Kruse: „Am Anfang der Studie stand – nach der konzeptionellen Vorbereitung – die briefliche Kontaktaufnahme mit den etwas mehr als 2400 Contergangeschädigten in Deutschland. Wir haben nach Rückmeldung 870 Fragebögen ausgewertet. Mit 285 Contergangeschädigten haben wir ausführliche biografische Interviews geführt. 236 Teilnehmer gaben ihr Einverständnis zur Befragung ihrer Ärzte. Zudem wurden 23 themenzentrierte Fokusgruppen gebildet, also von uns moderierte Gruppendiskussionen, an denen sich 112 Personen beteiligt haben. Unsere Aufgabe war es, uns ein Bild davon zu machen, wie gut oder schlecht die Versorgungslage der Betroffenen ist, wie es um sie heute bestellt ist und wie die Altersperspektive aussieht.“
Ding-Greiner: „Eine große Rolle spielte dabei die klinische Situation. So ging es unter anderem um die Frage, welche ursprünglichen Schäden die Probanden hatten und welche Folgeschäden dazugekommen sind. Unsere Studie zeigt auf, dass es durch kompensatorische Bewegungen an gesunden Teilen des Bewegungsapparates aufgrund fehlender Hände, Arme oder Beine zu schweren Folgeschäden wie etwa Arthrose gekommen ist, was sich vor allem auf die Feinmotorik auswirkt. Fast alle leiden zudem unter chronischen Schmerzen, die oft mit Opiaten behandelt werden müssen. Die Situation der Contergangeschädigten haben wir insgesamt als sehr desolat wahrgenommen.“
Wie haben die Betroffenen auf die Kontaktaufnahme und die Studie reagiert?
Becker: „Zunächst begegneten uns die Contergangeschädigten mit spürbarem Misstrauen. Sie argumentierten, sie seien schon ausreichend beforscht worden, bräuchten jetzt aber sofort Hilfe. Befürchtet wurden eine langwierige Studie und komplizierte Gesetzesprozesse. Doch diese Anfangsskepsis legte sich glücklicherweise schnell – nicht zuletzt auch angesichts der dann doch verhältnismäßig kurzen Projektdauer von drei Jahren, die unmittelbar in den Beschluss des Gesetzes mündete. Ein wichtiger Punkt war zudem die Anonymisierung der Daten, auf die die Betroffenen großen Wert gelegt haben.“
Stolla: „Wir haben die Teilnehmer an dieser Studie auch sehr gefordert. Immerhin umfassten unsere Fragebögen 36 Seiten – das stellte auch für unsere wissenschaftliche Auswertung eine große Herausforderung dar. Die Untersuchungen standen generell in einem hochemotionalen Kontext, das haben wir bei vielen Begegnungen immer wieder erlebt. Protestaktionen einzelner Contergangeschädigter wurden vor Start unserer Studie auch schon in Form eines Hungerstreiks zur Einforderung einer Entschädigung unternommen. Die Verbitterung über das Pharmaunternehmen Grünenthal, das in den 1950er-Jahren Contergan auf den Markt gebracht hat, ist unverändert hoch; und die Schuldfrage spielt weiterhin eine große Rolle. Eine vertrauensbildende Maßnahme von unserer Seite war es zu zeigen, dass wir vollkommen unabhängig agieren.“
Welche Bedeutung hatte es, dass Sie als Gerontologen den Zuschlag für diese Studie bekommen haben?
Ding-Greiner: „Ein wichtiges Ergebnis unserer Studie ist, dass sich die Contergangeschädigten gerade in einer existenziellen Umbruchphase befinden. Die Betroffenen haben von Kindesbeinen an eine bemerkenswerte psychische Anpassungsfähigkeit und Kreativität entwickelt, auffällig sind auch der überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad und die streckenweise hervorragende Berufsausbildung. Doch mit den bereits angesprochenen Kompensationsstrategien kommen viele Contergangeschädigte mittlerweile an ihre physischen Grenzen, beginnt für sie in einem gewissen Sinne bereits jetzt das hohe Alter, obwohl sie erst Mitte fünfzig sind. Des Öfteren wurden wir mit Aussagen konfrontiert wie: Wir fühlen uns wie Achtzigjährige.“
Kruse: „Die Gerontologie beschäftigt sich ja nicht nur mit dem Alter sondern mit Alterungsprozessen über weite Phasen des Lebenslaufs. Dabei stellen wir immer die Frage: Wie können wir rechtzeitig intervenieren, um Alternsprozesse positiv zu beeinflussen? Dazu gehören mit Blick auf contergangeschädigte Frauen und Männer die rechtzeitig einsetzende Rehabilitation, weiterhin Versorgungs- und Assistenzleistungen ebenso wie die soziale Integration oder die finanzielle Absicherung. Wir beschäftigen uns mit Fragen der Rehabilitation und der Plastizität. Da geht es unter anderem darum, wie wir durch gezielte Trainingsmaßnahmen systematische Leistungsveränderungen herbeiführen können. Wenn wir wieder auf die contergangeschädigten Frauen und Männer und unsere Untersuchung zurückkommen: Angelegt ist unsere Untersuchung ja als Follow-up-Studie. In definierten Zeiträumen soll eine Neuauflage stattfinden. Dann, denke ich, werden wahrscheinlich die Assistenzleistungen mehr im Zentrum stehen, oder beispielsweise auch Finanzhilfen beim Wohnungsumbau. Ich fände es schön und dem Bedürfnis vieler contergangeschädigter Frauen und Männer angemessen, wenn sich unser Institut zu einer Art Beratungsstelle für Contergan entwickeln könnte, an die sich Ärzte, Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter und Contergangeschädigte gezielt wenden können.“
Auch bei anderen Projekten – etwa im Bereich der Demenzforschung oder in der Beschäftigung mit Holocaust-Opfern – haben Sie in Ihrem Institut bereits sehr anwendungsorientiert gearbeitet und teilweise auch Handlungsempfehlungen für die Politik formuliert. Wie würden Sie die Conterganstudie in diesen Kontext einordnen?
