Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

600 Jahre Universitätsgeschichte in 28 Jahren erarbeitet

Einen einzigartigen Überblick über 600 Jahre Wissenschaftsgeschichte bietet das Großprojekt „Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1986“, dessen Bedeutung weit über die Ruperto Carola als Deutschlands älteste Universität hinausreicht. Anlässlich des Erscheinens des vierten und vorläufig letzten Bandes, der 28 Jahre Arbeit an einem außergewöhnlichen Vorhaben abrundet und beschließt, unterhielt sich Dr. Oliver Fink mit den beiden Autoren Dr. Dagmar Drüll und Prof. Eike Wolgast (Fotos: Fink) über Fragebögen, Datenschutz sowie eine Neuauflage des ersten Bandes.

Im Jahr 1981 wurde die Arbeit an diesem Lexikon aufgenommen. Wie kam es seinerzeit dazu? Und welche Idee stand dahinter?

Wolgast: „Die Anregung stammte noch von meinem 1980 verstorbenen Kollegen, dem Historiker Peter Classen. Die Idee war, etwas für das 600. Universitätsjubiläum 1986 zu schaffen, das dauerhaften Bestand haben würde. Zugleich wollten wir Grundlagenforschung betreiben. Für mich gewann im Laufe der Arbeit an dem Lexikon auch der Gedanke der historischen Gerechtigkeit immer mehr an Bedeutung. Man wird ja in der Regel mit den immer gleichen prominenten Namen Heidelberger Wissenschaftler konfrontiert. Nun aber bestand die Möglichkeit, wirklich jeden zu dokumentieren, der als Professor oder – in früheren Jahrhunderten – als Magister legens in Heidelberg gewirkt hat.“

Drüll: „Es brauchte Zeit, bis wir uns im Klaren darüber waren, wie diese Biographien am besten angelegt werden sollten. Grundlagenforschung über Personalschrifttum war damals noch nicht sehr verbreitet. Entschieden haben wir uns für knappe Angaben ohne Wertungen; wichtig sind vor allem auch die ausführlichen Hinweise auf das Quellenmaterial. Dem Nutzer soll damit etwas an die Hand gegeben werden, um für eigene Fragestellungen schnell Auskunft zu erhalten, ohne selbst gleich langwierige Archivstudien betreiben zu müssen.“

Gibt es vergleichbare Lexika zu anderen Universitäten?

Drüll: „In Halle, Leipzig und Rostock beispielsweise werden solche Projekte gerade in Angriff genommen. Sie sind allerdings noch im Aufbau begriffen und lediglich im Internet verfügbar. Noch am ehesten mit Heidelberg vergleichbar sind Personenlexika für die Universitäten Marburg sowie Ingolstadt-Landshut-München. In Marburg wird allerdings der Fokus hauptsächlich auf das Wirken an diesem Ort gelegt. Wir dagegen dokumentieren viel ausführlicher den Werdegang jedes einzelnen Wissenschaftlers – beziehen den Zeitraum vor und gegebenenfalls nach der Heidelberger Station ausdrücklich mit ein.“

Wolgast: „Ergänzen könnte man noch, dass es für den Zeitraum 1933 bis 1945 tatsächlich schon eine ganze Reihe von Personenlexika zur Universitätsgeschichte gibt, aber eben nur für diesen vergleichsweise kurzen und sehr speziellen Abschnitt. Im Hinblick auf die Gesamtgeschichte steht die Ruprecht-Karls-Universität, wenn man so will, ohnehin konkurrenzlos da – 600 Jahre bis 1986 hat eben keine andere Hochschule in Deutschland zu bieten.“

Der Zugriff auf biographische Daten und deren Verfügbarkeit ist je nach Epoche ganz unterschiedlich. Für den aktuellen vierten Teil konnten beziehungsweise mussten Sie Kontakt zu noch lebenden Wissenschaftlern aufnehmen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Gelehrtenlex Druell I1

