Friedrich Kellner: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne: Tagebücher 1939-1945“. Wallstein Verlag: Göttingen 2011.
Von Oliver Fink
Mit der Sprache der Opfer des Nationalsozialismus beschäftigt sich Prof. Dr. Jörg Riecke schon seit Jahren. Im Zuge eines Forschungsvorhabens, das als FRONTIER-Projekt durch die Exzellenzinitiative gefördert wurde, gab der Heidelberger Linguist in Kooperation mit der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur die mehrbändige Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt heraus. Ebenfalls für großes Aufsehen sorgt jetzt die Edition der wiederentdeckten Tagebücher des hessischen Justizinspektors Friedrich Kellner.
Seine Aufzeichnungen hatte der beim Amtsgericht Laubach tätige Justizinspektor (1885 bis 1970) mit Beginn des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 begonnen. Als Quelle zur Dokumentation des politischen Geschehens dienten ihm neben den Erzählungen von Mitmenschen vor allem Zeitungen, bei deren kritischer Lektüre er manchmal geradezu detektivische Schlüsse zog – etwa indem er die große Zahl der Todesanzeigen für gefallene Soldaten hochrechnete, die in krassem Widerspruch stand zum vermeintlich verlustfreien Waffengang der Wehrmacht, wie ihn die NS-Propaganda zeitgleich verkündete.Friedrich Kellners Einstellung zum Nationalsozialismus war klar ablehnend. Die Motivation seines Schreibens lag darin, die Verlogenheit und die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur der Nachwelt zu überliefern: „Ich konnte die Nazis damals nicht in der Gegenwart bekämpfen. Also entschloss ich mich, sie in der Zukunft zu bekämpfen. Ich wollte kommenden Generationen eine Waffe gegen jedes Wiederaufleben solchen Unrechts geben“, schreibt er rückblickend.
Aus heutiger Perspektive sind die Aufzeichnungen nicht zuletzt ein aufschlussreicher Beleg dafür, dass Menschen in jener Zeit auch ohne Zugang zu exklusiven Informationen sehr wohl etwas von der „Ausrottung der Juden“, wie es Kellner explizit formuliert, wissen konnten.
Bei den zehn überlieferten Tagebüchern handelt es sich um einen „Zufallsfund“, berichtet Jörg Riecke vom Germanistischen Seminar der Ruperto Carola. In einer Ausstellung in den USA sei der Gießener Historiker Sascha Feuchert, der kurioserweise aus Laubach stammt und als Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur mit Riecke bereits die Getto-Chronik herausgegeben hatte, auf die Aufzeichnungen gestoßen – bereitgestellt von Scott Kellner, einem Enkel des hessischen Justizinspektors. „Allerdings waren in Amerika lediglich neun Bände zu finden. Den verschollenen ersten Band haben wir dann in Laubach aufgespürt. Das war ein großer Glücksfall. Ansonsten wäre die Edition unvollständig gewesen“, so der Heidelberger Sprachwissenschaftler.
Fast 700 datierte Eintragungen in Sütterlinschrift und mehr als 500 Zeitungsausschnitte enthält das Konvolut, dessen Eintragungen bis in das Jahr 1945 reichen. Versehen ist die Edition mit historiographischen und sprachwissenschaftlichen Erläuterungen. In zahlreichen Rezensionen wurde die Ausgabe zwischenzeitig als herausragende neue Quelle für die Erforschung des Nationalsozialismus bewertet.
Wie Jörg Riecke erzählt, habe er nach Veröffentlichung allerdings auch einen Brief erhalten, in dem ein Zeitzeuge das Wissen Kellners über den Holocaust in Zweifel zieht: „Er wollte die Aufzeichnungen gar als Fälschung entlarven, indem er behauptete, dass es bestimmte verwendete Ausdrücke zur Zeit Kellners noch gar nicht gab.“ Der Heidelberger Sprachwissenschaftler konnte das schnell widerlegen. Ermessen lässt sich daran aber, welche Brisanz in den Tagebüchern noch immer steckt.
Friedrich Kellner: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne: Tagebücher 1939-1945“. Wallstein Verlag: Göttingen 2011.