In Bezug auf Weltanschauungen und Ideologien bindungslos
Vor hundert Jahren wurde Hannah Arendt geboren – vor achtzig Jahren begann sie ihr Studium an der Ruperto Carola
Von 1926 bis 1928 studierte Hannah Arendt in Heidelberg, wo sie bei ihrem Mentor Karl Jaspers promoviert wurde. Die Titulierung „Philosophin“ lehnte Arendt stets ab, sie sah sich selbst als „politische Theoretikerin“. Ihre Arbeit nannte sie einmal das „Denken ohne Geländer“. Foto : Archiv |
Aus dem eher ländlichen Marburg war Hannah Arendt mit der Empfehlung Martin Heideggers an den Neckar gekommen, um ihr Studium bei jenem Professor fortzusetzen, der – Freund Heideggers und ursprünglich Psychiater – sich durch mitreißende Vorlesungen bereits eine große Popularität unter den Studierenden erworben hatte. Neben Philosophie studiert sie Evangelische Theologie und Griechisch.
Jaspers nähert sich den Grundfragen nicht über ausgetretene Pfade, sondern entwickelt seine Philosophie als eine Form des Handelns, die den konkreten Menschen einbezieht. „Philosophieren ist wirklich, wenn es ein Einzelleben in einem gegebenen Augenblick durchdringt“, so Jaspers. Diese konkrete Betroffenheit impliziert einen neuen Ansatz, den Hannah Arendt für ihr eigenes theoretisches Werk übernehmen wird. Über diese praktisch gelebte Philosophie hat sie später gesagt: Jaspers habe nicht einfach „sein Werk der Öffentlichkeit übergeben“, sondern mit seiner ganzen Person sein Denken und Handeln öffentlich vertreten.
Neben Jaspers trägt vor allem Kurt Blumenfeld dazu bei, dass Hannah Arendt sich mit politischen Fragestellungen auseinanderzusetzen beginnt. Den Präsidenten der zionistischen Vereinigung Deutschlands, den sie später ihren „Mentor in Sachen Politik“ nennen wird, lernt sie in Heidelberg kennen und beschäftigt sich in der Folgezeit mit ihrem eigenen Judentum sowie dessen Geschichte in Europa. Ihrer Jaspers vorgelegte Dissertation über den „Liebesbegriff bei Augustin“ (1928) folgt die erste Arbeit zu diesem Themenkomplex – „Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“.
Ihr politischer und philosophischer Diskurs mit Blumenfeld, Jaspers sowie dem einstigen Heidelberger Kommilitonen Hans Jonas wird zunächst von jenen finsteren Zeiten unterbrochen, die sie 1933 zur Flucht veranlassen. In den USA erfährt sie bereits 1943 vom Ausmaß und der besonderen Qualität der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Die Hintergründe dieses in der Geschichte einzigartigen, nicht jedoch geschichtslosen industriellen Massenmordes – Mord um des Mordes willen, Terror als Gesetz einer radikalen Rassenideologie – arbeitet sie in der bahnbrechenden Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) heraus, mit der sie sich als Theoretikerin politischer Herrschaft etabliert und zur gefragten Dozentin und Mitarbeiterin jüdischer Hilfsorganisation wird.
Jaspers, wegen seiner Ehe mit einer Jüdin ab 1937 mit Lehr- und Publikationsverbot belegt, beteiligt sich ab 1945 am akademischen Wiederaufbau und wirkt wesentlich an der Neueröffnung der Universität Heidelberg mit, die sich in ihrem Statut „dem lebendigen Geist der Wahrheit, Gerechtigkeit und Humanität“ verpflichtet. Sein erster Brief an Hannah Arendt im Oktober 1945 schlägt ein neues Kapitel im Diskurs der beiden Wissenschaftler auf. Arendts Arbeit würdigend, schreibt Jaspers: „Sie haben, so scheint mir, unbeirrbar eine Substanz bewahrt, ob Sie in Königsberg, Heidelberg oder Amerika oder Paris sind“. Es beginnt ein reger, stets freundschaftlicher und zugleich sachlich konzentrierter Austausch über die jeweilige Forschungsarbeit, über aktuelle Themen der Tagespolitik und vor allem über die Behandlung des Nationalsozialismus in der deutschen Öffentlichkeit. Beide widmen sich der Frage einer Kollektivschuld der Deutschen: Jaspers in seinem viel beachteten Buch „Die Schuldfrage“, Arendt in ihrem Aufsatz „Organisierte Schuld“ für die von Jaspers und dem Politologen Dolf Sternberger herausgegebene Zeitschrift „Die Wandlung“.
Die Untersuchung der Systematik der NS-Herrschaft bringt die beiden Denker gerade in Zeiten äußerer Anfeindungen einander näher. Im Verlauf der von jüdischen Verbänden betriebenen Kampagne gegen Arendts Bericht über den Prozess gegen den SS-Offizier Eichmann in Jerusalem (1961), den sie als Berichterstatterin des „New Yorker“ vor Ort verfolgt, ist es vor allem Karl Jaspers, der ihr den Rücken stärkt. Jaspers’ Fähigkeit zum unbedingten, rückhaltlosen Sprechen wird zum „stärksten Nachkriegserlebnis“ für Hannah Arendt: „Wo Jaspers hinkommt und spricht, da wird es hell“. Jaspers wiederum schätzt an seiner einstigen Studentin, „dass sie sich an keine Ideologie, keine Weltanschauung, keine philosophische Richtung oder an irgendwelche Normen und Werte, die mit den Anspruch auf universale Gültigkeit auftraten, band“. (Hans Saner, Assistent Jaspers’).
Für die Emigrierte, die Deutschland ab 1949 mehrfach zur Bibliotheksrecherche, zu Vorträgen und zu Besuchen bei Freunden bereiste, bildete der Freundeskreis die Heimat in der Fremde, davon zeugen ihre umfangreichen Briefwechsel, die lebendige Geschichtsschreibung und höchst aktuelle Anleitung zu gelebter Demokratie zugleich sind. Hannah Arendt, die am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren wurde, starb am 4. Dezember 1975 in ihrer New Yorker Wohnung.