Goebbels’ glückloser Doktorvater
Von Oliver Fink
Als Joseph Goebbels 1943 für seine mehr als 20 Jahre zuvor abgeschlossene Dissertation an der Universität Heidelberg geehrt wurde und eine Erneuerung seiner Promotionsurkunde erhielt, erwähnte der Reichspropagandaminister in der anschließenden Dankesrede seinen Doktorvater mit keinem Wort. Ein Grund hierfür mag darin gelegen haben, dass Max Freiherr von Waldberg (Repro: Universitätsarchiv) Goebbels’ literaturhistorische Arbeit über den Dramatiker Wilhelm von Schütz seinerzeit eher kritisch begutachtet hatte. Hinzu kam: Der Heidelberger Germanistik-Professor war 1933 infolge der Machtergreifung der Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft in den Ruhestand versetzt worden. Fünf Jahre später, im November 1938, starb er an den Folgen einer Krebsoperation. Seine Ehefrau Violetta, der die Deportation in das KZ Theresienstadt drohte, nahm sich im April 1942 das Leben.
Wie eine neu erschienene Biographie von Olha Flachs zeigt, waren das Leben und die akademische Karriere Max von Waldbergs bereits vor 1933 von vielen Entbehrungen und Enttäuschungen gekennzeichnet. Seine große Bedeutung für die Entwicklung der Heidelberger Germanistik aber, so Flachs, ist kaum zu überschätzen. 1858 in Jassy im damaligen Fürstentum Moldau und heutigen Rumänien geboren, studierte von Waldberg in Wien, Berlin und Czernowitz, der Hauptstadt des Habsburgischen Kronlands Bukowina. Dort wurde er auch promoviert, habilitierte sich und wirkte als außerordentlicher Professor, ehe er auf die gleiche Funktion 1889 an die Universität Heidelberg wechselte. Von 1908 an bekleidete er hier den Rang eines Honorarprofessors.
Max von Waldberg stand lange Zeit im Schatten des berühmten Friedrich Gundolf, dem zweiten Literaturwissenschaftler in der Heidelberger Germanistik jener Zeit. Der akademische Außenseiter, der dem George-Kreis stark verbunden war, machte mit anfänglicher Unterstützung von Waldbergs im Wissenschaftsbetrieb schnell Karriere und erhielt schließlich das erste Extraordinariat in Neuerer Deutscher Literatur an der Ruperto Carola. Vergeblich setzte sich die Philosophische Fakultät in mehreren Anläufen beim Badischen Kultusministerium dafür ein, dass Max von Waldberg ebenfalls eine solche Stelle erhielte. Die Folgen waren für von Waldberg, der aus einer vermögenden Familie stammte, auch in materieller Hinsicht gravierend: Zu Zeiten der Inflationskrise Mitte der 1920er-Jahre sah er sich gezwungen, einen Teil seiner kostbaren Privatbibliothek sowie weitere Wertgegenstände zu veräußern; in den 1930er-Jahren tauschte er zur Finanzierung seines Lebensabends sogar sein Haus samt Grundstück gegen eine Leibrente des Badischen Staates ein (Repro: Universitätsarchiv).
Trotz dieser Widrigkeiten blieb Max von Waldberg der Universität mit großem Engagement dauerhaft verbunden und trug maßgeblich zur Konstituierung und Systematisierung der Literaturwissenschaft an der Ruperto Carola bei. „Indem Waldberg die Literaturgeschichte (16. bis 20. Jahrhundert), die Theorie, die Poetik, Literaturkritik sowie die Stilistik behandelte und darüber hinaus die ein- und anleitenden Vorlesungen und Übungen abhielt, hat er die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Heidelberg zum ersten Mal als eine strukturierte Universitätsdisziplin in ihrer vollen Breite vertreten“, schreibt Olha Flachs in ihrer Biographie über die prägende Rolle des Germanisten. Mit seinen zyklisch angelegten Vorlesungen habe er zugleich dem noch nicht fest etablierten Fach ein Konzept gegeben, wie der wissenschaftliche Nachwuchs auszubilden sei.
Das Forschungsinteresse Max von Waldbergs war breit gefächert und nicht nur auf die deutsche Literatur beschränkt. Zu seinen Monographien gehören Studien zu Lessing und Goethe, zur deutschen Renaissance-Lyrik oder zur Geschichte des Romans. Von Waldbergs großer Einfluss auf die Literaturwissenschaft – auch über Heidelberg hinaus – lässt sich nicht zuletzt an seinen zahlreichen Schülern ablesen. Einige seiner Doktoranden wurden später selbst Professoren, zu den bekanntesten zählen die späteren Romanisten Karl Vossler und Hugo Friedrich sowie die Germanisten Hermann August Korff und Richard Alewyn. Insgesamt hat von Waldberg mehr als 130 Doktorandinnen und Doktoranden in Heidelberg betreut, darunter 27 Arbeiten von Frauen – eine für diese Zeit außerordentlich hohe Zahl.
Der zwangsweise Ruhestand zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur folgte der Anwendung des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das zahlreiche jüdische, aber auch politisch missliebige Professoren in Deutschland um ihre Stellen brachte. Die Intervention mehrerer Kollegen aus der Fakultät – nicht zuletzt mit Verweis auf die „nationale Gesinnung“ Max von Waldbergs – blieb erfolglos. Als ihm im Herbst 1933 zudem die Ausbürgerung aus dem badischen Staatsverband drohte, setzte sich der damalige Rektor der Ruperto Carola, Willy Andreas, erfolgreich für von Waldberg ein: Er habe – so würdigte der Historiker den Germanisten – „jahrzehntelang in aufopferndster Weise die Dienste eines ordentlichen Professors versehen, ohne den Rang eines solchen zu besitzen. (...) Er genießt in der Universität als wissenschaftliche, kollegiale und menschliche Persönlichkeit allgemeine Verehrung“. An seinem offiziellen Status änderte sich dadurch freilich nichts: Max Freiherr von Waldberg blieb bis zu seinem Tode eine „persona non grata“, an die sich auch sein einstiger Doktorand Joseph Goebbels nicht mehr erinnern wollte.
Die Biographie „Max Freiherr von Waldberg (1858-1938). Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik“ von Olha Flachs – zugleich ihre Dissertation – wurde vom Heidelberger Mattes Verlag herausgebracht. Ferner ist in der Schriftenreihe des Universitätsarchivs Heidelberg von Jörg Riecke „Eine Geschichte der Germanistik und der germanistischen Forschung in Heidelberg“ erschienen.