Das dunkle Du
Gadamer-Professur 2006 mit Wilhelm Hogrebe
Die Heidelberger Gadamer-Professur versteht sich als ein Forum, das die Einheit der Geisteswissenschaften aufzeigt. Auf Hegel geht das zurück und dessen grundlegende Einsicht, dass jede Erkenntnis letztlich eine Erkenntnis des Geistes ist. In dieser Hinsicht heben sich die Geisteswissenschaften fundamental von den Naturwissenschaften ab. Die Naturwissenschaften werden als ebenso spezialisiert wie den Geist spezialisierend empfunden. In einer von ihnen geprägten Gesellschaft entspringt daher das Projekt einer Einheit der Geisteswissenschaften dem Wunsch nach einer Einheit des Geistes. Insofern ist die Gadamer-Professur ein Projekt wider den Zeitgeist.
Im Rahmen der fünften Folge dieser alljährlich vergebenen Dozentur sprach diesmal der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe über Grenzen und Voraussetzungen des Wissens und wider den Zeitgeist. Gleich zu Beginn seines Eröffnungsvortrags kam er darauf zu sprechen. Vor allem von der Wirklichkeit des Denkens wolle man heute nichts wissen. Reduktiver Objektivismus und Naturalismus und – so wäre zu ergänzen – das automatisierte Informationsmanagement der Google-Gesellschaft vermeiden das Denken eher, als dass sie es fördern. Die unbegrenzte Verfüg-barkeit von Daten und Fakten spiegelt dem Menschen ein schier unerschöpfliches Wissen vor. Hogrebe hält dieser Entwicklung Einsichten entgegen, die er unter anderem bei Kant, Schelling, Wittgenstein und sogar bei Frege findet. Von diesen Denkern erhält er Hinweise auf das, was er selbst die ‚Deutungsnatur‘ des Menschen nennt.
Nicht etwas, das wir artikulierbar wissen, ist Fundament unseres Weltverständnisses, so Hogrebe, sondern Inhalte, zu denen wir, wie er es einmal formuliert hat, in "orphischen Bezügen" stehen. Er spricht damit eine Ebene von fundamental Verstandenem an, das sich jedem definitorischen Zugriff der Vernunft entzieht. Jeder Versuch, Begriffen wie ‚Welt‘, ‚Liebe‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ die scharfen Ränder propositionalen Wissens zu verleihen, ist zum Scheitern verurteilt. Und doch können wir mit ihnen umgehen, wir sind sogar auf sie angewiesen. Hogrebe spricht von einem diffusen, impliziten und informellen Tiefenverständnis, das als "Zusammenhangsstifter unseres Erfahrungswissens" dient und unsere "Weltstellung" begründet.
Das Interesse an diesem Ansatz war zu Beginn der Veranstaltungsreihe sehr groß, die Aula der Alten Universität bis in die letzten Reihen gefüllt. Sogar ein kleiner Junge fühlte sich vom Titel des Eröffnungsvortrags "Das dunkle Du" angezogen. Er verlies aber frühzeitig den Saal an der Hand seiner Mutter, enttäuscht, das "dunkle Du" nicht zu Gesicht bekommen zu haben. Ein wenig enttäuscht mögen am Ende der diesjährigen Gadamer-Professur auch die einen oder anderen erwachsenen Hörer gewesen sein. Denn zumindest der zweite Vortrag Hogrebes über "Schellings Theogonie als Anthropogonie" behandelte philosophische Feinheiten eines ohnehin schwer verständlichen Werkes, denen sicher viele Hörer nicht ohne weiteres folgen konnten. In diesem Fall präsentierte sich die Philosophie leider als eher exklusive Spezialwissenschaft.
Jan Schulte Holthausen