Von Till Seemann
Wir schreiben den 23. März 1965. Im süddeutschen Heidenheim starren die Augen des elfjährigen Gerhard Thiele gespannt auf das brandneue Schwarz-Weiß-Fernsehgerät der Eltern. Viele Tausend Kilometer westlich – und weltweit im Fernsehen übertragen – erhebt sich im US-amerikanischen Cape Canaveral das NASA-Raumschiff Molly Brown im Zuge der Gemini 3-Mission in den Himmel. Die Live-Übertragung markiert für Thiele den Beginn einer lebenslangen Weltall-Faszination, die den Alumnus der Universität Heidelberg viele Jahre später selbst in den Weltraum führt (Foto: NASA).
Zunächst jedoch stehen erst einmal Pflicht-Stationen eines Heranwachsenden an: Schulbesuch in den 1960-ern, Abitur 1972, vier Jahre als Zeitsoldat bei der Bundesmarine und ein Studium der Physik ab 1976 in München. Nach dem Vordiplom 1978 der Wechsel in die Studentenstadt am Neckar, deren Lebensqualität Thiele genauso zu schätzen lernt wie den Käsekuchen in der Zentralmensa.Das Studium an der Ruperto Carola beschreibt Thiele im Gespräch als fordernd wie auch fördernd. „Ich kann mich an eine Vorlesung am Max-Planck-Institut für Kernphysik erinnern. Die Aussage des Dozenten war: Wenn man sich für ein bestimmtes Thema interessiert, davon aber nichts versteht, dann gibt man dazu am besten ein Seminar. Das nahm mir die Scheu, mich mit komplexen Wissenschaftsfeldern zu beschäftigen. Solche Erlebnisse gab es in Heidelberg sehr häufig.“
Zwischen 1978 und 1981 verbringt Gerhard Thiele viel Zeit im Neuenheimer Feld und am Max-Planck-Institut für Astronomie, an dem er seine Diplomarbeit schreibt. Nach einer einjährigen Reise durch Mittelamerika beginnt er 1982 eine Doktorarbeit über die Zirkulation der Ozeane am Institut für Umweltphysik der Universität Heidelberg.
Aber wie gelangt man als promovierter Umweltphysiker ins Weltall? „Eine klassische Ausbildung gibt es in diesem Fall natürlich nicht“, erklärt Thiele, „mit meinem Doktortitel in einem naturwissenschaftlichen Fach und der medizinisch-psychologischen Eignung erfüllte ich jedoch zwei wichtige Bewerbungskriterien.“ 1985 schaltet die Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt – die Vorgängerorganisation des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) – Anzeigen in Tageszeitungen, mit denen sie nach potenziellen Wissenschaftsastronauten sucht. Und dem frisch promovierten Thiele, ohnehin an der Ausschreibung interessiert, kommt ein großer Zufall zur Hilfe: In der Stuttgarter Innenstadt begegnet er Ernst Messerschmidt, der wenige Monate zuvor als Astronaut an der ersten deutschen Spacelab-Mission teilgenommen hat, und ihm wichtige Tipps für die Bewerbung gibt.
Von 1799 Kandidaten werden schließlich fünf ausgewählt und über viele Jahre und Stationen auf ihre Einsätze vorbereitet. 35 Jahre nach dem Gemini 3-Fernseherlebnis wird Gerhard Thieles Raumflugtraum endlich Wirklichkeit: Am 11. Februar 2000 startet das Shuttle Endeavour zur „Shuttle Radar Topography Mission“ mit Thiele und fünf weiteren Astronauten an Bord. Die Mission – die Vermessung der Erdoberfläche mittels Radar aus einer Höhe von 235 Kilometern – wird ein großer Erfolg, und nach elf Tagen, fünf Stunden und 39 Minuten im Weltall kehrt die Crew zur Erde zurück.
Anschließend arbeitet Thiele als Capsule Communicator für die NASA in Houston. „Bekannt ist diese Funktion durch die Ereignisse um Apollo 13 im Jahr 1970“, erzählt er: „Der CapCom empfing damals den berühmten Funkruf ,Houston, wir haben ein Problem‘.“ Eine Reihe von Verzögerungen, die unter anderem durch das Unglück der Raumfähre Columbia im Jahr 2003 hervorgerufen werden, verhindern allerdings einen weiteren Weltraumflug Thieles. Nach Stationen in Köln, Wien und Darmstadt arbeitet er heute im Direktorat für Human Space Flight and Operations der Europäischen Weltraumagentur ESA in Noordwijk in den Niederlanden.
In einem Vortrag bezeichnete Gerhard Thiele die Raumfahrt kürzlich als die natürliche Konsequenz daraus, dass Menschen nach Erkenntnisgewinn und auch Abenteuer streben. In Heidelberg können Studierende offenbar beides finden.
Interview mit Dr. Gerhard Thiele: „Handschuhsheim wurde so etwas wie mein zweites Wohnzimmer“