Von Ute von Figura
„Ich bin von Haus aus eher der praktische und kaufmännisch orientierte Typ – jemand, der in seinem Kämmerchen hockt und mit Zahlen jongliert. Nie hätte ich mir vorstellen können, einmal Reiki zu praktizieren und damit Menschen zu unterstützen, geschweige denn eine eigene Praxis zu haben.“ Und doch: Heute wendet Dagmar Stier (Foto: privat) in ihren Behandlungsräumen die alte japanische Heilkunst Usui-Reiki Ryôhô an, ein Verfahren „der natürlichen Heilung mit spiritueller Lebensenergie“. Hier, inmitten der Eberbacher Altstadt etwa 30 Kilometer von Heidelberg entfernt, bildet sie in deren Methoden aus und berät ganzheitlich bei persönlichen und gesundheitlichen Problemen wie Rückenverspannungen – ein Herzensanliegen, wie sie sagt. Ihren ursprünglich erlernten Beruf als Bürokauffrau und Betriebswirtin hat Dagmar Stier beibehalten: Zweieinhalb Tage in der Woche arbeitet sie in der Abteilung Bau- und Liegenschaften der Universitätsverwaltung, wo sie für die Hörsaalverwaltung der Neuen Uni zuständig ist.
Gut zehn Jahre ist es her, dass Dagmar Stier zum ersten Mal mit Reiki in Kontakt kam. Als „magischen Moment“ beschreibt sie diese Erfahrung; eine tiefe Entspannung und ein allumfassendes Wohlgefühl hätten sich in ihr breitgemacht. Sofort sei ihr klar gewesen: „Davon will ich mehr.“ Der Begründer der asiatischen Heilkunst – Mikao Usui (1865 bis 1926) – beschreibt Reiki als eine Methode zum Einladen des Glücks sowie als ein spirituelles Mittel, um unzählige Krankheiten für Körper, Geist und Seele zu heilen. „Bei uns im Westen ist Reiki hauptsächlich als Handauflegen bekannt“, erklärt Dagmar Stier: „Der Anwender überträgt durch seine Hände Reiki-Energie auf den Empfangenden und stärkt damit dessen Selbstheilungskräfte von Körper und Geist.“Da sich die Reiki-Energie nicht in klassischer Weise durch unsere fünf Sinne wahrnehmen ließe, stünden viele dieser Methode zunächst ablehnend gegenüber – eine Reaktion, die Dagmar Stier schon oft erlebt hat. „Eine gesunde Skepsis ist natürlich nie verkehrt. Ich kann aber jeden nur dazu einladen, Reiki auszuprobieren und sich selbst von der Wirksamkeit der Methode zu überzeugen.“
Geboren und aufgewachsen ist Dagmar Stier in Freudental, einem kleinen Dorf im Landkreis Ludwigsburg. Ihr Elternhaus beschreibt sie als bodenständig und vom schwäbischen Unternehmertum geprägt. Der Vater besitzt einen eigenen Modellbaubetrieb, die Mutter führt die Buchhaltung. „Bis heute können die beiden nicht verstehen, was ich als Reiki-Lehrerin und Geistheilerin mache“, erzählt sie und lacht.
Geprägt durch das Leben der Eltern entscheidet sich Dagmar Stier nach dem Realschulabschluss zunächst für eine Ausbildung als Bürokauffrau und arbeitet in verschiedenen Unternehmen in ganz Deutschland. Ihr mathematisches, analytisches Interesse und ihre rasche Auffassungsgabe sorgen dafür, dass ihr immer komplexere Aufgaben übertragen werden, bis sie schließlich – nachdem sie neben dem Beruf einen Abschluss als Diplom-Betriebswirtin erworben hat – für den Jahresabschluss des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik verantwortlich zeichnet. Spaß und Stress zugleich bringt diese Zeit mit sich, aber irgendwann überwiegen die unangenehmen Nebenwirkungen der Belastung: „Mit Anfang 30 fühlte ich mich, als wäre ich 60. Ich war chronisch müde und erschöpft.“
Den Ausschlag dazu, den eigenen Lebensstil zu überdenken, gibt schließlich eine Ärztin, die bei der damals 33-Jährigen ein psychosomatisches Leiden diagnostiziert. „Das hat mich zunächst völlig geschockt, weil das so gar nicht zu meinem Verständnis von Krankheit passte“, erinnert sich Dagmar Stier. Was tun? „Hilfe bei einem Psychologen zu suchen, kam für mich damals nicht infrage, also habe ich begonnen, Lösungen zu suchen und psychosomatische Zusammenhänge zu erforschen.“ In dieser Zeit lernt sie die Methode des Neuro-Linguistischen Programmierens, kurz NLP, kennen und erfährt, dass sie die eigene Wahrnehmung schulen und differenzieren kann. „Meine Sicht der Welt war bis dahin stark praktisch-technisch geprägt, durch NLP hat sich mir eine neue Perspektive erschlossen, die mich neugierig machte.“ Dagmar Stier beschäftigt sich zunehmend mit gesunder Lebensführung, verschiedenen Wahrnehmungstechniken und dem Einfluss des Unterbewusstseins, bis sie schlussendlich auf die Methode des Reiki stößt. Seinerzeit sei ihr allerdings noch nicht klar gewesen, wie einschneidend dieses Erlebnis ihren Lebensweg im Weiteren beeinflussen würde.
Heute ist Reiki ein fester Bestandteil in Dagmar Stiers Alltag: Nicht nur, dass sie die Heilmethode zu ihrem Nebenberuf gemacht hat, Reiki hat sich auch tiefgreifend auf die persönliche Entwicklung der 51-Jährigen ausgewirkt. „Reiki hat mir geholfen, eigene Schwächen zu erkennen und zu reduzieren. Ich bin ausgeglichener als früher und kann besser zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden.“ Das komme ihr nicht zuletzt auch im beruflichen Alltag zugute. „Ich bin heute um einiges effizienter und kann mit stressigen Situationen viel gelassener umgehen.“ Auch hat sie inzwischen Frieden damit geschlossen, dass es Menschen gibt, die ihre Reiki-Leidenschaft belächeln: „Mir ist nicht mehr so wichtig, was andere von mir denken.“
Reiki hat Dagmar Stier dazu verholfen, Ballast abzuwerfen. Das erkennt man auch an ihrem Behandlungsraum. Spartanisch ist dieser eingerichtet – kein Gegenstand zu viel, kein unnötiger Schmuck, keine Bilder an den Wänden, lediglich zwei Klappmatratzen, in einer Ecke eine Stehlampe, in der anderen ein kleiner Tisch, auf dem eine Kanne mit Chai-Tee steht. Häufig ist die Uni-Mitarbeiterin auch in den Wäldern rund um Heidelberg und Eberbach unterwegs. Auf ihren Spaziergängen komme sie zur Ruhe und sammle essbare Kräuter, erzählt sie. 2005 hat sie sich zur Wildkräuterfrau ausbilden lassen und bietet hierzu regelmäßig Führungen an. Vieles klingt danach, als sei Dagmar Stier angekommen. Sie selbst aber sagt: „Ich befinde mich auf einem Weg.“