Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Er zog die NS-Verbrecher zur Rechenschaft

Von Mirjam Mohr

Vor 50 Jahren, im Dezember 1963, begann in Frankfurt am Main der erste Auschwitz-Prozess. Die insgesamt sechs Prozesse gegen Mitglieder der Lagermannschaft des Vernichtungslagers spielten eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands und stellten einen Wendepunkt im Umgang mit Straftaten des NS-Regimes dar. Treibende Kraft hinter den Prozessen war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, den Robert Kempner, der Ankläger der Nürnberger Prozesse, als den „größten Botschafter, den die BRD hatte“ bezeichnete. Der wegen seines gesellschaftspolitischen Engagements in der Nachkriegszeit stark angefeindete Jurist studierte in den 1920er-Jahren in Heidelberg Jura.

Geprägt wurde Bauer dabei von den Schriften des großen Heidelberger Rechtswissenschaftlers Gustav Radbruch, dessen Konzept des „Juristen aus Freiheitssinn“ maßgeblich für sein berufliches Handeln wurde. „Fritz Bauer hielt der westdeutschen Wirtschaftswunder-Gesellschaft in der Ära Adenauer den Spiegel vor, in den viele Deutsche nicht gern schauten“, schreibt die Historikerin Irmtrud Wojak in ihrer Biographie. Wie kaum ein anderer trieb der humanistischen Idealen verpflichtete Jurist die Aufarbeitung der NS-Verbrechen voran, die er als unerlässlich für einen demokratischen Neubeginn ansah.

Dabei ging es ihm weniger um die Bestrafung der Täter als vielmehr um eine Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit der Frage, wie es in ihrer Mitte zu einem Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust hatte kommen können. Um mit dieser „Selbstaufklärung“ ähnlichen Entwicklungen in der Zukunft vorzubeugen.

Nach Heidelberg kam der 1903 in Stuttgart geborene Sohn einer jüdischen Familie im Sommersemester 1921. In einer Zeit, da sich der Antisemitismus vor allem unter Studenten bereits ausbreitete, wählte Bauer die Ruperto Carola mit ihrem damals relativ liberalen und kaum antisemitischen Klima, „um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen“, wie ihn Wojak zitiert. 1922 wechselte er jedoch nach München, was „auch mit dem Ärger oder gar Tiefschlag zu tun gehabt haben“ mag, „den er erlitt, als man ihn als Juden bei einem studentischen Sportclub in Heidelberg abwies.“

Historische Aufnahme der Augustinergasse – in der Bildmitte das Gebäude, in dem sich zu Bauers Studienzeit das Juristische Seminar befand.
Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg

Zum Sommersemester 1923 kehrte Bauer nach Heidelberg zurück – geprägt von seiner Begeisterung für Radbruch, der vor seiner Zeit als Justizminister der Weimarer Republik in Heidelberg gelehrt hatte, aber erst 1926 wieder einen Lehrstuhl am Neckar einnahm. Bauer konnte somit nicht bei ihm studieren, fühlte sich aber von Radbruchs Schriften in seinem kritischen Denken bestärkt: Radbruchs „Einführung in die Rechtswissenschaft“ habe er „bewegt, begeistert in den Wäldern rings um das Schloss“ gelesen, erinnerte sich Bauer. Er identifizierte sich mit der von Radbruch entwickelten Figur des „Juristen aus Freiheitssinn“, im Unterschied zum „Juristen aus Ordnungssinn“, dessen Rechtsauffassung sich an den Belangen des Staates und nicht an der Freiheit des Einzelnen orientiert. Ein Jurist aus Freiheitssinn war für Bauer ein Anwalt „des Rechts der Menschen und ihrer sozialen Existenz gegen private und staatliche Willkür“.

Bauer besuchte auch Veranstaltungen bei dem Rechtswissenschaftler Karl Geiler, der 1945 der erste Ministerpräsident Hessens und 1948 Rektor der Ruperto Carola wurde. Und trotz Bauers Wechsel nach Tübingen, wo er das Examen ablegte, wurde Geiler sein Doktorvater. Die Promotion erhielt das Prädikat „magna cum laude“; in seiner Beurteilung bezeichnete Geiler sie als „ausgezeichnete Arbeit“, die sich „nach ihrem ganzen geistigen Gehalt erheblich über das Niveau einer normalen Doktorarbeit“ erhebe. 1925 trat Bauer als Referendar in den Staatsdienst ein, 1930 wurde er in seiner Heimatstadt Stuttgart mit 27 Jahren der jüngste Amtsrichter Deutschlands.

