziplinäres Zentrum für Neurowissenschaften,
Abteilung Neuroanatomie, Im Neuenheimer Feld 307, 69120 Heidelberg
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