Revirement im Südasien-Institut
Tiefgreifend ist der Wandel, den das Südasien-Institut der Universität Heidelberg (SAI) zur Zeit erlebt. Ein großes Revirement kommt bald zum Abschluß, zu dessen Beginn selbst die Frage "Auflösung oder Erhalt?" im Raum stand. Den Ausgangspunkt bildeten Vakanzen auf mehreren Lehrstühlen des modellhaften Regionalinstituts. Ende 1991 setzte das Rektorat einen unabhängigen Beraterausschuß auswärtiger Wissenschaftler ein. Sein Auftrag: Er solle - ohne jede Vorgabe - Empfehlungen für die Zukunft des SAI erarbeiten. Mitte 1992 lag ein umfassendes Gutachten auf dem Tisch. Ihm folgte ein Berufungsverfahren, das in der Geschichte der Universität Heidelberg einmalig ist: Sieben Fakultäten einigten sich auf ein "Paket" von Berufungslisten für Professoren fünf verschiedener Fachrichtungen. Jetzt muß das neue SAI seine Nagelprobe bestehen. Michael Schwarz berichtet.
Das Drehbuch des Neubeginns in Kurzform: 1991, im Dezember, geht ein Brief von Rektor Peter Ulmer an eine Reihe auswärtiger Experten heraus. Er enthält die Bitte, sie mögen in einem Beraterausschuß mitwirken, skizziert die Gründe und formuliert den Auftrag: Es erscheine geboten, "die Frage einer fachlichen und/oder organisatorischen Neustrukturierung des SAI im Interesse optimaler wissenschaftlicher Wirkungsmöglichkeiten grundlegend zu untersuchen". Erst dann könne über die (Neu-)Ausrichtung der vakanten Lehrstühle und ihre Wiederbesetzung entschieden werden. Zwei Monate später, im Februar 1992, konstituiert sich das Beratergremium, das bei Insidern bald unter dem Kürzel VC für visiting committee firmiert. Während der Sitzung präzisiert das Rektorat den Auftrag. Ihm liege daran, aus neutraler Sicht Vorschläge zur Frage der Auflösung oder Fortführung und, je nach Antwort, der künftigen Struktur und Arbeitsweise des SAI zu bekommen. Intensive Arbeitssitzungen, Vor-Ort-Gespräche und Debatten folgen. Anfang Juli 1992 legen die Berater unter Federführung des Freiburger Alt-Rektors Steinlin ihre Analyse und ihre Empfehlungen vor.
Was man darin liest, klingt für das SAI nicht immer schmeichelhaft. Dem großen Lob, es stelle "ein in Kontinentaleuropa einzigartiges wissenschaftliches Institut dar", folgen bald kritische Töne. Trotz vieler anerkennenswerter Leistungen einzelner Forscher habe das SAI seit dem Ende des Sonderforschungsbereichs Mitte der 70er Jahre "leider kein seinem wissenschaftlichen Potential entsprechendes Profil entwickelt". Die Kritik der Experten konzentriert sich auf Fragmentierung, Vernachlässigung der Region Südasien und eine ineffiziente Leitungsstruktur. Statt, entsprechend dem Gründungsauftrag, sehr eng zu kooperieren, habe sich im Verlauf von drei Jahrzehnten die Arbeit der mehr als 50 Wissenschaftler in 13 Fächern weit auseinanderentwickelt. Einige Professoren hätten "der Eigendynamik der von ihnen vertretenen Fachrichtungen" so weit nachgegeben, daß Südasien nicht mehr im Zentrum ihrer Tätigkeit stehe. Die bewußt schwach organisierte Institutsleitung sei historisch erklärbar, aber nicht den Aufgaben des Instituts angemessen.
