Von Mirjam Mohr
Der im März 2002 im Alter von 102 Jahren verstorbene Philosoph Hans-Georg Gadamer zählt zu den prägenden Gestalten der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Seit 1949 lehrte er als Nachfolger von Karl Jaspers an der Universität Heidelberg, an der er auch noch lange nach seiner Emeritierung im Jahr 1968 wirkte. Untrennbar mit Gadamers Namen verbunden ist die philosophische Hermeneutik – sein 1960 erschienenes Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ stellt eine philosophische Grundlegung der Hermeneutik als einer universalen Theorie des Verstehens dar. Gadamers Denken beeinflusste weltweit Geisteswissenschaftler verschiedenster Ausrichtung. Wie den 1955 geborenen kanadischen Philosophen Prof. Dr. Jean Grondin, der seit 1991 am Département de philosophie der Université de Montréal lehrt und forscht. Nach dem Studium der Philosophie, Klassischen Philologie und Theologie an den Universitäten Montréal, Heidelberg und Tübingen wurde Grondin 1982 in Tübingen mit einer Arbeit zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers promoviert. Von 1982 bis 1990 lehrte er an der Université Laval, von 1990 bis 1991 an der Université d’Ottawa. Bekannt wurde Jean Grondin auch mit seiner Biografie Gadamers sowie mit zahlreichen Arbeiten zur Gadamerschen Hermeneutik. An die Ruperto Carola kommt er regelmäßig zu Forschungsaufenthalten und Besuchen.
Monsieur Grondin, wie kam es, dass Sie 1976 zum Studium nach Heidelberg gingen?„Als ich in den 1970er-Jahren in Kanada studierte, kam ein bereits emeritierter Philosoph aus Heidelberg zu Besuch an meine Universität, mit dem ich einige unbeholfene Worte wechselte: Sein Name war Hans-Georg Gadamer. Professor Gadamer schlug mir einen Studienaufenthalt in Heidelberg vor. Ich kam danach häufiger an die Ruperto Carola zurück und mein Interesse an Gadamer wuchs, so dass ich auch über ihn promovieren wollte. Da ich aber schlecht bei Gadamer eine Dissertation über Gadamer schreiben konnte, promovierte ich in Tübingen. Ich kam in dieser Zeit immer wieder nach Heidelberg, um Gadamer zu treffen und mit ihm zu diskutieren.“
Und auch nach Ihrer Promotion zog es Sie regelmäßig nach Heidelberg zurück.
„Ich erhielt zunächst eine Stelle an der Université Laval in Québec, später wurde ich Professor in Montréal – mein Herz blieb aber in Heidelberg. Ich kehrte regelmäßig zurück, um in Heidelberg zu forschen und Gadamer zu treffen. Zu Beginn der 1990er-Jahre beschloss ich, an einer Gadamer-Biografie zu arbeiten, da es bis dahin noch keine gab. Gadamer war einverstanden; und so verbrachte ich mehrere Jahre mit Freisemestern in Heidelberg, das meine zweite Heimat geworden war. Von 1989 bis 2002 nahm ich überdies jeden Sommer an einer sehr anregenden Tagung im Philosophischen Seminar mit und über Gadamer teil. Das war für mich jedes Mal der Höhepunkt des Jahres und erlaubte es mir, in die malerischen Täler Heidelbergs einzutauchen und meine Batterien aufzuladen.“
Hans-Georg Gadamer (links) mit Jean Grondin. | Foto: privat |
Vor elf Jahren starb dann Hans-Georg Gadamer im Alter von 102 Jahren.
„Das war ein Schnitt, aber meine Beziehung zu Heidelberg litt nicht darunter. Ich habe den Kontakt mit Gadamers Familie aufrechterhalten, vor allem zu seiner Witwe, die dann 2006 starb. Ich pflegte auch weiter den Kontakt zum Philosophischen Seminar, wo ich die Professoren Rüdiger Bubner und Reiner Wiehl gut kannte, die beide herausragende Gadamer-Schüler waren. 2011 verbrachte ich als Konrad-Adenauer-Preisträger der Humboldt-Stiftung erneut ein wunderschönes Sommersemester in Heidelberg, in dem ich meine Forschungen zur Hermeneutik und Metaphysik in Zusammenarbeit mit Professor Jens Halfwassen, einem ausgezeichneten Kenner des Platonismus, vertiefen konnte. Wann immer ich Gelegenheit und Zeit finde, kehre ich gerne nach Heidelberg zurück. Das wird mit den Jahren und den Verpflichtungen an meiner Heimatuniversität zwar weniger leicht, aber wenn ich in Heidelberg bin, fühle ich mich immer wieder als Student. Schon allein das ist ein guter Grund, gerne in Heidelberg zu sein!“
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Ruperto Carola beschreiben?
