Von Mirjam Mohr
Sie wuchs mit zwei älteren Brüdern auf einem bayerischen Bauernhof auf, besuchte ein katholisches Mädchengymnasium mit musischem Schwerpunkt, hätte nach dem Abitur auch ein Sinologie-Studium spannend gefunden und entschied sich dann doch für Lebensmittelchemie. Heute gehört Irmgard Sinning (Foto: DFG), Professorin am Biochemie-Zentrum der Universität Heidelberg (BZH), zu den Besten ihres Fachs. Im März erhielt sie in Berlin den Leibniz-Preis 2014 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und damit den wichtigsten Forschungsförderpreis Deutschlands.
„Ich arbeite problemorientiert: Ich habe eine Fragestellung, die mich interessiert – und dann eigne ich mir entweder die Techniken, die ich zur Problemlösung brauche, selbst an, oder ich arbeite mit Leuten zusammen, die das besser oder schneller können.“ So pragmatisch und teamorientiert beschreibt Irmgard Sinning ihre Arbeitsweise, die sie in die erste Liga der deutschen Wissenschaftler geführt hat. In ihrem Büro hängt das bekannte „We Can Do It!“-Poster aus den 1940er-Jahren, das eine entschlossen blickende Frau mit hochgekrempelten Ärmeln unter dem Slogan zeigt – die Forscherin hat es vor Jahren von einem ihrer Postdocs geschenkt bekommen, der fand, dass es sehr gut zu ihr und ihrem Team passe.Seit dem Jahr 2000 hat Irmgard Sinning eine Professur für Biochemie und Strukturbiologie am BZH inne. Nach Heidelberg kam sie bereits 1994, als sie Gruppenleiterin am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) wurde. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit Proteinkomplexen. Sie selbst beschreibt es so, dass sie und ihre Mitarbeiter „eine Art Paketdienst in der Zelle“ untersuchen: „Wir wollen verstehen, wie große molekulare Maschinen in der Zelle funktionieren, die am Transport von Proteinen zur Membran beteiligt sind.“ Auf diesem Gebiet hat Sinning „eine ganze Reihe grundlegender Beiträge zur Aufklärung eines der wichtigsten Transportmechanismen geleistet: des durch das sogenannte SRP (Signal Recognition Particle) vermittelten Transportwegs“, wie es in der DFG-Erklärung zum Leibniz-Preis heißt. Dieses Thema, das vor allem in der Grundlagenforschung angesiedelt ist, sei „absolut essentiell“, betont die Professorin: „Denn wenn der Proteintransport nicht funktioniert, überlebt die Zelle in der Regel nicht.“
Die Weichen für Irmgard Sinnings Forscherkarriere wurden bereits in der Schule gestellt: In ihrem Jahrgang wurde in Bayern das Kurssystem eingeführt – und sie wählte Biochemie als Leistungskurs und schrieb eine Facharbeit über die Photosynthese in Algen. Nach dem Abitur interessierte sie sich zwar auch für Sinologie, blieb dann aber doch bei den Naturwissenschaften und studierte Lebensmittelchemie in München: „Ich wollte unbedingt etwas an der Schnittstelle von Chemie und Biologie machen, aber bei Biochemie hat mich die damals lange Regelstudienzeit abgeschreckt. Ich habe mich dann für Lebensmittelchemie entschieden, weil das Studium sehr vielseitig ist und neben einem Schwerpunkt in der Analytik zum Beispiel auch Mikrobiologie und Biochemie beinhaltet. Außerdem gab es nur zehn Studienplätze – wir waren eine eingeschworene Gruppe.“ Nach dem ersten Staatsexamen wurde ihr während des obligatorischen Jahrs am Landesuntersuchungsamt indes klar, dass sie nicht in der Überwachung oder als Gutachterin arbeiten sondern in der Biochemie weitermachen wollte.
Also schaute sich Irmgard Sinning am Max-Planck-Institut (MPI) für Biochemie in Martinsried um und traf dort den späteren Chemie-Nobelpreisträger Hartmut Michel, der gerade auf der Suche nach einem Wissenschaftler mit Stärke in der Analytik war. Michel wurde Sinnings Doktorvater, und sie folgte ihm ans MPI für Biophysik nach Frankfurt am Main. 1991 ging Sinning als Postdoc an das Biomedical Centre (BMC) der schwedischen Universität Uppsala. „Ich hatte verschiedene Angebote aus den USA, vermutlich auch, weil ich der erste Postdoc aus Hartmut Michels Labor nach dessen Nobelpreis war“, erinnert sie sich: „Ich hatte aber schon Kontakt nach Uppsala, da ich dort während meiner Promotion an einem zweiwöchigen EMBO-Kurs in Proteinkristallographie teilgenommen hatte. Im Gegensatz zu den Professoren in den USA hat mich Alwyn Jones am BMC gefragt, was ich vorhabe, was ich lernen will, und warum ich denke, dass ich das bei ihm erreichen kann. Das hat mir gut gefallen, also bin ich als Postdoc nach Uppsala gegangen – damals ein Zentrum der Proteinkristallographie. Die zweieinhalb Jahre dort, in denen ich viel gelernt habe, waren für mich rundum eine wirklich hervorragende Erfahrung.“
Über das EMBL führte Irmgard Sinnings Weg dann an die Ruperto Carola, an der sie nun in der Forschung Biochemie, Biophysik und Strukturbiologie verbindet. Am Wissenschaftsstandort Heidelberg gefällt ihr auch die gute Vernetzung der Forschungseinrichtungen in und außerhalb der Universität: „Man muss nicht alles selbst vorrätig haben oder aufbauen. Die Einrichtung von Technologieplattformen und die dadurch verbesserte, hervorragende Infrastruktur waren ja auch ein wichtiger Punkt in der Exzellenzinitiative.“
Das Leibniz-Preisgeld von bis zu 2,5 Millionen Euro will sie selbstverständlich dennoch nutzen, „um unseren Gerätepark ein bisschen zu erweitern“ und neue Stellen in ihrem Team einzurichten. Vor allem aber ermögliche der Preis eine ganz andere Flexibilität bei der Arbeit: „Man kann einfach mehr Ideen ausprobieren, ohne gleich einen Antrag schreiben zu müssen!“
Mit dem Leibniz-Preis tritt Irmgard Sinning auch in die Fußstapfen ihres Doktorvaters: Hartmut Michel gehörte bei der 1986 erstmals verliehenen höchsten deutschen Auszeichnung für Forscher zu den Preisträgern. Zwei Jahre später erhielt er die höchste internationale Weihe – den Nobelpreis.
www.bzh.uni-heidelberg.de/sinning
Siehe auch: „Leibniz-Preis für die Heidelberger Wissenschaftlerin Irmgard Sinning“
Siehe auch: „Heidelberger Forscher entschlüsseln wichtigen Teil des zellulären Proteintransportsystems“