Kruse: „Aus fachlicher und ethischer, aber auch aus logistischer Sicht war das eine der anspruchsvollsten Studien, die unserem Institut in den letzten zehn Jahren aufgegeben waren. Hinzu kommt die seltene Erfahrung, dass mehr oder minder alle Empfehlungen, die wir in dieser Studie ausgesprochen haben, in den Gesetzestext aufgenommen wurden – die Präambel des Gesetzes bezieht sich ganz ausdrücklich auf unser Institut und die von uns vorgelegten Befunde. Viele Politiker, aber auch Betroffene haben uns gesagt, dass es mit dieser Studie gelungen sei, Konflikte innerhalb der Gruppe der Contergangeschädigten und der verschiedenen Verbände und Organisationen zu befrieden. Und auch in den Anhörungen des Deutschen Bundestages, die wir bestritten haben, wurde uns das immer wieder bedeutet. Ich glaube, dass es einer der schönsten Erfolge eines Wissenschaftlers ist, wenn man Anteil an gesellschaftlichen Verbesserungen hat und wenn auf der Grundlage eigener Forschungsergebnisse quasi ein Gesetz geschrieben wird.“
Der Contergan-Skandal gilt als größter Arzneimittelskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte. 1957 brachte das Pharmaunternehmen Grünenthal das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid auf den Markt, das viele Schwangere einnahmen. Als ein Zusammenhang zwischen Fehlbildungen von Neugeborenen und der Einnahme von Contergan festgestellt wurde, wurde das Mittel 1961 vom Markt genommen. Allein in Deutschland kamen rund 5000 Kinder mit zum Teil schweren Missbildungen zur Welt. Etwa 40 Prozent starben kurz nach der Geburt oder im Säuglingsalter. Die überlebenden Contergangeschädigten sind heute über 50 Jahre alt – in Deutschland leben etwa 2400 von ihnen.
1972 trat das Gesetz zur Einrichtung der Conterganstiftung in Kraft, mit dem die Betroffenen eine Entschädigung sowie eine lebenslange monatliche Rente je nach Grad der Schädigung erhielten. Die Kosten trugen jeweils zur Hälfte die Firma Grünenthal und der Bund. 1997 waren die Vermögenswerte der Stiftung jedoch aufgebraucht, seither werden die Rentenzahlungen vollständig aus dem Bundeshaushalt bestritten. Ende 2008 forderte ein parteiübergreifender Entschließungsantrag des Bundestags eine Studie zur künftigen Versorgungssituation. Die Conterganstiftung vergab den Auftrag dafür im Juni 2010 nach einer Ausschreibung an das Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg und ihren Direktor Prof. Dr. Andreas Kruse. Er gilt als einer der führenden Alternsforscher Deutschlands und ist Mitglied in mehreren nationalen und internationalen Kommissionen. Unter anderem ist er Vorsitzender der Altenberichtskommission der Bundesregierung und der Zukunftskommission der Bundeskanzlerin. An der Studie mit dem Titel „Wiederholt durchzuführende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen und Versorgungsdefiziten von contergangeschädigten Menschen“ waren außerdem die beiden Medizinerinnen Dr. Christina Ding-Greiner und Dr. Gabriele Becker sowie die Diplom-Soziologin Christine Stolla vom Institut für Gerontologie beteiligt.
Auf der Grundlage der Studie verabschiedete der Bundestag am 25. April 2013 einstimmig das Dritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes, das am 1. August 2013 in Kraft trat. Die Gesetzesänderung sieht unter anderem eine Erhöhung der Renten auf einen Höchstbetrag von 6912 Euro vor. Der Bund stellt dafür 90 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es jährlich 30 Millionen Euro für zusätzliche medizinische Leistungen, etwa spezielle Heilbehandlungen. Die Erhöhung der Rentenzahlungen erfolgt rückwirkend zum 1. Januar 2013.