Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Kosmische Kollision in Pandoras Galaxienhaufen

Die größte bisher bekannte kosmische Kollision hat sich in einem weit entfernten Galaxienhaufen namens Abell 2744 abgespielt. Das hat ein internationales Team von Wissenschaftlern herausgefunden, als es die Trümmer dieses Zusammenpralls untersuchte. Zum Einsatz kamen dabei neuartige Forschungsmethoden, die am Institut für Theoretische Astrophysik der Universität Heidelberg entwickelt wurden.

Dank dieser war es möglich, den Ablauf über einen Zeitraum von einigen hundert Millionen Jahren nachzustellen und damit zu verstehen, wie sich großräumige Strukturen im Universum entwickeln und im Zuge dessen verschiedene Arten von Materie miteinander in Wechselwirkung treten. An der Kollaboration waren Forscher aus Brasilien, Deutschland, Israel, Italien, Kanada, Schottland, Spanien, Taiwan und den USA beteiligt.

So tiefgreifend wie nie zuvor haben die Wissenschaftler den Galaxienhaufen Abell 2744 mit hochleistungsfähigen Teleskopen untersucht. Dazu wurden unter anderem das Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile, das japanische Subaru Telescope auf Hawaii sowie die Weltraumteleskope Hubble und Chandra genutzt. Mit den bei diesen Beobachtungen gewonnenen Daten konnte das Team unter Federführung des Heidelberger Astrophysikers Dr. Julian Merten drei wesentliche Komponenten von Galaxienhaufen erforschen: Galaxien und ihre Sterne, intergalaktisches Gas sowie Dunkle Materie.

Jede einzelne der insgesamt etwa 1000 Galaxien von Abell 2744 enthält viele Milliarden Sterne. Dennoch macht diese sichtbare Materie nur etwa fünf Prozent der gesamten Masse des Galaxienhaufens aus. Wie Dr. Merten erläutert, „schwimmen“ die Galaxien in einem diffus zwischen ihnen verteilten Gas. Dieses intergalaktische Gas, das zu 20 Prozent der Gesamtmasse beiträgt, wurde durch die Wirkung der Gravitationskräfte im Galaxienhaufen derart aufgeheizt, dass es vor allem Röntgenstrahlen aussendet. Die übrigen 75 Prozent und damit der größte Teil der Masse des Haufens besteht aus der mysteriösen Dunklen Materie.

Die Aufnahme zeigt den Galaxienhaufen Abell 2744. Die Abbildung kombiniert Beobachtungen im sichtbaren Licht mit den rötlich dargestellten Beobachtungen des Röntgensatelliten Chandra und den bläulich eingefärbten Wolken Dunkler Materie. Die Besonderheiten dieses Systems werden hierbei gut sichtbar wie der Klumpen Dunkler Materie ohne jegliche Sterne und Gas im Nordwesten oder der Klumpen von Galaxien und Dunkler Materie ohne Gas im Westen. (In der Astronomie sind Osten und Westen vertauscht, wie die Richtungsangabe unten rechts im Bild deutlich macht.) Die Skala gibt eine Entfernung von 250 000 Parsec an, was beinahe dem neunfachen Durchmesser des sichtbaren Teils unserer Milchstraße entspricht.
Copyright: NASA, ESA, ESO, CXC, J. Merten (Heidelberg/Bologna) & D. Coe (STScI)

Um nun die Vorgänge in Abell 2744 zu verstehen, versuchten die Forscher, die Verteilung dieser drei Bestandteile möglichst genau zu bestimmen. Während eine solche Bestimmung für Galaxien und das intergalaktische Gas relativ leicht gelingt, ist dies im Fall der Dunklen Materie wesentlich schwieriger. Sie sendet kein Licht aus sondern macht sich nur durch ihre Anziehungskraft bemerkbar. Julian Merten hat während seiner Arbeit als Doktorand an der Heidelberger Graduiertenschule für Fundamentale Physik jedoch spezielle Methoden entwickelt, um mithilfe des sogenannten Gravitationslinseneffekts die Verteilung der Dunklen Materie zu messen.

Von Bedeutung sind dabei Lichtstrahlen, die von weit hinter Abell 2744 liegenden Galaxien ausgesandt werden. Wenn diese den Galaxienhaufen durchkreuzen, wird die Anziehungskraft der ungleichmäßig verteilten Dunklen Materie spürbar. „Die Lichtstrahlen werden dabei mehr oder weniger stark verbogen, so dass die Bilder der Hintergrundgalaxien auf charakteristische Weise verzerrt erscheinen“, erklärt Merten. „Wenn wir diese Verzerrung für eine Vielzahl von Hintergrundgalaxien analysieren, kann daraus eine Art Landkarte der Verteilung Dunkler Materie erstellt werden.“

Nach dem überraschenden Ergebnis der Analyse von Abell 2744 handelt es sich um ein System aus mindestens vier einzelnen Galaxienhaufen, die über einen Zeitraum von etwa 350 Millionen Jahren aufeinandergeprallt sein müssen. „Dabei hat der Zusammenprall, der offenbar das heiße Gas und die Dunkle Materie voneinander getrennt hat, zu einer ungewöhnlichen und faszinierenden Verteilung der drei Materiearten geführt“, betont Dr. Merten.

So fanden die Wissenschaftler im Nordwesten ein Gebiet, in dem die Dunkle Materie auf ungewöhnliche Art und Weise von den anderen Komponenten getrennt wurde: Das heiße Gas eilt in ungeahnt großem Abstand der Dunklen Materie voraus, und auch die Galaxien scheinen nicht mit der Position der Dunklen Materie übereinzustimmen. Im Westen lässt sich ein Bereich ausmachen, der zwar Dunkle Materie und die zugehörigen Galaxien enthält, aber keinerlei heißes Gas. Merten: „Es scheint so, dass dieses Gas bei der Kollision komplett im Zentralbereich des Haufens abgestreift und dort zurückgelassen wurde.“

Wegen der Vielzahl ungewöhnlicher und teilweise völlig unverstandener Phänomene haben die Forscher Abell 2744 übrigens „Pandoras Galaxienhaufen“ getauft.

Kontakt:

Dr. Julian Merten
Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH)
Institut für Theoretische Astrophysik
Telefon: 0 62 21/54-89 87
E-Mail: jmerten@uni-heidelberg.de

Dr. Julian Merten über die kosmische Kollision im Campus-Report-Interview (mp3)

Zu den Forschungsergebnissen erscheint eine Veröffentlichung mit dem Titel „Creation of Cosmic Structure in the Complex Galaxy Cluster Merger Abell 2744“ in der Fachzeitschrift „Monthly Notices of the Royal Astronomical Society“. Preprint: http://arxiv.org/abs/1103.2772