Drüll: „600 Fragebögen an lebende Wissenschaftler haben wir für das aktuelle Lexikon verschickt. Davon sind 85 Prozent zurückgekommen – ein sehr guter Wert, wie ich finde. Im Vergleich zu den anderen Bänden war diese Methode etwas vollkommen Neues. Was meine Arbeit persönlich betrifft, handelte es sich damit natürlich um den lebendigsten Band von allen: Professorinnen und Professoren sind zu mir ins Zimmer gekommen oder haben mich angerufen, um mit mir die Stationen ihres Werdegangs durchzugehen. Mitbekommen habe ich dabei nicht nur die akademischen Glanzlichter. Die überwältigende Mehrheit, auch von Angehörigen bereits verstorbener Wissenschaftler, war übrigens bei dieser Kooperation sehr zuvorkommend und hilfsbereit.“

Wolgast: „Natürlich muss man, wenn man Zeitzeugen hinzuzieht, besonders kritisch mit den Angaben umgehen. Die Gefahr, dass da Dinge – wenn auch nur unbewusst – zurechtgerückt werden, ist nicht gerade gering. Deshalb hat Frau Drüll hier im Nachhinein noch einmal genau geprüft. Transparent ist das Verfahren ohnehin – an entsprechender Stelle findet sich bei Verwendung solchen Materials der Hinweis ,eigene Angaben‘.“

Der vierte Teil umfasst auch das dunkelste Kapitel Heidelberger Universitätsgeschichte, den Zeitraum von 1933 bis 1945. Warum wurden bei der Bearbeitung eigentlich die politischen Aktivitäten der Professoren während des Dritten Reichs ausgeklammert?

Wolgast: „Nach 1945 war bekanntlich kaum jemand bereit, zu dem zu stehen, was er zwischen 1933 und 1945 getan hat. Angaben also, wie etwa die betreffende Person sei SS-Untersturmführer gewesen, hätten die notwendige Auskunfts- und Kooperationsbereitschaft betroffener Professoren oder deren Angehörigen fraglos zunichte gemacht. Solche Angaben wären mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden. Und wenn sie dann durch andere Quellen doch ans Tageslicht gekommen wären, hätten sich die Betreffenden mit allen Mitteln gegen eine Veröffentlichung gewehrt. Es wäre auch nicht nachzuvollziehen, bei den länger Verstorbenen Parteizugehörigkeit und Ämter zu nennen, während die Lebenden und bis vor zehn Jahren Verstorbenen Datenschutz genießen.“

Drüll: „Immerhin sind in den Quellenangaben ja so viele Nachweise erbracht, dass damit weiterführende Studien schnell zu bewerkstelligen sind, um auch zu solchen Fragen Auskunft zu erhalten. Im Übrigen kann davon ausgegangen werden, dass Wissenschaftler, die vor 1933 noch keine Professur innehatten, nach 1933 berufen wurden und dann nach 1945 nicht oder zeitweise nicht mehr aktiv waren, in die nationalsozialistische Diktatur verstrickt waren.“

Haben Sie bei Ihrer Arbeit am Gelehrtenlexikon eigentlich so etwas wie Entdeckungen gemacht? Beispielsweise Persönlichkeiten, die bislang noch nicht so sehr im Fokus standen?

Drüll: „Ich würde das so beantworten: Wir haben nur Entdeckungen gemacht. Nicht allein die berühmten Professoren – etwa die Nobelpreisträger im 20. Jahrhundert oder auch die großen Naturwissenschaftler im 19. wie Bunsen, Helmholtz oder Kirchhoff –, jeder der hier dokumentierten Wissenschaftler ist doch auf seine Weise etwas Besonderes. Auch die Tatsache, dass so viele durch das Lexikon dem Vergessen entrissen und damit auf gewisse Weise wieder lebendig gemacht werden, ist eine Entdeckung.“

Wolgast: „Man könnte es auch so formulieren: Die Entdeckung besteht darin, überhaupt so viele Unbekannte wieder ins Gedächtnis zurückgeholt zu haben, nicht darin, manch einzelnem im Nachhinein so etwas wie nachträgliche Berühmtheit verschafft zu haben.“

Das Lexikon endet im Jahr 1986. Da drängt sich natürlich die Frage auf: Gibt es Pläne für eine Fortsetzung?

