In der Schnittmenge aller Altertumswissenschaften
Professor Dr. Andrea Jördens, neue Direktorin des Heidelberger Seminars für Papyrologie, reizt das Detektivische
„Texte, die seit 2000 Jahren kein Mensch mehr gelesen hat“.
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Auch Andrea Jördens war dabei eine gefragte Gesprächspartnerin. In einem Interview mit einer großen deutschen Tageszeitung wurde sie um eine Einschätzung der jüngst in Oxford entdeckten Papyri mit Sophokles-Versen aus der altägyptischen Stadt Oxyrhynchus gebeten. Allzu hoch hängen wollte sie die Sache nicht, die antike Literaturgeschichte jedenfalls müsse jetzt nicht umgeschrieben werden. Das große Echo in den Medien – auch im Zeichen des neu erwachten Antike-Fiebers in Hollywood – habe aber zweifellos seine gute Seite, denn es sei letztlich eine Bestätigung für die grundlegende und zugleich mühsame Arbeit der Papyrologen, die oftmals übersehen werde, sagt sie. Das Etikett Historische Hilfswissenschaft möchte Jördens daher am liebsten verbieten – „es klingt ein wenig abwertend“ – und spricht viel lieber von einer Grundwissenschaft. Mit schlagkräftigen Argumenten.
„Die Papyrologie sitzt zwischen allen Stühlen oder steht in der Schnittmenge aller Altertumswissenschaften“, bringt Jördens die Stellung dieses Faches im Kontext seiner Nachbardisziplinen auf eine Formel. Rechtswissenschaftler, Sprachwissenschaftler, Religionswissenschaftler, Althistoriker – sie alle profitieren. Denn 95 Prozent aller überlieferten Papyri in griechischer Sprache sind dokumentarische Quellen: Briefe, Verträge, Rechnungen, Quittungen, Verwaltungsakten, also der gesamte alltägliche Schriftverkehr. Mit ihnen wird die Basis gelegt für neue Erkenntnisse, insbesondere im Bereich der Sozialgeschichte. Es sind schließlich die einzigen Zeugnisse aus der klassischen Antike, die sich mit dem Leben des kleinen Mannes befassen. Und da kommen dann wirkliche Neuigkeiten ans Tageslicht – wenn sie denn schließlich lesbar und in Editionen zugänglich gemacht worden sind.
Aufgrund der wenigen Stellen, die es in der Papyrologie gibt, ist der Weg dorthin nicht unbedingt planbar. Andrea Jördens hat mit Klassischer Philologie, Geschichte und Mittellatein begonnen, zunächst in Göttingen. Auf die Idee, sich schwerpunktmäßig mit der Entzifferung von Papyri zu beschäftigen, wurde sie durch einen Studienaufenthalt in Florenz gebracht. Später wurde Jördens schließlich bei Dieter Hagedorn promoviert, der die erste Heidelberger Professur für Papyrologie innehatte (und auf dessen Lehrstuhl Jördens mittlerweile sitzt). Die Habilitation erfolgte dann in Marburg, wo sie im Rahmen des Projekts „Griechische Papyrusurkunden aus Ägypten“ am dortigen Institut für Rechtsgeschichte und Papyrusforschung tätig war.
Auch wenn die Universität Heidelberg eine bedeutende Papyrus-Sammlung mit rund 11 000 Stücken besitzt, heißt das nicht, dass Andrea Jördens vor allem dort ihre Quellen findet. Im Moment ediert sie – zusammen mit einem Genfer Kollegen – griechische Papyri aus dem Louvre in Paris. Die internationale Vernetzung ist bei diesem Fach weit fortgeschritten. Jördens ist Mitglied zahlreicher Forschungsgesellschaften weltweit, darunter – als einzige Deutsche – im „International Workshop for Papyrology and Social History“ aktiv. Nächstes Jahr wird sich dieser Arbeitskreis, dem rund ein Dutzend der führenden Leute auf diesem Gebiet angehören, in Heidelberg treffen. Und diesen Standort sicher weiter aufwerten. Schon jetzt spielt die Stadt am Neckar mit dem hier (in elektronischer Form) erstellten „Heidelberger Gesamtverzeichnis“ der bisher veröffentlichten griechischen Papyrusurkunden Ägyptens eine herausragende Rolle. Die Position als „global player“, wie Jördens schmunzelnd sich ausdrückt, soll durch vergleichbare Projekte weiter gestärkt werden. Dazu gehört auch ein bei der DFG beantragtes Forschungsvorhaben mit dem Althistoriker und Prorektor Prof. Dr. Angelos Chaniotis sowie dem Rechtshistoriker Prof. Dr. Christian Baldus.
Und worin liegt der besondere Reiz in der Arbeit als Papyrologin? „Es ist das Detektivische. Es ist das Puzzlespiel“, ist sich Jördens sicher: „Dass man da Texte auf den Schreibtisch bekommt, die seit 2000 Jahren kein Mensch mehr gelesen hat, das ist schon faszinierend.“ Schnell fügt sie aber hinzu, man solle das nicht als l’art pour l’art missverstehen. Denn angesichts der Bedeutung der schriftlichen Zeugnisse für das Verständnis der Antike gehört die Beschäftigung mit ihrem Schrift- und Buchwesen zu den altertumswissenschaftlichen Kernkompetenzen. Wichtig sei es daher, den Nachbarwissenschaften die Erkenntnisse verständlich zu machen, auch die Schwellenangst vor der zunächst einmal kompliziert wirkenden Materie zu nehmen. Denn das ist, so Jördens, die „vornehmste“ Aufgabe dieser historischen Grundwissenschaft.