Interview mit Studienleiter Prof. Romuald Brunner und Studienkoordinator Dr. Michael Kaess
Sind psychische Probleme für Jugendliche ein Tabu-Thema?
Brunner: „Absolut, deshalb wollen wir mit den Präventionsprogrammen zur Enttabuisierung beitragen. Zum Teil kursierten unter den Schülern ganz abstruse Vorstellungen über die Art therapeutischer Hilfe. Die verspätete Inanspruchnahme von Hilfe ist jedoch ein ganz großes Problem bei Jugendlichen. Es gibt aber auch Eltern, die die Probleme ihrer Kinder bagatellisieren und nicht akzeptieren können, dass sie Hilfe brauchen. Wenn ein belastendes familiäres Umfeld an der Entstehung der psychischen Probleme beteiligt zu sein scheint, laden wir den Elternteil zu einem Gespräch ein, zu dem die Jugendlichen am ehesten Vertrauen haben und versuchen dann eine gemeinsame Basis zu finden.“
Kaess: „Wo im Rahmen unserer Studie psychische Erkrankungen im Unterricht behandelt wurden, zeigten sich die Schüler sehr offen und engagierten sich. Vor allem der Bereich Mobbing beschäftigte viele. Auf lange Sicht muss das Thema insgesamt ein fester Bestandteil der Lehrpläne werden. Es kommt darauf an, Öffentlichkeit herzustellen und den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind.“
Was passiert mit den Jugendlichen, die einen Behandlungsbedarf haben?
Kaess: „Wir haben sie an Therapeuten verwiesen und prüfen nun, ob die Vermittlung erfolgreich war. Allerdings war nur ein gutes Drittel derer, die wir zu einem Interview eingeladen hatten, auch erschienen. Offenbar war für viele der Anfahrtsweg zur Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie einfach zu weit; es scheinen aber auch Vorurteile und Angst vor Stigmatisierung hierbei eine Rolle zu spielen.“
Wo haben die Präventionsmaßnahmen nicht gegriffen?
Brunner: „Wenig oder keinen Effekt hatten die Maßnahmen auf Jungen und in den Bereichen Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Internetsucht. Sie haben nicht ausgereicht, um den in diesem Alter zunehmenden Trends entgegenzuwirken. Da hat einfach die Entwicklung in der Pubertät ihren Lauf genommen.“
Kaess: „Bei den Mädchen und dort besonders bei der Suizidprävention haben wir jedoch positive Effekte erzielt. Und Selbstmord ist in der Altersgruppe der Zehn- bis 24-Jährigen weltweit die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Bei einer Umfrage vor sechs Jahren unter den 14- bis 16-Jährigen in der Region berichteten elf Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Jungen schon von mindestens einem Suizidversuch. Fast jeder vierte Lehrer hat in seiner Klasse schon einen Selbstmordversuch erlebt.“
Wie geht es nun weiter?
Brunner: „Erst nach einem Vergleich aller Daten, die bei den europäischen Jugendlichen gesammelt wurden, können wir eine abschließende Aussage über den Erfolg der Präventionsprogramme treffen. In Deutschland läuft bereits die Etablierung einer Maßnahme: Die Lehrer nahmen ihr Training sehr gut an, deshalb haben wir es nach dem Ende der Studie auch an anderen Schulen angeboten. Dort wird es derzeit umgesetzt.“
Kaess: „Die Schule ist auch für das Training der Jugendlichen der ideale Ort, weil diese dort einen Großteil ihrer Zeit verbringen und Gleichaltrige für sie die wichtigste Bezugsgruppe darstellen. Schulbasierte Prävention wurde bislang jedoch vor allem in den USA eingesetzt. Die Studie soll dazu führen, dass sie nun auch in Europa vermehrt zum Zuge kommt.“