Entsprechend fallen die Empfehlungen aus. Grundsätzlich - so bilanzieren die Berater - solle das SAI erhalten bleiben. Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung der Region bedürfe es auch im deutschsprachigen Raum mindestens eines Zentrums, in dem sich ein breites Spektrum von Wissenschaftlern koordiniert und systematisch mit Südasien beschäftige. "Für diese Aufgabe kommt in Deutschland nur das SAI Heidelberg in Betracht." Es solle auch weiterhin den Status eines Zentralinstituts der Universität behalten. Nur so bleibe die Chance zu interdisziplinärer Forschung institutionell gesichert. Weitere Empfehlungen der auswärtigen Berater: Die Arbeit des SAI solle auf den engeren südasiatischen Raum fokussiert werden. Das Institut habe sowohl Lehr- als auch Forschungsaufgaben zu erfüllen, und zwar gemeinsam durch seine Mitglieder - nur so könne es eine klare Identität gewinnen. In der Forschung seien die interdisziplinären Ansätze zu verstärken. Die Universität solle das SAI beauftragen, ein Graduiertenkolleg zu konzipieren und zu beantragen. Schließlich fordern die Berater einen grundständigen Studiengang "Südasienstudien" und empfehlen "nachdrücklich", eine Partnerschaft zwischen dem SAI und einer Universität aus dem südasiatischen Raum anzustreben. Detailliert beschreibt das visiting committee ein optimales künftiges Fächerspektrum und schlägt eine Gliederung in fünf Abteilungen vor: Indologie, Geschichte und Politik Südasiens, Soziologie und Ethnologie, Geographie, schließlich Wirtschaft Südasiens. Vier weitere Empfehlungen betreffen die Institutsleitung, einen externen wissenschaftlichen Beirat, die verstärkte Mitsprache des SAI bei Berufungen und die Bibliothek.
Des Revirements nächster Schritt findet - nach Diskussionen in den Fakultäten - Ende Januar 1993 im Senat statt. Hier und jetzt fällt der Beschluß, eine "Gemeinsame Kommission SAI" solle Berufungsvorschläge für die fünf vakanten Professuren unterbreiten. Wenig später erscheint in deutschen Zeitschriften und im Economist, der Far Eastern Economic Review, dem Times Higher Education Supplement und anderen eine Ausschreibung der fünf Professuren "im Paket". Nach den Neuen gesucht wird weltweit.
Blick zurück in die Gründungszeit des SAI. Ein politischer Schock Anfang der 60er Jahre dürfte es gewesen sein, dem das Institut seine Existenz verdankt - gepaart mit den ersten Ansätzen außenpolitischen Selbstbewußtseins der jungen Bundesrepublik, die massiv mit ihren Traumata Weltkrieg und Nazi-Diktatur zu kämpfen hatte. Den Politikern jener Zeit wurde drängend bewußt, daß es auch eine "Dritte" Welt gab, und daß der deutsche Teilstaat hier kaum präsent, Westdeutschlands Politik so sehr mit dem Wiederaufbau beschäftigt war, daß sie einen Großteil der Welt aus dem Gesichtskreis verlor. Heute, in der Zeit des globalen Dorfs, kann man sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen, wenn man in der Selbstdarstellung des SAI zu seinem zehnjährigen Jubiläum 1972 über die Gründe, ein solches Institut zu schaffen, liest: The "winds of change" which had swept across the third world were noticed also in Germany which had so far no particular connections with the problems of the developing countries.
Anfänglich seien die Berührungspunkte mit diesen Problemen der Außenpolitik und Entwicklungshilfe zugeordnet, folglich Sache der Bundesregierung gewesen. Erst später forderte der Bund die Länder auf, sich hier zu engagieren, stellte es ihnen aber frei, wie der Beitrag aussehen sollte. Einige Länder begannen eigene Entwicklungshilfeprojekte, Baden-Württemberg gab Grundlagenforschung den Vorzug. 1987, zum 25jährigen Jubiläum, schrieb der langjährige SAI-Forscher und heutige Direktor Dietmar Rothermund im Rückblick, das Land Baden-Württemberg unter Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger habe den neuen Aufgaben "besonders aufgeschlossen" gegenüber gestanden. Es strebte, als Ergänzung zu direkten entwicklungspolitischen Aktivitäten, Grundlagenforschung über die Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft der Länder der "Dritten Welt" an.
