„Viele denken, psychische Störungen würden zunehmen. Das wird auch oft in den Medien verbreitet, aber empirisch ist das nicht haltbar. Wir haben valide Untersuchungen, die belegen, dass die psychischen Störungen bei Studierenden nicht zunehmen. Nichtsdestoweniger ist das Stressniveau in manchen Fächern tatsächlich sehr hoch. Möglicherweise übertreibt man es hier und da mit dem Notenfetischismus. Das beklagen auch Professorinnen und Professoren. Im Zuge der Bologna-Reform mögen gewisse Freiräume verloren gegangen sein. Allerdings darf man die früheren Zeiten auch nicht nachträglich idealisieren. Als ich in der Beratungsstelle anfing, war ich mit Situationen konfrontiert, in denen manche Studierende erst mit Ende 20 festgestellt haben, dass ein Studium möglicherweise doch keine gute Wahl war. Letztendlich ist es immer eine Kunst, den richtigen Weg zu finden: zwischen vorgegebenen Strukturen und Freiräumen.“
Welche besonderen Herausforderungen prägen die Studienzeit?
„Viele Probleme, die während der Studienzeit entstehen, sind nicht durch das Studium selbst bedingt – dazu zählen etwa Krisen bei der Persönlichkeitsentwicklung, Beziehungsprobleme, Krankheiten oder der Tod nahestehender Personen. Das sind Belastungsproben, aber natürlich keine psychischen Krankheiten. Davon abgesehen hören wir in letzter Zeit sehr häufig von schulischen Mobbingerfahrungen, die lange, tiefe Spuren hinterlassen haben und zu Ängsten, Rückzug oder gar sozialer Isolation führen. Ein weiteres großes Thema ist die Nutzung der elektronischen Medien. Die meisten Studierenden gehen damit hervorragend um. Es gibt aber auch eine Gruppe, die dazu ein problematisches Verhältnis hat, etwa im Sinne eines übermäßigen Konsums. Für diese Studierende haben wir zum Beispiel ein Angebot ins Leben gerufen, um mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen.“
Wie hat sich die Nachfrage nach Beratungen entwickelt?
„Wir haben gegenüber früher etwa dreimal so viele Klienten respektive Patienten, die uns konsultieren. Das liegt aber nicht an einer Zunahme von Problemen, sondern daran, dass diese heutzutage bewusster wahrgenommen werden und dass die Studierenden früher versuchen, sie anzugehen. Psychologie und Psychotherapie sind darüber hinaus wesentlich weniger stigmatisiert als noch zu meiner Anfangszeit. Dennoch bleibt das Aufsuchen einer Beratungsstelle für manche eine große Hürde. Deswegen versuchen wir niedrigschwellig zu bleiben und sagen: Man muss keine komplexen psychischen Probleme haben, um bei uns beraten zu werden. Man kann sich auch dann an uns wenden, wenn man einen Blick von außen auf sich und seine Welt werfen will – und zwar in einer vertrauensvollen, geschützten Atmosphäre.“
Sie selbst sind ein vielseitiger Wissenschaftler, unter anderem Kreativitätsforscher. Inwieweit steht das in Verbindung mit Ihrer Tätigkeit in der Psychosozialen Beratungsstelle?
„Es gibt ganz elementare Überschneidungen: Psychische Störungen hängen auch damit zusammen, dass die kreative Beziehung zu sich selbst oder zur eigenen Welt ins Stocken gerät. Insofern lässt sich meine Kreativitätsforschung auch aus der alltäglichen Beratungspraxis herleiten. Deswegen bin ich auch so gerne Berater und Psychotherapeut. Die gemeinsame Suche nach Lösungen gibt meinen Konzepten Substanz, sie ist die Basis meiner Theorien. Beratung, Coaching und Psychotherapie können helfen, Störungen und Krisen zu bewältigen und das in ihnen verborgene Entwicklungspotenzial zu fördern. Das gilt auch für Hochbegabte.“
Welche Herausforderungen erwarten Ihren Nachfolger und sein Team?
„Mein Nachfolger und die Mitarbeiter der Beratungsstelle können und werden die Arbeit weiterentwickeln und das hohe Niveau halten. Zudem würde ich erwarten, dass sie auch auf aktuelle Themen eingehen, beispielsweise auf die bereits angesprochene Vereinsamung durch den Missbrauch elektronischer Medien. In diesem Feld werden die Herausforderungen sicher größer werden. Außerdem sollte man unbedingt praxisbegleitend weiterforschen. Wir haben ein wissenschaftlich begründetes Konzept, das meine Mitarbeiter praxisbegleitend evaluieren konnten. Besonders dankbar bin ich in dieser Hinsicht für die Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Psychosoziale Medizin mit den Professorinnen und Professoren Sabine Herpertz, Gerd Rudolf, Wolfgang Herzog und Henning Schauenburg sowie dem Psychologischen Institut und hier besonders den Professoren Joachim Funke und Sven Barnow. Im Hinblick auf die personelle Ausstattung wäre es schön, wenn auch junge Psychologinnen und Psychologen immer wieder die Möglichkeit bekämen, in der Psychosozialen Beratungsstelle mitzuarbeiten. Das halte ich gerade auch angesichts der jungen und flexiblen Klientel der Studierenden für wichtig. Daneben sollten die Beratungsstellen an anderen Hochschulen Baden-Württembergs nach dem Abbau in den letzten Jahren wieder ausgebaut werden und sich dabei auf verlässliche Konzepte stützen.“
Siehe auch: „Nachfrage nach psychologischer Beratung der Studentenwerke steigt“
Die Psychosoziale Beratungsstelle (PBS) in der Gartenstraße 2 (Heidelberg-Bergheim) ist eine Einrichtung des Studierendenwerks Heidelberg. Sie steht allen Studierenden der Universität und der Pädagogischen Hochschule offen, die sich wegen einer sozialen oder psychischen Konfliktsituation an sie wenden wollen. In der PBS bieten therapeutisch geschulte Mitarbeiter Hilfestellung zur Überwindung dieser Krisen durch vertrauliche Einzel- oder Gruppengespräche. Eine Anmeldung zum kostenfreien Angebot ist über das Sekretariat möglich; es gibt auch eine offene Sprechstunde und eine Online-Beratung. Weitere Infos: www.studentenwerk.uni-heidelberg.de/PBS