Von Ute von Figura
Die reine Mathematik gilt als einsame Wissenschaft. Einem Laien verständlich zu machen, womit sie sich beschäftigt – nahezu eine Sache der Unmöglichkeit. Wer weiß schon, was mit „beschränkter Kohomologie von Lie-Gruppen“, „Halbgruppen total positiver Matrizen“ oder „Mostow-Starrheit“ gemeint ist? Selbst die Kommunikation mit Mathematikern aus anderen Teilbereichen gestaltet sich bisweilen schwierig. Zu spezifisch sind die Begrifflichkeiten, zu komplex die Bedeutungswelt, die sich hinter den Fachtermini verbirgt.
Dennoch: Für Anna Wienhard (Foto: Fink), Professorin für Reine Mathematik mit dem Schwerpunkt Differenzialgeometrie an der Ruperto Carola und überdies studierte Theologin, ist ihre Wissenschaft eine der „sozialsten“ überhaupt. „Weite Teile der mathematischen Forschung basieren auf Kollaborationen, in denen sehr intensiv zusammengearbeitet wird“, so die Hochschullehrerin.Wienhard persönlich kooperiert seit Jahren mit einem Forscher der Universität Straßburg – eine Beziehung, die durch ein „enges Toleranz- und Vertrauensverhältnis“ geprägt sei. „Das braucht es, um Ideen zu äußern, die auf den ersten Blick dumm oder unsinnig erscheinen. Aus der Reibungsfläche, die hierdurch entsteht, werden viele innovative Ansätze und Lösungswege geboren.“
Nicht Fleiß allein macht also einen guten Mathematiker aus. Mindestens ebenso wichtig wie ein sorgfältiges Studium der Materie ist der Mut, in neue Richtungen zu denken. Das erfordert eine gehörige Portion Intuition und Kreativität. So mag das Ergebnis des mathematischen Forschungsprozesses zwar in einem Beweis gipfeln, der stringent und lückenlos argumentiert ist. Der Weg, um an diesen Punkt zu gelangen, ist jedoch kaum planbar und viel komplexer, als es das Ergebnis vermuten lässt. „Zu Beginn steht häufig ein mathematischer Wunschtraum“, erklärt die 35-Jährige, „doch dann muss man oft durch ein Stadium der totalen Verwirrung, bevor es einen Aha-Moment gibt und plötzlich alles sehr viel klarer wird.“
Genau dieser mathematische Forschungsprozess ist es, der Anna Wienhard besonders interessiert. Zu ergründen, warum etwas gilt und welche Ideen hinter einem Beweis stehen – hierin sieht die Wissenschaftlerin einen großen Erkenntnisgewinn. Denkstrukturen offen zu legen, das ist es auch, was sie an ihrer zweiten Leidenschaft, der Theologie, reizt. Parallel zu ihrem Mathematikstudium hat sie Evangelische Theologie studiert und anschließend ein Jahr lang als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Judentum – Christentum“ der Universität Bonn gewirkt. Untersucht hat sie dort, wie die unterschiedlichen traditionellen Denkstrukturen und -muster in beiden Religionen die Rezeption des Holocausts prägen; und welche neuen Denkstrukturen in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust geformt wurden.
Lange Zeit war die heute zweifache Mutter hin- und hergerissen zwischen ihrem Interesse an der Mathematik und der Theologie. Am Ende war es ein Seminar im siebten Semester zu dem eingangs erwähnten Phänomen der Mostow-Starrheit, das sie veranlasste, sich dauerhaft der Zahlenlehre zu verschreiben. „Diese Art der Mathematik hat mir in ihrer Ästhetik große Freude gemacht.“ Nach ihrer Promotion in Bonn, Aufenthalten an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, der Universität Basel und der University of Chicago führte sie der Weg auf eine Tenure-Track-Assistenzprofessur an die Princeton University. Seit vergangenem September lehrt und forscht sie am Mathematischen Institut der Universität Heidelberg.