In Heidelberg griffen Wilhelm Hahn, der spätere Kultusminister, und Werner Conze, der spätere Rektor, die Initiative auf. Interdisziplinär sollte das neue Zentrum sein, regionale Konzentration erschien geboten. Die traditionsreiche deutsche Indologie, vor allem Heidelbergs Rolle in ihr, legten es nahe, über Südasien zu forschen. Breit war das Spektrum, das die Politiker und Gründungsväter vor Augen hatten: Philologische und historische Fächer sollten durch Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Geographie, Agrarwissenschaft und Tropenmedizin ergänzt werden. Hahn und Conze schwebte die Vision eines SAI als Treffpunkt von Ost und West vor - eines internationalen Zentrums, in dem sich der Austausch von Ideen zwischen Forschern unterschiedlichster Länder kristallisiert. Vieles von dem, was die Gründungsväter konzipierten, wurde Realität. Ein Teil der Vision blieb jedoch schon damals auf der Strecke.
In seinem Rückblick zum 25jährigen Jubiläum des SAI bezeichnet es Dietmar Rothermund als politischen Mut der Gründer, die "glückliche Konstellation jener Zeit" zu nutzen. Wenige Jahre später wäre an eine solche Gründung nicht mehr zu denken gewesen. "Die Rezession von 1967, die Universitätswirren nach 1968, die Reaktion auf den raschen Ausbau der Universitäten, die schließlich zu Stellenstreichungen führte, hätten eine Gründung dieser Art unmöglich gemacht." Den Visionen der Gründungszeit folgte die Realität - eine deutliche Nuance nüchterner. Vor allem kamen Lehrstühle, die man ursprünglich einrichten wollte, nicht mehr zustande. Synergieeffekte durch interdisziplinäre Forschung und Lehre - wichtigster Baustein in dem Konzept - stellten sich nicht automatisch dadurch ein, daß die Forscher, die ihren Fakultäten zugeordnet blieben, Ende der 60er Jahre unter ein gemeinsames Dach in den architektonisch angeblich so eindrucksvollen Neubau im Neuenheimer Feld zogen.
Auf der anderen Seite bestätigt die Erfolgsbilanz das damalige Konzept, ungeachtet der Frage, wie sich die Rolle eines solchen Regionalinstituts Mitte der 90er Jahre darstellt. Außer Zweifel steht, daß das Institut im Lauf der Jahre immer größeres Ansehen in Südasien erlangte und sich der wissenschaftliche Austausch mit der Region zunehmend intensivierte, während auch in der Politikberatung die Bedeutung wuchs. Gastprofessoren und Humboldt-Stipendiaten aus Südasien verbrachten produktive Semester in Heidelberg, ausländische Südasien-Experten zog es hierher. Von den Wissenschaftlern, die dem Institut angehörten, arbeiteten immer mehrere in Asien, entweder im Rahmen ihrer eigenen Feldforschung, als Zweigstellenleiter des Instituts oder mit Zeitverträgen anderer Organisationen. Die Arbeit findet in einer langen Liste von Publikationen ihren Niederschlag. Interessenten seien hier vor allem die Zehnjahresberichte South Asia Institute - The First Decade (Heidelberg 1973) und The Second Decade (1984) empfohlen. Der Erfolg läßt sich auch am Forscher-Nachwuchs ablesen, den das SAI ausbildete: Schon zum Silberjubiläum 1987 summierte sich die Zahl der Promotionen auf über 100, während 25 Habilitationen ihren positiven Abschluß gefunden hatten. Andere Universitäten, von Berlin über Hamburg bis Tübingen und Zürich, beriefen ehemalige SAI-Dozenten auf dortige Lehrstühle. In der zweiten Phase der Institutsgeschichte, der Zeit der Expansion zwischen 1967 und 1972, führte das Institut Großprojekte im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs (SFB) durch, vor allem Feldforschung im indischen Kohlerevier des Bezirks Dhanbad, Bihar, und das Orissa-Projekt. Zeiten des wissenschaftlichen Hochs, dem ein Niedergang folgte. Der SFB wurde nicht fortgeführt, Teile des Instituts legten sich durch Querelen lahm.
