Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Nur bei Alkohol und Drogen ist Hopfen und Malz meist verloren

Weniger psychische Probleme bei den teilnehmenden Schülern sowie ein deutlicher Rückgang von depressiven Symptomen, selbstschädigenden Verhaltensweisen und Selbstmordgedanken besonders bei Mädchen: Die einjährige Studie „Saving and Empowering Young Lives in Europe (SEYLE): Gesundheitsförderung durch Prävention von riskanten und selbstschädigenden Verhaltensweisen“, die in Deutschland an der Heidelberger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie beheimatet war, zeigt vielversprechende Ergebnisse.

Ziel ist es, die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zu überprüfen und effiziente Programme langfristig an bundesweit allen Schulen zu etablieren. Die Studie lief unter Federführung des Karolinska-Instituts in Stockholm gleichzeitig in neun anderen EU-Staaten und Israel. Insgesamt haben über 12 000 Schüler an der Untersuchung teilgenommen.

„Es gibt ein hohes Maß an gefährdeten Jugendlichen, doch viele von ihnen kommen nicht bei den Therapeuten an“, erklärt Studienleiter Prof. Romuald Brunner: „Bei psychischen Problemen gibt es eine immer noch ausgeprägte Stigmatisierung.“ Viele Jugendliche haben Angst, von ihren Mitschülern ausgelacht zu werden. „Wir waren im Vorfeld mehrfach in den Klassen, um Aufklärung zu betreiben“, so Studienkoordinator Dr. Michael Kaess, „etwa darüber, dass die vertrauliche Kommunikation mit den Schülern und ihre Anonymität gewährleistet sind.“ Rund 70 Prozent entschlossen sich daraufhin zur Teilnahme.

Über 1400 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren waren an der Studie beteiligt. Sie kamen von 26 Gymnasien, Real- und Hauptschulen des Rhein-Neckar-Kreises und Heidelberg. Zunächst beantworteten die Acht- und Neuntklässler bei der Eingangsuntersuchung im Januar 2010 einen Fragebogen, der unter anderem die Themenbereiche Suizidgefährdung, Selbstverletzung, Angst, Depression, Delinquenz, gestörtes Essverhalten, exzessiver Medienkonsum, Schulschwänzen und Mobbing abhandelte.

Je eines von vier Präventionsprogrammen der Studie wurde den Schulen per Zufall zugeteilt. Beim sogenannten Professional Screening erhielten über 60 Prozent der Schüler aufgrund ihrer Antworten eine Einladung zu einem Interview. Bei 30 Prozent derer, die zum Termin erschienen waren, stellten die Psychiater einen Behandlungsbedarf fest.

In einem der anderen drei Präventionsprogramme nahmen rund 100 Lehrer an einem Training teil, dass sie in die Lage versetzte, betroffene Jugendliche zu erkennen und mit ihnen umzugehen („Gatekeeper-Training“). 450 Schüler wurden im Zuge von fünf Unterrichtsstunden über riskante und selbstschädigende Verhaltensweisen sowie den Umgang damit aufgeklärt („Awareness-Training“). An anderen Schulen wurden in den Klassenräumen Informationsplakate aufgehängt und den Jugendlichen Visitenkarten mit den Kontaktinformationen der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgehändigt („Minimal Intervention“).

Bei etwa 25 Prozent der Schüler, so ein erstes Ergebnis der Studie, sank die Suizidgefährdung im Laufe der Folgeuntersuchungen. Besonders bei den Mädchen verringerten sich die psychischen Probleme. Prof. Brunner betont: „Eine genaue Analyse der unterschiedlichen Gruppen und Wirkfaktoren steht noch aus. Diese ersten Ergebnisse stellen ausschließlich Tendenzen bezogen auf die Heidelberger Gesamtstichprobe dar.“ Und Dr. Kaess ergänzt: „Es fehlen noch genaue Analysen im Vergleich mit anderen EU-Staaten, die sicher noch weitere Erkenntnisse bringen werden.“

Der Ergebnisbericht als Download (pdf)

Kontakt:

Prof. Dr. Romuald Brunner
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Universitätsklinikum Heidelberg
Blumenstraße 8, 69115 Heidelberg
Telefon: 0 62 21/56-36937
E-Mail: seyle@med.uni-heidelberg.de

Siehe auch: „Mädchen haben häufiger psychische Probleme“

Siehe auch: „Wenn Schüler nicht zur Schule gehen: Welche Hilfe greift?“

Interview mit Studienleiter Prof. Romuald Brunner und Studienkoordinator Dr. Michael Kaess

Sind psychische Probleme für Jugendliche ein Tabu-Thema?

