Nach zehn Minuten kommt Wolfgang Schäuble (Foto: Anton Davydov) zum ersten Mal vom Redemanuskript ab und sagt anscheinend, was ihm so spontan in den Kopf kommt: „Das ist alles nichts Neues.“ Da referiert er gerade über den Januskopf der Religion: Motivation für karitatives Engagement einerseits und Erklärung für Kriege und Gewalt andererseits. Der Innenminister räuspert sich kurz, irritiert ob seines „Versprechers“, und macht dann ungeniert weiter.
Die Szene ist symptomatisch für diesen Mittwochabend, den Schäuble mit dem vergleichsweise sperrigen Thema „Staat und Religion in der pluralen Gesellschaft“ gestaltet. Professor Johannes Heil, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien, hatte anfangs zwar irgendwie die Hoffnung genährt, der Innenminister könnte in der voll besetzten Alten Aula der Heidelberger Universität aus dem Nähkästchen seiner alltäglichen Arbeit plaudern. So weit kommt es dann aber nicht.Dafür spricht der bekennende Protestant Schäuble eine ganze Weile über sich. Es sei wichtig, dass Menschen mit religiösem Hintergrund politisch aktive Bürger werden, um "klare Orientierung" zu geben. Denn "angesichts der großen Aufgaben, vor denen unsere Gesellschaft steht, ist vielen Menschen wieder stärker bewusst geworden, wie wichtig Werte sind". Schäuble will in den vergangenen Jahren eine zunehmende Sensibilität der Gesellschaft für "die Bedeutung religiöser Fragen" wahrgenommen haben. Sei es in den Diskussionen um einen Gottesbezug in der EU-Verfassung oder um ethische Grenzen der Stammzellforschung – auch wenn diese Debatten eher wissenschaftlich geführt worden sein dürften. Ein Wiedererstarken des Religiösen will der Innenminister aber auch in der öffentlichen Anteilnahme am Leidensweg von Papst Johannes Paul II. erkannt haben.
In der globalisierten Welt mit ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten brauche der Mensch Grenzen, lautet Schäubles These. "Der Bezug auf Gott ist eine wichtige Motivation Grenzen zu akzeptieren." Das Wissen von etwas "Unverfügbarem" – sprich: Gott – "ist eine Vorkehrung gegen Übermaß, Allmachtsphantasie und Machtmissbrauch". Hier unterbricht der Innenminister seine prinzipiellen Abhandlungen und nimmt kurz Bezug zur gegenwärtigen Finanzkrise, in der sich die "gierige Wolfsnatur" des Menschen zeige.
Missbrauch werde zudem begangen, wenn Religion als Erklärung herhalten müsse "für Fanatismus, Inhumanität, Gewalt und Terror". Schäuble scheut sich nicht, das unter Wissenschaftlern umstrittene Konzept des "Kampfes der Kulturen" zu bemühen, das er sogar in einen "Krieg der Kulturen" überspitzt. Dabei gehe es vornehmlich um die religiöse Auseinandersetzung zwischen christlich-jüdischer und islamischer Welt. Und dies sei längst nicht mehr nur ein "außenpolitisches Problem der arabischen Welt" sondern eine "innenpolitische Herausforderung, die wir lösen müssen".
Nur wie? Dialog zwischen den Religionen und Integration sind nicht nur Schäubles Stichworte. Der Innenminister hat hierzu die Islamkonferenz initiiert. Die Gesellschaft müsse daran arbeiten, sagt er, dass Menschen auf Grundlage unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse miteinander leben können – ohne dass neue Gräben aufgerissen werden. Es geht um Toleranz.
Da räuspert sich Schäuble wieder. Vielleicht weil auch er weiß, dass er mit dem Ansatz im akademischen Publikum auf offene Ohren stößt, der Praxistest außerhalb der Alten Aula aber noch ansteht.
Alexander R. Wenisch, Copyright Rhein-Neckar-Zeitung