Zurück zur Gegenwart. Im November 1993 legt die Gemeinsame Kommission dem Senat ihr SAI-Berufungspaket vor. Sinologe Rudolf G. Wagner, der Vorsitzende, hat sich - wie er sagt - das SAI zur Herzensangelegenheit gemacht. Hochqualifizierte und international hochangesehene Kandidaten sind gefunden, wenn auch nur in sehr geringer Zahl. Eile ist geboten. Das Paket, heißt es immer wieder, sei fein aufeinander abgestimmt und dürfe nicht aufgeschnürt werden. So stimmt der Senat Listen für Klassische Indologie, Moderne Indologie - also Sprachen und Literaturen des modernen Indiens -, Politische Wissenschaft Südasiens, Volkswirtschaftslehre und Geographie Südasiens zu, wobei an dem letztgenannten Fach der Hinweis angebracht wird, daß Mensch-Umwelt-Beziehungen enthalten sein müssen. Das Paket drückt aus, was das visiting committee gemeint hat. Die Neuere Indologie geht gestärkt aus dem Revirement hervor, ebenso die anderen genannten Fächer, während die Religionswissenschaft Indiens nicht mehr besetzt wird. Gleichzeitig macht das Rektorat den beharrenden Kräften am SAI klar, daß - in Zeiten leerer öffentlicher Kassen und "Nullwachstums" - neue Bereiche nur ausgebaut werden können, wenn man alte schließt. Die Abteilung Rechtswissenschaft, ein ohnehin äußerst kleiner, nie durch einen Lehrstuhl vertretener Bereich, soll nicht fortbestehen, wenn der derzeitige Stelleninhaber ausscheidet. Auch für die "Kunstgeschichte Indiens", ebenfalls ein Fach ohne Dauer-Professur, gibt es am SAI keine Zukunft. Und schließlich schert, außerhalb der Berufungsverfahren, die Abteilung "Tropenhygiene und Öffentliches Gesundheitswesen" aus dem SAI aus. Sie wird dem Klinikum zugeordnet.
Kritik an der Tropenhygiene ist dieser Schritt nicht. Die aktive Abteilung, seit 20 Jahren geführt von Hans Jochen Diesfeld, hat sich zur transkulturellen vergleichenden Gesundheitsforschung hinentwickelt, arbeitet in medizinischer und experimenteller Parasitologie und ist vor allem erfolgreich auf einem Gebiet: beim englischsprachigen Master of Science-Kurs Community health in developing countries, den Mediziner und andere Gesundheitsfachleute aus allen Teilen der Welt absolvieren. Vorbereitungskurse für Entwicklungshelfer im Gesundheitsbereich, finanziert von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und anderen Trägern, ziehen 1500 Teilnehmer in die Abteilung. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: Noch im Frühjahr 1994 richtet der Bundesminister für Forschung und Technologie mit 9,8 Millionen Mark einen Schwerpunkt für tropenmedizinische Forschung im Verantwortungsbereich Diesfelds ein. Nur: Auf Südasien beschränken kann sich die Tropenhygiene nicht. Sie hatte vor allem Afrika und Lateinamerika im Auge. Unerwartet und tragisch kommt es Anfang 1994 zu einer neuen Vakanz. Erst kurz in Heidelberg, stirbt Richard Burghart, der - aus der Tradition der britischen Social Anthropology kommend - Spezialist für Religionsethnologie und Ethnomedizin war. Die C4-Stelle "Ethnologie Südasiens" wird ausgeschrieben, der Listen-Erste aus England lehnt aber Anfang 1996 den Ruf ab. Ergänzend beschließt der Senat, zur Stärkung des Studiengangs Ethnologie ein Institut für Ethnologie einzurichten, das an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften angesiedelt ist. Dem neuen Institut gehören zwei Professuren für Allgemeine Ethnologie und eine für die Ethnologie Südasiens an.
