Kann man alte Dichter heute noch neu lesen?
Herr Professor Reuß, wir haben da mal eine Frage ...
Ohne Fragen keine Wissenschaft. Die Redaktion des Unispiegels nimmt diesen Grundsatz ernst und bittet Heidelberger Wissenschaftler um Antwort. Wir fragen direkt, zielen mitten hinein in unser aller Leben und sind dabei von grenzenloser Neugierde getrieben.
Foto: Gattner
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Selbstverständlich – und dies nicht nur deshalb, weil sich (ein Gemeinplatz) die Interpretationen im Laufe der Zeit ändern, sondern vor allem deshalb, weil wir die Quellen, auf denen diese Deutungen fußen, immer genauer erschließen und angemessener darstellen können.
Wir begreifen heute zunehmend besser, dass die Materialität (welches Papier, welches Heft, Bleistift oder Tinte, Füller oder Kugelschreiber oder, neuerdings: Computer) für das Verständnis des ›Sinns‹ einer Überlieferung eine entscheidende Bedeutung hat. Moderne Edition im Bereich der Literaturwissenschaft hat daher nicht nur die Aufgabe, einen ›zitierfähigen‹ Text herzustellen, sondern darüber hinaus die materiale Basis der Texte, etwa über Faksimilierung und zeilen- und zeichengetreue Umschrift, zu sichern und begreiflich zu machen.
Durch die neuen Verfahren, die durch den Einzug des Computers in die Editionspraxis möglich wurden (Computersatz und digitale Bildbearbeitung), lassen sich nun die Entstehungsprozesse der Texte auf eine Weise darstellen, die vor fünfzig Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Hölderlin, Kleist und Kafka, auch die Gründungsväter der Germanistik, die Brüder Grimm, Autoren, mit denen ich mich länger editorisch beschäftigt habe, schlagen auf einmal anders und näher die Augen auf. Und es zeigt sich, dass sie ohne genaue Kenntnis der Entstehung nur sehr unvollkommen zu verstehen sind. Die Einsicht Nietzsches, ausgesprochen in einem Brief an seinen Sekretär Köselitz: »unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, kann man gar nicht wörtlich genug verstehen.
So spielt etwa bei Hölderlin wie bei Kafka das Papierformat eine wichtige Rolle bei der Niederschrift. Die großen Manuskriptsammlungen Hölderlins, das »Stuttgarter Foliobuch« und das »Homburger Folioheft« enthalten Entwürfe, die nur an ihrem Ort innerhalb dieser Konvolute zu studieren sind und nicht in einem linear fortlaufenden Lesetext, wie man ihn lange Zeit als das Maß aller Dinge angesehen hat. Man muss wissen (und sehen), auf welcher Doppelseite und wo dort genau etwas steht, um die zarten Kommunikationslinien zu begreifen, die zwischen den einzelnen Hölderlinschen Entwurfsinseln bestehen.
Ähnlich bei Kafka, dessen Edition ich gemeinsam mit Peter Staengle am Germanistischen Seminar erarbeite: Der Wechsel von umfangreicheren Projekten (»Der Verschollene« und »Der Process«) zu kleineren Einheiten hängt direkt mit einem Wechsel der Schreibmaterialien zusammen, den Kafka 1916/17 vollzog. Von den größeren Quartheften und Tinte ging er zu den kleineren Oktavheften und Bleistift über. Von seiner Schwester hatte er ein kleines Zimmer auf der Kleinseite angemietet bekommen, auf das er sich abends, die Moldau überquerend, immer zum Schreiben zurückzog.
Die äußere Mobilität führte direkt zu einem mobileren, kleinteiligeren Schreiben und auch hier wird die Konstruktion der Entwürfe und die Änderung der Schreibweise erst sinnfällig, wenn man sie in einer Edition vor Augen hat, die die innerhandschriftlichen Zusammenhänge angemessen wiedergibt.
Die Germanisten und Nicht-Germanisten häufig abschreckende Institution des so genannten Apparats – eine Art ausgelagerter textkritischer Rumpelkammer – wird in unseren Editionen obsolet. Alles, was zum Verständnis einer Überlieferung notwendig ist, zeigt sich an der Gegenüberstellung von Faksimile und standgenauer Umschrift und wird gewissermaßen an Ort und Stelle notiert, überprüf- und diskutierbar. Nicht nur neu lässt sich hier lesen, sondern häufig überhaupt zum ersten Mal.
