Wenn Physiker wieder zu Philosophen werden
Einst war die Physik Teil der Philosophie. Allerdings gab es – wenn man einmal von Archimedes absieht – keine Physiker, die sie betrieben hätten. Physik ohne Physiker? Das klingt zumindest eigenartig, wie auch Erhard Scheibe meint: „Eben deswegen kommt einem heute diese alte Physik auch etwas merkwürdig vor.“
Erhard Scheibe, emeritierter Professor für Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Heidelberg, ist Autor eines wahrlich fächerübergreifenden Buches, das die erste Gesamtdarstellung der Philosophie der Physiker überhaupt bietet. Dabei konzentriert er sich speziell auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der es zahlreiche Physiker als ihre Pflicht ansahen, ihre Arbeit auch philosophisch zu betrachten.
Und tatsächlich – sieht man genauer hin, kommt eine ansehnliche Liste zusammen. Diese reicht von Hermann Helmholtz und Ludwig Boltzmann über Max Planck, David Hilbert, Albert Einstein, Niels Bohr und Erwin Schrödinger bis zu Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker.
Vor allem die fundamentalen Umwälzungen der Physik – man denke nur an die Relativitäts- und Quantentheorie – waren es, die Physiker zu Philosophen werden ließen. So soll schon Adolf von Harnack – der bedeutende Kirchenhistoriker starb übrigens im Juni 1930 in Heidelberg – gesagt haben: "Die Philosophen sitzen jetzt nur in der anderen Fakultät, sie heißen Planck und Einstein."
Albert Einstein war es denn auch, der eine Begründung dafür lieferte, warum er und seine Kollegen die Philosophie nicht den Philosophen überlassen konnten. In einer Zeit, in der die Physiker über ein festes, nicht angezweifeltes System verfügten – ein Weltbild sozusagen, in dem sich die Realität in fest gefügten Bahnen abspielt, möge dies wohl in Ordnung gewesen sein, schreibt er, "nicht aber in einer Zeit, in welcher das ganze Fundament der Physik problematisch geworden ist." Nur der Physiker selbst fühle und wisse deshalb, wo ihn der Schuh drücke. Im Umkehrschluss könnte man jedoch auch die Frage aufwerfen, ob sich nicht die Philosophie hätte der Naturwissenschaft weiter öffnen müssen.
Erhard Scheibe unterwarf sich der keineswegs leichten Arbeit, anhand von Originalquellen eine Analyse dieses besonderen Verhältnisses von Physik und Philosophie zu erarbeiten. Dabei nahm der Heidelberger Autor auch eine gewisse Kategorisierung der philosophierenden Physiker vor, die ihre Wissenschaft bis heute nachhaltig prägen. Allerdings wird der Leser bei der Lektüre des ebenso spannend wie anspruchsvoll geschriebenen Buches merken, dass ein verantwortungsbewusster Physiker sehr wohl zum Philosoph werden kann. Es aber durchaus physikalische Kenntnisse braucht, um die Ansätze der Physiker auch wirklich verstehen zu können.
Heiko P. Wacker, Copyright Rhein-Neckar-Zeitung
Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. C. H. Beck Verlag München, 2006, 368 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 3-406-54271-8; 29,80 Euro.