Gelehrtenlex Wolgast I2

Wolgast: „Wir haben das diskutiert, mit dem Rektor und auch mit Prof. Werner Moritz, dem Leiter des Universitätsarchivs. Im Augenblick halten wir das für wenig sinnvoll. Ein Lexikon, das vorwiegend Biographien lebender Personen enthält, deren Lebenswerk zum großen Teil auch noch gar nicht abgeschlossen ist, hat wenig Sinn. Im 19. Jahrhundert gab es noch keinen Kürschner, kein Who’s Who – von früheren Epochen ganz abgesehen. Heute sind persönliche Daten überall präsent, etwa auf den Internetseiten der Professoren, der Universitäten oder Institute. Das würde sich nur schwer in einen Band bringen lassen, ist im Moment auch gar nicht nötig. Wenn einmal weitere 50 Jahre ins Land gegangen sind, dann kann man darüber vielleicht wieder nachdenken.“

Was aber sicher kommen wird, ist eine Neuauflage des Bandes, der den Zeitraum von 1803 bis 1932 umfasst. Das Rektorat hat hierfür inzwischen seine Unterstützung zugesagt.

Drüll: „Ja, dieser Band ist erstmals 1986 erschienen. Die Biographien dort sind weniger ausführlich als in den Folgebänden. Hier wollen wir Angaben ergänzen und manches auch korrigieren.“

Wolgast: „Dieser Band war gewissermaßen eine Art Probelauf unter enormem Zeitdruck, denn er musste bis zum Jubiläum 1986 rechtzeitig erscheinen. Kein Zweifel, er ist insgesamt untadelig. Es handelt sich um ein nützliches Nachschlagewerk und ist als solches auch aufgenommen worden. Es fehlte damals aber die Zeit, noch umfangreichere Recherchen zu betreiben. Zudem waren wir noch nicht so versiert wie bei den nachfolgenden Bänden. Die Überarbeitung soll also dazu dienen, ihn den anderen Bänden gleichwertig zu machen; ihn also auf den wissenschaftlichen Stand zu heben, den die anderen – gewonnen aus der Erfahrung mit dem ersten Band – erreicht haben.“

http://gelehrtenlexikon.uni-hd.de

Nach drei Bänden zu den Jahren 1386 bis 1933 liegt nun mit Band 4 als vorläufiger Abschluss des Heidelberger Gelehrtenlexikons ein Verzeichnis aller Professoren auf Etatstellen vor, die von 1933 bis 1986 ernannt wurden – also bis zum Jahr des 600. Jubiläums der Ruperto Carola, aus dessen Anlass dieses Langzeitunternehmen in Angriff genommen wurde.

Insgesamt 2843 Biographien hat Dagmar Drüll in jahrzehntelanger Arbeit sorgfältig systematisch erfasst, allein 975 sind es im zuletzt erschienenen Band. Fast zwei Drittel von ihnen konnten noch zu Lebzeiten mit einem Fragebogen begleitet werden, der das Material des Universitätsarchivs – wie Personalakten – reich ergänzt. Allerdings beantworteten nicht alle Professoren den Fragebogen; einer verweigerte sogar die Nennung seines Namens im Lexikon.

Wenig ruhmvoll im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum ist die Tatsache, dass rund ein Drittel der Professoren nach 1933 aus politischen oder „rassischen“ Gründen entlassen wurde. Auch nach 1945 sind etliche Karrierebrüche aufschlussreich. Umso bedauerlicher ist es, dass in den Biographien Ämter oder Parteizugehörigkeit während des Dritten Reiches nicht erfasst wurden. Abgesehen hiervon reichen die Einträge über einen detaillierten akademischen Lebenslauf mit Kurzbibliographie weit hinaus und geben beispielsweise Auskunft über „bedeutende Verwandte“, so dass sich – etwa bei der Theologenfamilie Rendtorff – ganze Gelehrtendynastien erahnen lassen.

Zu finden sind auch 19 Heidelberger Professorinnen, unter ihnen beispielsweise die Chemikerin Margot Becke. Sie wurde 1947 die erste planmäßige Professorin, 1961 erste Dekanin und 1966 erste Rektorin der Universität – das war zu jener Zeit bundesweit eine Premiere. Eine Zeittafel der wichtigen Daten der Universitätsgeschichte seit 1933 sowie ein chronologisches Verzeichnis der Professoren nach Fakultäten sind weitere hilfreiche Ergänzungen in diesem wertvollen Band.

Thomas Maissen (Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit an der Universität Heidelberg)