Anfang 1996 steht das Revirement kurz vor dem Abschluß. In Klassischer Indologie und Ethnologie wird noch verhandelt, aber sonst hat das SAI neue Gesichter bekommen: Clive Bell, Monika Böhm-Tettelbach, Hans G. Bohle und Subrata Mitra. Politologe Mitra und Entwicklungsökonom Bell, die beiden ausländischen Neuzugänge, portraitieren wir in den Kästen auf Seite 36 und unten. Monika Böhm-Tettelbach, früher Professorin für Neuindische Philologie an der Universität Bamberg, vertritt nun am SAI die Modernen Indischen Sprachen und Literaturen. Schon ihre Dissertation 1966 in Berlin ist eine sprachwissenschaftliche Arbeit. 1978 erschien die Habilitationsschrift "Sadani-Lieder: Studien zur nordindischen Volkslied-Literatur". Sie erörtert sowohl literarische Verfahren als auch linguistische Aspekte. Im Zentrum stehen aber religiöse Inhalte, hinduistische Kulte und ein durch Mission im 19. Jahrhundert hinzugekommenes Christentum. 1983 dann eine Monographie über die Bhakti-Sekte Dadupanth: Crossing the Ocean of Existence. Aus der langen Publikationsliste Monika Böhm-Tettelbachs nur zwei weitere Titel: "Nächtliches Wachen - Eine Form indischen Gottesdienstes" und Warrior-ascetics in 18th century Rajasthan, beide 1985. Auch Hans-Georg Bohle, früher Professor für "Wirtschaftsgeographie der Tropen" in Freiburg, legt eine Liste mit mehr als 100 Publikationen vor. Erst geht es um Bewässerung, Kastengliederung, dann um wirtschaftliche und soziale Probleme Südindiens. Bohles Forschungsprojekte im Rahmen der International Geographic Union beschäftigen sich mit Nahrungssystemen, Migrationen, Agrarinnovationen und der Waldnutzung in Indien, Nepal und dem Karakorum.
Neubeginn: Chance und Verpflichtung. Das Südasien-Institut muß jetzt seine Nagelprobe bestehen.
Satyagraha, Fasten und gherao, drei Methoden außerparlamentarischen Protests in Indien, ziehen Subrata Kumar Mitras Forscherblick besonders an. Politische Akteure in seiner Heimat, auch wenn sie macht- und kapitallos sind, verhalten sich ebenso klug "wie ein stock broker in New York", stellte der neue Heidelberger Professor für Politikwissenschaft Südasiens bei seinen Studien fest: In einer geschickten Doppelstrategie investieren sie hier in die eine Aktionsmethode, und dort in die andere - eine dynamische Mischung konventioneller und unkonventioneller Methoden führt oft, wie schon bei Gandhi, zum Ziel. Sein Buch darüber brachte dem 46jährigen Inder mit französischem Paß, der jetzt am Südasien-Institut lehrt, erste Anerkennung. "Ich suche nach Modellen der Ordnung und Anarchie in Indien seit der Unabhängigkeit", sagt er.
