Von Oliver Fink
Nicht allein dem Ziel, einen bedeutsamen altorientalischen Textbestand zu erschließen, ist ein seit Januar von der Gerda Henkel Stiftung gefördertes Editionsprojekt des Heidelberger Assyriologen Prof. Dr. Stefan Maul gewidmet. Durch das Vorhaben soll zugleich die durch Boykott und Krieg daniederliegende irakische Altorientalistik gefördert werden. Für die Identitätsbildung des politisch und gesellschaftlich instabilen Landes ist das von großer Bedeutung.
Gerade hat Stefan Maul eine Nachricht von seinem irakischen Mitarbeiter Dr. Mohamed Nouri erhalten, dass es im Augenblick wieder einmal nicht ratsam sei, das Haus zu verlassen. Nouri, der bei dem Heidelberger Assyriologen im vergangenen Jahr promoviert wurde, hält sich in Bagdad auf. Er untersucht dort Tontafeln aus dem 7. Jahrhundert vor Christus. Sie stammen aus der ehemaligen Königsresidenz Assur (Foto: Miglus), genauer: aus einem dortigen Privathaus, das als „Haus des Beschwörungspriesters“ bekannt geworden ist und die Reste einer Gelehrtenbibliothek enthielt.Unter den Funden waren mehrere Tafeln mit bisher unbekannten Passagen des Gilgamesch-Epos, das zu den ältesten Werken der Weltliteratur zählt. Zum Bestand gehören außerdem astronomische und astrologische Handbücher, medizinische Texte sowie Dokumente privatrechtlichen Inhalts wie Kauf- und Darlehensurkunden.
Stefan Maul und seine Mitarbeiter entziffern derzeit diese Keilschrifttexte, die in einer arabisch-deutschen Edition zugänglich gemacht werden sollen. In Heidelberg nutzen die Wissenschaftler dafür Fotografien der Tafeln. Eine ergänzende Untersuchung der Originale, die sich in Bagdad befinden, ist ebenfalls erforderlich. Für aus dem Westen stammende Wissenschaftler stellen solche Vor-Ort-Termine zurzeit allerdings ein nicht unerhebliches Risiko dar. Stefan Maul ist daher glücklich, mit Mohamed Nouri einen Mitarbeiter zu haben, der als Einheimischer diese Aufgabe besser beherrschen kann. Die Förderung durch die Henkel-Stiftung sieht vor, dass der in Heidelberg ausgebildete irakische Nachwuchswissenschaftler dazu regelmäßig nach Bagdad fliegt.
Die mehrwöchigen Irak-Aufenthalte dienen jedoch noch einem übergeordneten Zweck: Dortige Wissenschaftler und Museumsmitarbeiter sollen gezielt in die Forschungstätigkeit miteinbezogen, die vielfältigen Kooperationen aus der Vorkriegszeit wiederbelebt werden. „Die Altorientalistik hat im Irak eine große Tradition. Viele irakische Gelehrte haben sich früher in Europa, vor allem auch in Deutschland ausbilden lassen“, erläutert Stefan Maul. Mittlerweile seien allerdings die meisten Stellen in der Antikenverwaltung von Leuten besetzt, die nur noch den Krieg kennen: „Die sind geboren zu Kriegszeiten und haben seitdem nichts anderes als Krieg und Boykott und den Westen nur als Gegner und Besatzer erlebt. Über lange Jahre war ihnen der Zugang zu Fachliteratur verwehrt. Dementsprechend gibt es auch kaum noch Anschluss an die internationale Wissenschaftsgemeinschaft.“
Hinter dem Editionsprojekt von Stefan Maul steht daher auch ein Konzept „nachhaltiger Hilfestellung: Junge Irakis sollen, wie Mohamed Nouri, in Heidelberg ausgebildet werden und später als Multiplikatoren wirken. Das ist die Idee“.
Nach Meinung des Heidelberger Assyriologen hat ein solches Vorhaben eine eminent politische Dimension. Der Wissenschaftler sieht in der irakischen Altorientalistik nicht zuletzt einen wichtigen Faktor bei der nationalen Identitätsbildung: „Die altorientalischen Kulturen sind im Bewusstsein der Bevölkerung sehr präsent. Die archäologischen Fundorte von Assur bis Babylon, die Kunst- und Kulturschätze des leider im vergangenen Krieg geplünderten Irak-Museums im Herzen Bagdads und auch Schlüsseltexte wie das Gilgamesch-Epos werden als Teil der eigenen Kultur wahrgenommen. Jedes irakische Schulkind weiß davon.“ Die Identifizierung mit den menschheitsgeschichtlich so bedeutenden Kulturen könne letztlich, so der Heidelberger Wissenschaftler, der „gedemütigten Bevölkerung ihren Stolz zurückgeben“.
Ob die Förderung der Altorientalistik im Irak langfristig gelingt, hängt von der politischen Entwicklung in der Region ab. Trotz aller Anschläge habe sich die Situation in den letzten Jahren durchaus gebessert, dennoch sei die aktuelle Lage – etwa mit Blick auf Syrien – nicht gerade ermutigend. Professor Maul: „Wenn Herr Nouri mir mitteilt, er könne derzeit das Haus in Bagdad nicht verlassen, dann muss es schon wirklich schlimm sein. Ich wünsche mir aber natürlich, dass es doch in absehbarer Zeit zu einigermaßen stabilen Verhältnissen im Irak kommen wird und damit auch die dortige Altorientalistik wieder Anschluss an die internationale Wissenschafts-Community findet.“