Wir begreifen heute zunehmend besser, dass die Materialität (welches Papier, welches Heft, Bleistift oder Tinte, Füller oder Kugelschreiber oder, neuerdings: Computer) für das Verständnis des ›Sinns‹ einer Überlieferung eine entscheidende Bedeutung hat. Moderne Edition im Bereich der Literaturwissenschaft hat daher nicht nur die Aufgabe, einen ›zitierfähigen‹ Text herzustellen, sondern darüber hinaus die materiale Basis der Texte, etwa über Faksimilierung und zeilen- und zeichengetreue Umschrift, zu sichern und begreiflich zu machen.
Durch die neuen Verfahren, die durch den Einzug des Computers in die Editionspraxis möglich wurden (Computersatz und digitale Bildbearbeitung), lassen sich nun die Entstehungsprozesse der Texte auf eine Weise darstellen, die vor fünfzig Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Hölderlin, Kleist und Kafka, auch die Gründungsväter der Germanistik, die Brüder Grimm, Autoren, mit denen ich mich länger editorisch beschäftigt habe, schlagen auf einmal anders und näher die Augen auf. Und es zeigt sich, dass sie ohne genaue Kenntnis der Entstehung nur sehr unvollkommen zu verstehen sind. Die Einsicht Nietzsches, ausgesprochen in einem Brief an seinen Sekretär Köselitz: »unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«, kann man gar nicht wörtlich genug verstehen.
So spielt etwa bei Hölderlin wie bei Kafka das Papierformat eine wichtige Rolle bei der Niederschrift. Die großen Manuskriptsammlungen Hölderlins, das »Stuttgarter Foliobuch« und das »Homburger Folioheft« enthalten Entwürfe, die nur an ihrem Ort innerhalb dieser Konvolute zu studieren sind und nicht in einem linear fortlaufenden Lesetext, wie man ihn lange Zeit als das Maß aller Dinge angesehen hat. Man muss wissen (und sehen), auf welcher Doppelseite und wo dort genau etwas steht, um die zarten Kommunikationslinien zu begreifen, die zwischen den einzelnen Hölderlinschen Entwurfsinseln bestehen.
Ähnlich bei Kafka, dessen Edition ich gemeinsam mit Peter Staengle am Germanistischen Seminar erarbeite: Der Wechsel von umfangreicheren Projekten (»Der Verschollene« und »Der Process«) zu kleineren Einheiten hängt direkt mit einem Wechsel der Schreibmaterialien zusammen, den Kafka 1916/17 vollzog. Von den größeren Quartheften und Tinte ging er zu den kleineren Oktavheften und Bleistift über. Von seiner Schwester hatte er ein kleines Zimmer auf der Kleinseite angemietet bekommen, auf das er sich abends, die Moldau überquerend, immer zum Schreiben zurückzog.
Die äußere Mobilität führte direkt zu einem mobileren, kleinteiligeren Schreiben und auch hier wird die Konstruktion der Entwürfe und die Änderung der Schreibweise erst sinnfällig, wenn man sie in einer Edition vor Augen hat, die die innerhandschriftlichen Zusammenhänge angemessen wiedergibt.
Die Germanisten und Nicht-Germanisten häufig abschreckende Institution des so genannten Apparats – eine Art ausgelagerter textkritischer Rumpelkammer – wird in unseren Editionen obsolet. Alles, was zum Verständnis einer Überlieferung notwendig ist, zeigt sich an der Gegenüberstellung von Faksimile und standgenauer Umschrift und wird gewissermaßen an Ort und Stelle notiert, überprüf- und diskutierbar. Nicht nur neu lässt sich hier lesen, sondern häufig überhaupt zum ersten Mal.
Roland Reuß ist seit 2007 Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft. Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen: Theorie der Edition, Hölderlin, Kafka, Kleist, Romantik, Paul Celan, Digitale Medien. Zusammen mit Dr. Peter Staengle hat er sich vor allem als Herausgeber der Werke von Heinrich v. Kleist und Franz Kafka einen Namen gemacht; in diesen Tagen erscheinen eine Faksimile-Ausgabe von „Der Proz/cess“ sowie die „Oxforder Oktavhefte 3 & 4“. Zusammen mit Studierenden wurde in diesem Semester außerdem eine Kafka-Ausstellung in der UB Heidelberg auf die Beine gestellt (siehe diese Ausgabe Seite 6).
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