Die Karriere, die so glänzend begonnen hatte, endete 1933 jäh mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Bereits als Student hatte sich Bauer der Sozialdemokratischen Partei und dem Republikanischen Richterbund angeschlossen, dem die nicht konservativ oder national-liberal gesinnte Minderheit der deutschen Juristen angehörte. Als Jude und Sozialdemokrat wurde Bauer bereits im April 1933 entlassen und einige Monate im Konzentrationslager Heuberg interniert. Ende 1935 floh er nach Dänemark und im Oktober 1943 weiter nach Schweden, wo er mit dem späteren Bundeskanzler Willy Brandt die Zeitschrift „Sozialistische Tribüne“ gründete.

1949 kehrte Bauer nach Deutschland zurück. Er wurde Landgerichtsdirektor und später Generalstaatsanwalt in Braunschweig. Dort erzielte er 1952 als Ankläger im sogenannten Remer-Prozess einen ersten wichtigen und international beachteten Erfolg im Umgang mit NS-Verbrechen: Bauer konnte die Rehabilitierung der als „Landesverräter“ verunglimpften Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 und die heute selbstverständliche Auffassung durchsetzen, dass der NS-Staat kein Rechts- sondern ein Unrechtsstaat war. Eine Sicht, die in der Justiz der Nachkriegszeit noch die große Ausnahme war. Erst über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende hob der Bundestag 1998 pauschal die NS-Kriegsgerichtsurteile auf, allerdings zunächst nur die Urteile des Volksgerichtshofs und der Standgerichte. Es dauerte noch einmal bis zum Jahr 2002, bis auch die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure der Wehrmacht sowie gegen Homosexuelle ihre Gültigkeit verloren. Erst damit war endgültig eine Rechtsprechung besiegelt, die die Täter schonte und die Opfer quasi nochmals verurteilte.

1956 ging Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt nach Frankfurt. In dieser Funktion erreichte er 1959, dass der Bundesgerichtshof die Strafsache gegen die Täter von Auschwitz dem Landgericht Frankfurt übertrug. Mit einer Gruppe junger, engagierter Staatsanwälte leitete Bauer als Chef der Anklagebehörde gegen enorme Widerstände das Ermittlungsverfahren ein, an dessen Ende die Auschwitz-Prozesse standen.

Zudem gab Bauer dem israelischen Geheimdienst Mossad den entscheidenden Hinweis auf den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann. Der ehemalige Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt, der als Zuständiger für die Deportation der Juden einer der Hauptorganisatoren des Holocaust war, lebte bis dahin unbehelligt in Argentinien. Bauer wählte bewusst nicht den Weg über die deutschen Behörden, weil er aus Erfahrung wusste, dass in diesem Fall Eichmann mit einiger Wahrscheinlichkeit von alten NS-Netzwerken gewarnt worden wäre. Erst durch den von Bauer ermöglichten Zugriff des Mossad 1960 konnte Eichmann in Israel der Prozess gemacht werden.

Die Anfangsworte des Grundgesetzes, die auf Betreiben Bauers am Gebäude des Landgerichts Frankfurt angebracht wurden.
Foto: CC BY-SA 3.0/Dontworry

„Fritz Bauer hat die Bundesrepublik verändert“, schreibt der Rechtshistoriker Michael Stolleis. Und Bauer nahm dafür massive Anfeindungen in Kauf, die sich auch in unzähligen Drohanrufen und Schmähbriefen Bahn brachen. „In einer Zeit, als (...) immer häufiger das Wort ‚Schlussstrich‘ fiel, war er ein unbequemer Mahner, der sich damit nur wenige Freunde machte“, so Irmtrud Wojak. Von Bauer selbst ist das Zitat überliefert, dass er Feindesland betrete, wenn er sein Büro verlasse.

