Wettrüsten unter Panzeralgen
Sie verfügen über eine gleichartige Bauweise, dennoch sind sie genetisch grundverschieden: Das Prinzip der Konvergenz haben Biologen der Universität Heidelberg jetzt am Beispiel von Einzellern und Nesseltieren auf subzellulärer Ebene beschrieben. Beide Organismen haben im Laufe ihrer Evolution ähnliche Miniaturwaffen für den Beutefang entwickelt, ohne dass diese einen gemeinsamen stammesgeschichtlichen Ursprung besitzen, wie Privatdozent Dr. Suat Özbek und Prof. Dr. Thomas Holstein zusammen mit kanadischen Kollegen herausgefunden haben. Die Heidelberger Forscher untersuchen Funktionsweise und molekulare Struktur dieser „Waffensysteme“ am Centre for Organismal Studies (COS) der Ruperto Carola.
Jeder, der im Meer badet, kann früher oder später von Quallen, Seeanemonen oder Korallen „genesselt“ werden. Namensgebender Zelltyp dieser mehr als 500 Millionen Jahre alten Nesseltiere, der Cnidaria, sind die Nesselzellen. Sie enthalten mikroskopisch kleine Organellen, die Nesselkapseln, die auch Cniden oder Nematozysten genannt werden. Bei Reizung der Zelle schießen die Kapseln mit hoher Geschwindigkeit einen in ihrem Inneren aufgerollten und mit Stiletten bewaffneten Schlauch heraus. Diese subzellulären „Waffensysteme“ dringen – ähnlich einer Miniaturharpune – wie ein Projektil in die Beute ein und injizieren lähmende Gifte.
Wie diese Nesselkapseln entstanden sind, ist bisher unbekannt. Laut Thomas Holstein geht die gängige Hypothese davon aus, dass sie von Organellen mit ähnlicher Bauweise und Funktion bei Einzellern abstammen. Danach müssten die Kapseln durch frühe Vorläufer der Nesseltiere in einer Art Symbiose aufgenommen worden sein. So gibt es bei einer Gruppe von modernen Einzellern – den Dinoflagellaten oder auch Panzeralgen – strukturell vergleichbare „Waffensysteme“, die ebenfalls als Nematozysten bezeichnet werden. Nach gängiger Lehrmeinung haben sie einen gemeinsamen evolutiven Ursprung.
Bei der Entladung von Nematozysten von Nesseltieren (Hydra) wird der im Inneren der Kapsel eingerollte Schlauch nach außen geschleudert (links), bei der Panzeralge Polykrikos kofoidii ist nur die Spitze der im Inneren befindlichen Nematozyste zu sehen (rechts).
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Abbildungen: Thomas Holstein und Pierre Tardent (links), Urban Tillmann und Greg Gavelis (rechts)
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Die Arbeitsgruppe von Suat Özbek und Thomas Holstein hat jetzt die molekularen Bestandteile beider Organellen miteinander verglichen. Das überraschende Ergebnis: Beide zeigen keinerlei Übereinstimmung, berichtet Suat Özbek. In ihrer Analyse konnten die Wissenschaftler gemeinsam mit einer Gruppe an der University of British Columbia (Kanada) zeigen, dass Cnidaria und Dinoflagellaten über gänzlich andere Gene und Proteine zum Aufbau ihrer jeweiligen Miniaturharpunen verfügen. Die Forscher in Heidelberg haben dazu das Proteom – die Gesamtheit aller Proteine – von isolierten Nesselkapseln der Cnidaria umfangreich untersucht.
Wie Thomas Holstein betont, sind die beiden biologischen Systeme genetisch also grundverschieden. Dennoch zeigen hoch aufgelöste, dreidimensionale Bilder der Nematozysten eine bisher nicht gekannte Komplexität und Ähnlichkeit in der Biomechanik, welche die Entladung der Miniaturharpunen ermöglicht. So wird bei der Panzeralge Polykrikos lebouriae ein spitzes Projektil ausgestoßen. Die Panzeralge Nematodinium feuert sogar bis zu 15 Projektile nacheinander ab, ähnlich einem mehrzylindrigen Gewehr. Während die Beschleunigung bei den Kapseln der Nesseltiere durch einen hohen Innendruck erzeugt wird, fehlen bei den Panzeralgen die dafür notwendigen Stoffwechselwege. „Die hier zugrundeliegenden Mechanismen müssen noch aufgeklärt werden“, so der Wissenschaftler, der die Forschungsgruppe „Molekulare Evolution und Genomik“ am COS leitet.
Holstein weiter: „Aus unseren Erkenntnissen ziehen wir den Schluss, dass es auch auf subzellulärer Ebene außergewöhnliche und extreme Fälle von Konvergenz gibt.“ Der Begriff „Konvergenz“ beschreibt in der Evolutionsbiologie das Auftreten gleichartiger Bauprinzipien, ohne dass die Organismen einen gemeinsamen phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen Ursprung haben. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Flügel bei Vögeln und Fledermäusen. Solche Übereinstimmungen in unterschiedlichen Organismengruppen entstehen durch Anpassung an ähnliche Anforderungen der Umwelt.
Während bei den Nematozysten von Nesseltieren (Hydra) der im Inneren eingerollte Schlauch innerhalb von Millisekunden nach außen katapultiert wird (links), hat die Nematozyste der Panzeralge Nematodinium einen „Gatling-Mechanismus“ mit bis zu 15 Projektilen, zu erkennen auf der dreidimensionalen Rekonstruktion aus elektronen-mikroskopischen Aufnahmen mit der virtuellen Darstellung der einzelnen Teile (rechts).
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Abbildungen: Suat Özbek (links) sowie Urban Tillmann und Greg Gavelis (rechts)
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Ausgehend von simplen sekretorischen Vesikeln, die Enzyme und bestimmte Proteine zur Anhaftung und Verdauung von anderen Zellen ausgeschieden haben, entwickelten sich vermutlich auf getrennten Wegen hochkomplexe subzelluläre „Waffensysteme“ in Nesseltieren und Panzeralgen. Auslöser könnten zunehmend bessere Schutzmechanismen der Beuteorganismen gewesen sein, die zu ähnlichen evolutiven Lösungen geführt haben. Nach den Worten von Thomas Holstein sind die Einzeller durch eine große Vielfalt verschiedener ballistischer Organellen gekennzeichnet, was auf ein „Wettrüsten“ auf dieser frühen Evolutionsstufe hindeutet.
www.cos.uni-heidelberg.de/index.php/t.holstein?l=_e
G.S. Gavelis, K.C. Wakeman, U. Tillmann, C. Ripken, S. Mitarai, M. Herranz, S. Özbek, T. Holstein, P.J. Keeling and B.S. Leander: Microbial arms race: Ballistic „nematocysts“ in dinoflagellates represent a new extreme in organelle complexity. Sciences Advances, 31 Mar 2017: Vol. 3, no. 3, e1602552, DOI: 10.1126/sciadv.1602552