„Heidelberg gegenüber war und ist meine Position immer die des bewundernden Empfängers – als Student und als Forscher. In gewissem Sinn kam Heidelberg zu mir, bevor ich mich für Heidelberg entschied: Gadamer faszinierte mich, und Heidelberg war die selbstverständliche Hauptstadt der Philosophie in der Welt. Die Ruperto Carola erfreut sich einer ruhmreichen jahrhundertelangen Geschichte und ist immer noch die führende deutsche Universität. Das trifft nicht zuletzt auf die Philosophie zu: Außer Gadamer und Georg Wilhelm Friedrich Hegel wirkten dort Philosophen wie Karl Jaspers, Kuno Fischer oder Heinrich Rickert. Nach meiner Einschätzung will jeder deutsche Professor dorthin berufen werden.“
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie in Heidelberg gesammelt?
„Mit meinen Erfahrungen in Heidelberg ließe sich ein Buch füllen – aber nicht alle dürften für die Veröffentlichung geeignet sein! Ich war dort als Student, als junger Dozent, als Gadamer-Biograf und -forscher, als etwas erfahrener Forscher und Preisträger; ich habe dort viele Freunde gefunden. Die Philosophie und Gadamer-Ereignisse ragten immer hervor: Vor allem Gadamers 90. Geburtstag, zu dem mich die Heidelberger Akademie der Wissenschaften für einen Festvortrag einlud, und sein 100. Geburtstag im Jahr 2000, an dem die Ruperto Carola eine großartige Feier organisierte. Das alles waren Höhepunkte meines Lebens und meiner Forscherkarriere. Ich fühle mich einfach in Heidelberg zu Hause und preise mich glücklich deswegen. Gelegentlich empfinde ich heute bei meinen Besuchen auch Wehmut, denn Gadamer und seine Art des Philosophierens fehlen mir sehr. Um jede Ecke herum finde ich ein Lokal, ein Café oder eine Kneipe, wo ich mit ihm oder einem seiner Schüler ein Gespräch hatte – über dies oder jenes.“
Welchen Einfluss hatte Ihre Zeit in Heidelberg auf Ihre Karriere?
„Heidelberg wird hoffentlich nie hinter mir liegen – ich will immer wieder dorthin zurückkehren! Meine Karriere habe ich größtenteils meiner Heidelberger Zeit und meinen Forschungen über Gadamer und seiner Biographie zu verdanken. Ich habe nie aufgehört, die Art philosophische Forschung, die ich dort erlernt habe, zu betreiben. Ich bekam Lehrstühle in Kanada, ein Stipendium, einige nationale und internationale Auszeichnungen, die alle etwas mit meiner Gadamer-Forschung und mit Heidelberg zu tun hatten. Wenn ich heute Gastprofessor oder -redner in Südamerika oder Japan bin, will man von der Hermeneutik hören und das heißt im Grunde vom Heidelberger Geist. Gerne bin ich, wenn Sie es so wollen, eine Art Botschafter Heidelbergs. Ich verfolge übrigens auch die Neuigkeiten der Universität und lese ihre Publikationen; und hin und wieder lese ich auch im Internet die Rhein-Neckar-Zeitung.“
Empfehlen Sie einen Forschungsaufenthalt an der Ruperto Carola Ihren Studierenden oder innerhalb Ihres wissenschaftlichen Netzwerks?
„Unbedingt. Als ich dorthin ging, gab es freilich das Wort Netzwerk noch nicht. Meist schicke ich meine Studenten nach Heidelberg, damit sie zunächst Deutsch lernen (wie ich es getan habe), zweifle aber keinen Augenblick daran, dass sie sich von der Stadt und ihrem schönen liberalen Geist anstecken lassen und dort länger bleiben. So wie es mit mir geschah.“