Brunner: „Absolut, deshalb wollen wir mit den Präventionsprogrammen zur Enttabuisierung beitragen. Zum Teil kursierten unter den Schülern ganz abstruse Vorstellungen über die Art therapeutischer Hilfe. Die verspätete Inanspruchnahme von Hilfe ist jedoch ein ganz großes Problem bei Jugendlichen. Es gibt aber auch Eltern, die die Probleme ihrer Kinder bagatellisieren und nicht akzeptieren können, dass sie Hilfe brauchen. Wenn ein belastendes familiäres Umfeld an der Entstehung der psychischen Probleme beteiligt zu sein scheint, laden wir den Elternteil zu einem Gespräch ein, zu dem die Jugendlichen am ehesten Vertrauen haben und versuchen dann eine gemeinsame Basis zu finden.“

Kaess: „Wo im Rahmen unserer Studie psychische Erkrankungen im Unterricht behandelt wurden, zeigten sich die Schüler sehr offen und engagierten sich. Vor allem der Bereich Mobbing beschäftigte viele. Auf lange Sicht muss das Thema insgesamt ein fester Bestandteil der Lehrpläne werden. Es kommt darauf an, Öffentlichkeit herzustellen und den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind.“

Was passiert mit den Jugendlichen, die einen Behandlungsbedarf haben?

Kaess: „Wir haben sie an Therapeuten verwiesen und prüfen nun, ob die Vermittlung erfolgreich war. Allerdings war nur ein gutes Drittel derer, die wir zu einem Interview eingeladen hatten, auch erschienen. Offenbar war für viele der Anfahrtsweg zur Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie einfach zu weit; es scheinen aber auch Vorurteile und Angst vor Stigmatisierung hierbei eine Rolle zu spielen.“

Wo haben die Präventionsmaßnahmen nicht gegriffen?

Brunner: „Wenig oder keinen Effekt hatten die Maßnahmen auf Jungen und in den Bereichen Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Internetsucht. Sie haben nicht ausgereicht, um den in diesem Alter zunehmenden Trends entgegenzuwirken. Da hat einfach die Entwicklung in der Pubertät ihren Lauf genommen.“

Kaess: „Bei den Mädchen und dort besonders bei der Suizidprävention haben wir jedoch positive Effekte erzielt. Und Selbstmord ist in der Altersgruppe der Zehn- bis 24-Jährigen weltweit die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen. Bei einer Umfrage vor sechs Jahren unter den 14- bis 16-Jährigen in der Region berichteten elf Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Jungen schon von mindestens einem Suizidversuch. Fast jeder vierte Lehrer hat in seiner Klasse schon einen Selbstmordversuch erlebt.“

Wie geht es nun weiter?

Brunner: „Erst nach einem Vergleich aller Daten, die bei den europäischen Jugendlichen gesammelt wurden, können wir eine abschließende Aussage über den Erfolg der Präventionsprogramme treffen. In Deutschland läuft bereits die Etablierung einer Maßnahme: Die Lehrer nahmen ihr Training sehr gut an, deshalb haben wir es nach dem Ende der Studie auch an anderen Schulen angeboten. Dort wird es derzeit umgesetzt.“

Kaess: „Die Schule ist auch für das Training der Jugendlichen der ideale Ort, weil diese dort einen Großteil ihrer Zeit verbringen und Gleichaltrige für sie die wichtigste Bezugsgruppe darstellen. Schulbasierte Prävention wurde bislang jedoch vor allem in den USA eingesetzt. Die Studie soll dazu führen, dass sie nun auch in Europa vermehrt zum Zuge kommt.“