Näher am Nesseltiergehirn
Auf der Suche nach dem Ursprung unseres Gehirns haben Biologen der Universität Heidelberg neue Erkenntnisse zur Evolution des zentralen Nervensystems mit seiner hoch entwickelten biologischen Struktur gewonnen: Anhand bestimmter Gene und Signalfaktoren konnte das Team um Prof. Dr. Thomas Holstein vom Centre for Organismal Studies zeigen, wie sich der Beginn der Zentralisierung von Nervenzellen bis zu dem diffusen Nervennetz einfacher und ursprünglicher niederer Tiere wie der Seeanemone zurückverfolgen lässt. Dazu analysierten die Wissenschaftler auf molekularer Ebene die Neurogenese beim Modellorganismus Nematostella vectensis. Die Forschungsergebnisse wurden in „Nature Communications“ veröffentlicht.
Die Seeanemone – Nematostella vectensis – gehört wie Korallen und Medusen zu den Nesseltieren, die seit mehr als 700 Millionen Jahren die Erde bevölkern. Sie hat einen simplen sackartigen Körper ohne Skelett und nur eine Körperöffnung. Das Nervensystem dieses ursprünglichen Vielzellers ist als einfaches Nervennetz organisiert, das zu einfachen Verhaltensmustern befähigt. Bisher ist die Wissenschaft davon ausgegangen, dass dieses Netz keine Zentralisierung – also keine örtliche Verdichtung von Nervenzellen – besitzt. Mit ihren Arbeiten konnten die Heidelberger Forscher nun aber zeigen, dass das Nervennetz der Seeanemone in der Embryonalentwicklung durch einen Satz neuronaler Gene und Signalfaktoren gebildet wird, der auch bei Wirbeltieren zu finden ist.
Wie Professor Holstein erläutert, ist die Entstehung der ersten Nervenzellen abhängig vom sogenannten Wnt-Signalweg, der nach seinem Signalprotein Wnt bezeichnet ist. Er besitzt eine wichtige Funktion für den Vorgang, bei dem sich verschiedene Typen tierischer Zellen geordnet entwickeln. Zudem fanden die Wissenschaftler den ersten Hinweis dafür, dass ein weiterer Signalweg in der Neurogenese von Seeanemonen aktiv ist: der BMP-Weg, der bei Wirbeltieren die Zentralisierung der Nervenzellen lenkt.
Nervensystem in Embryonen von Nematostella vectensis mit verschiedenen Nervenzell-populationen, wobei die unterschiedlichen Neuronen (hier in grün, blau und magenta) eine Asymmetrie aufweisen.
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Foto: Hiroshi Watanabe, Thomas Holstein / Nature Communication 5:5536, Macmillan Publishers Limited
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Benannt nach seinem Signalprotein BMP steuert dieser Signalweg abhängig von der Proteinkonzentration ebenfalls die Entwicklung unterschiedlicher Zelltypen – ähnlich wie der Wnt-Signalweg aber mit anderer Richtung. Der BMP- wirkt im rechten Winkel zum Wnt-Weg und erzeugt so in dem weitgehend diffusen neuronalen Netz der Seeanemone ein asymmetrisches Muster neuronaler Zelltypen. „Dies kann“, betont Thomas Holstein, „als der Beginn der Zentralisierung des neuronalen Netzes auf dem Weg hin zu Wirbeltieren mit ihren komplexen Gehirnen verstanden werden.“
Während der Wnt-Signalweg zugleich die Bildung der primären Körperachse aller Tiere – von den Schwämmen bis zu den Wirbeltieren – auslöst, ist der BMP-Signalweg bei höher entwickelten Vertebraten auch an der Ausbildung der sekundären Körperachse (Rücken-Bauch) beteiligt. „Unsere Forschungsergebnisse weisen daher darauf hin, dass es eine enge Parallelität zwischen der Evolution der Körperachsen und der Herausbildung eines zentralen Nervensystems geben muss“, so Holstein.
H. Watanabe, A. Kuhn, M. Fushiki, K. Agata, Y. Kocagöz, S. Özbek, T. Fujisawa & T.W. Holstein: Sequential actions of β-catenin and Bmp pattern the oral nerve net in Nematostella vectensis. Nature Communications 5:5536 (23. Dezember 2014), doi:10.1038/ncomms6536