Alte Menschen sollten nicht überbehütet werden
Ursula Lehr übernahm 1986 an der Universität Heidelberg den ersten deutschen Lehrstuhl für Gerontologie und wurde Gründungsdirektorin des Instituts für Gerontologie. Von 1988 bis 1991 war sie Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit unter Bundeskanzler Helmut Kohl, anschließend wurde sie erneut mit der Leitung des Instituts für Gerontologie betraut. Von 1991 bis 1994 war sie Mitglied des Bundestags. 1998 wurde Ursula Lehr als Professorin an der Ruperto Carola emeritiert.
Frau Lehr, wie beurteilen Sie die Entwicklung der Alternsforschung in Heidelberg und in Deutschland?
„Die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre ist wirklich enorm. Altern ist in dieser Zeit in der Öffentlichkeit und der Politik überhaupt erst zum Gegenstand gesellschaftlicher Diskussionen geworden. Vorher wurde der alte Mensch lediglich als der zu Betreuende, der zu Pflegende gesehen; das Thema Altern war beschränkt auf Fragen der Rente und der Pflege. Das ist jetzt anders. Es gibt viel Grundlagenforschung, und insofern bin ich sehr zufrieden – aber es gibt auch noch viel zu tun! Dabei müssen wir allerdings aufpassen, dass wir nicht wieder nur bei ‚Problemforschung‘ landen und dadurch Altern erneut nur als Problem erscheint. Neben der Demenzforschung gibt es auch viele andere Fragen des Alterns, die erforscht werden müssen.“
Was sehen Sie aktuell als wichtigste Aufgaben und Themen der Alternsforschung?
„Ein gesundes Altern basiert auf vier Säulen. Die eine ist die Optimierung der Entwicklung von der Kindheit bis ins hohe Alter, da geht es um lebenslanges Lernen. Auch ein 80-Jähriger kann noch lernen, mit dem Computer umzugehen. Die zweite Säule ist die Prävention, also Vorsorge auf breiter Ebene im Hinblick auf körperliche, geistige und soziale Aktivität. Jeder Mensch braucht eine Aufgabe – alte Menschen sollten nicht überbehütet werden. Die dritte Säule ist die Rehabilitation, bei der generell noch viel zu wenig getan wird, auch wenn Heidelberg sich früh um dieses Thema gekümmert hat und viel in diesem Bereich leistet, etwa im Bethanien-Krankenhaus. Aber generell gibt es das Problem, dass beispielsweise keine Rehabilitation vorgesehen ist, wenn jemand in einem Seniorenheim einen Schlaganfall erleidet, denn hier gilt er bereits als versorgt. Das war ein Fehler in der Konstruktion des Pflegegesetzes – für die Pflege ist die Pflegeversicherung zuständig, für die Rehabilitation die Krankenversicherung. Die vierte Säule ist das Management von Problemsituationen: Probleme des Alterns müssen dabei zwar aufgezeigt werden, aber sie dürfen nicht das Thema als Ganzes bestimmen; und da stellt sich die Frage, wie wir es schaffen, Wissenschaft mit Politik und Praxis zu verbinden.“
Für wie wichtig halten Sie Politikberatung durch die Alternsforschung?
„Ich halte das für unbedingt notwendig! Daher habe ich als Ministerin den Altenbericht der Bundesregierung eingeführt, der mittlerweile zum siebten Mal erschienen ist. Als ich anfing, habe ich in meiner dritten Kabinettssitzung gesagt: Wir haben bereits sieben Jugendberichte und vier Familienberichte, jetzt wird es Zeit, dass wir den ersten Bericht zur Situation alter Menschen schaffen. Da haben einige Ministerkollegen – ältere Herren – gefragt, wozu denn ein Altenbericht nötig sei; sie fühlten sich offenbar selbst betroffen. Aber Helmut Kohl hat geholfen, das durchzusetzen. Der Bundestag hat dann den ersten Altenbericht abgesegnet und beschlossen, dass in jeder Legislaturperiode ein solcher Bericht erstellt werden soll – und zwar immer abwechselnd entweder zur Allgemeinsituation oder zu spezifischen Themen wie ‚Wohnen im Alter‘ oder in der aktuellen Ausgabe ‚Sorge und Mitverantwortung in der Kommune‘. Und in der Altenberichtskommission wirkt schon seit Langem Andreas Kruse mit und damit das ‚Netzwerk AlternsfoRschung‘.“