Als er am 30. Juni 1968 völlig überraschend starb, scheiterte damit ein weiteres großes Vorhaben: Das von Bauer eingeleitete Verfahren gegen die Spitzen der NS-Justiz, die an den „Euthanasie“-Morden beteiligt gewesen waren, wurde nach seinem Tod stillschweigend beerdigt. „Man hat den Eindruck, dass sich die Justiz, in der damals noch viele Juristen aus der NS-Zeit wichtige Posten bekleideten, mit der Einstellung dieses Verfahrens für den Auschwitz-Prozess gerächt hat, gegen den es innerhalb der Justiz große Widerstände gegeben hatte“, sagt der Journalist Ulrich Renz, der als junger Reporter von dem Prozess in Frankfurt berichtete.

Aktuell untersucht eine unabhängige wissenschaftliche Kommission im Auftrag des Bundesjustizministeriums die NS-Vergangenheit der Behörde. In den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts hatte ein großer Teil der Ministeriumsmitarbeiter bis in die Ebene der Abteilungs- und Referatsleiter hinein eine nationalsozialistische Vergangenheit oder war an NS-Verbrechen beteiligt gewesen.

Neben seinem Engagement für die Aufarbeitung der NS-Zeit war Bauer auch einer der bedeutendsten Vorkämpfer für Strafrechts- und Strafvollzugsreformen und die Resozialisierung. An den Gebäuden der Landgerichte Braunschweig und Frankfurt wurde auf sein Betreiben als Inschrift der Anfang des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ angebracht. 1961 gehörte Bauer ferner zu den Begründern der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, die nach seinem Tod den Fritz-Bauer-Preis stiftete: Mit ihm werden Frauen und Männer ausgezeichnet, die „unbequem und unerschrocken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit Geltung verschaffen“; 2013 ging der Preis an den Whistleblower Edward Snowden.

In Braunschweig fördert der Fritz Bauer Freundeskreis das Andenken an den engagierten Staatsanwalt. Und 1995 wurde in Frankfurt das Fritz Bauer Institut gegründet, das sich mit der Geschichte und Wirkung des Holocaust befasst. Das Institut hat Tonband-Mitschnitte des Auschwitz-Prozesses zusammengestellt – zu hören sind Aussagen der 318 Zeugen, darunter 181 Überlebende, sowie Originaltöne von Angeklagten, Verteidigern, Sachverständigen und Richtern unter: www.auschwitz-prozess.de

Literatur:
Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903 - 1968. Eine Biographie. C.H. Beck 2009
Ronen Steinke: Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht. Piper 2013

Fritz Bauer – Tod auf Raten (2010)

Bauer Film INeben mehreren Büchern über Fritz Bauer entstand 2010 auch ein weltweit erfolgreicher Film der international preisgekrönten Regisseurin Ilona Ziok. Sie habe zeigen wollen, „dass unser Deutschland ohne das Wirken Fritz Bauers heute ein anderes wäre“, erklärt Ziok: „Denn er war ein engagierter Geburtshelfer der Demokratie, als sie sich aus den Abgründen der Diktatur erhob. Er war ein couragierter Aufklärer des nationalsozialistischen Unrechts, als Verdrängung und Beschweigung noch an der Tagesordnung waren. Und er war ein unbeirrbarer Mahner, der fest daran glaubte, dass die nachwachsende Generation in Deutschland zu Toleranz und Demokratie fähig ist.“ Der Film dokumentiert Bauers hartnäckiges Bemühen um eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und seine Beweggründe. Die Deutsche Film- und Medienbewertung verlieh ihm einstimmig das Prädikat „besonders wertvoll“: „Die Qualität des Films besteht zum einen in der Sammlung des Archivmaterials und den eindrucksvollen Interviews mit Zeitzeugen, Weggefährten und engen Freunden Bauers. Besonders eindrucksvoll aber ist die Montage dieses Materials, nicht die bloße Aneinanderreihung der einzelnen Interviews, sondern das thematische Ineinanderfügen der Ausschnitte mit einer präzisen Dramaturgie. Bauers Wirken und Leben, die historischen Geschehnisse während der Hitlerdiktatur und auch in den von Bauer initiierten Prozessen fügen sich wie ein Puzzle in einen spannenden Erzählfluss und gehen damit wahrlich unter die Haut.“

www.fritz-bauer-film.de