Mitra, geboren im indischen Orissa, studierte an der Utkal University in Bhubaneswar, erhielt seinen ersten "Master" von der Delhi University, den zweiten von der Jawaharlal Nehru University und wechselte dann, für den dritten "Master", an die University of Rochester, New York. Spieltheorie war es hier, die ihn faszinierte. 1976 in Rochester abgeschlossen, erschien 1978 in Delhi seine Doktorarbeit Ideological Structure, Strategy and Governmental Stability in Four Indian States: a game theoretic analysis. Später beschäftigte er sich mit anderen Methoden der politischen Analyse. Mitra sind mathematische Modellkonstruktion und empirische Feldforschung nicht fremd. Daß er nicht auf den engen Bereich der Schule einer Theoriebildung eingeschworen ist, merkte die "Gemeinsame Kommission Südasien-Institut" bei der Berufung nach Heidelberg positiv an. Beim Gegenstand seiner Forschung blieb der neue SAI-Professor erstaunlich beharrlich. Vor allem die Nahtstellen zwischen lokaler, regionaler und nationaler Politik interessieren ihn. Politischer Protest ist nach wie vor sein Top-Thema: nicht als Störfaktor, sondern als Beitrag zur politischen Entwicklung.
Dem 46jährigen schwebt vor - das sagt er bescheiden -, seinen Arbeitsbereich am SAI zu einem intellektuellen Zentrum für Politikwissenschaftler zu machen, einem Treffpunkt des Geistes für Ost und West. Sein Pendeln zwischen den Welten läßt ahnen, daß es sich nicht um eine leere Floskel handeln wird. Nach seiner Dissertation in Rochester ging er zurück nach New Delhi in den Indian Council for Social Science Research und an das Centre for the Study of Developing Societies. Drei Jahre später zog ihn Europa an: Mitra kam an das Maison des Sciences de l'Homme und die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Ein Humboldt-Stipendium in Bochum folgte, dann wurde er Abteilungsleiter eines Meinungsforschungs-Instituts in Paris - wieder für drei Jahre. Vor dem Heidelberger Ruf leitete der Politologe das Centre for Indian Studies der School of Social and Political Sciences an der Universität Hull, Großbritannien. Nicht zu vergessen, der Vollständigkeit halber, seine Gastprofessur im kalifornischen Berkeley. Neben Englisch und Französisch spricht er Oriya, Bengali und Hindi. Sein Deutsch wird Tag für Tag besser.
In der Lehre berücksichtigte Mitra immer auch theoretische Aspekte der modernen Politologie. Er bot Lehrveranstaltungen über Political Analysis und Comparative Legislatures an. Seine Bücher stellen indische Innenpolitik in den Vordergrund. Power, Protest and Participation: Local Elites and Development in India heißt ein Titel, Post-Colonial State in Asia ein anderer. Die Aufsätze handeln von politischer Theorie und Fragen der neuen internationalen Wirtschaftsordnung. Besonders erwähnenswert unter ihnen ist Paradoxes of Power: Political Science as Morality Play (1988). Warum es Mitra nach Deutschland zog, will ich von ihm wissen. Die Antwort kommt ohne Bedenkzeit: Hier gebe es mehr Spielraum für ihn und sein Fach als in England. Großbritannien mit seiner Vorgeschichte als Kolonialmacht, gepaart mit dem Neokolonialismus von heute, bildet offenbar eine Mentalität aus, die der Politologe als eng empfindet. "Mit Deutschland hat man als Vertreter der Politikwissenschaft Südasiens kein Problem: Wir waren nicht von Deutschland kolonialisiert." Natürlich sei ihm, wegen der Sprache, der Anfang in Heidelberg schwergefallen, aber hier bekomme er manpower, finanzielle Unterstützung und den angesprochenen Spielraum geboten. "Wenn ich die Sprache besser kann, werde ich mehr Möglichkeiten haben als in Berkeley." Grund ist einerseits das allgemeine Klima: Auch in den USA scheint der geistige Horizont - durch die Rolle der Vereinigten Staaten in der jüngeren Entwicklungshilfe - begrenzt. Auf der anderen Seite bietet Heidelberg durch die Konstruktion des Südasien-Instituts, vor allem die Einbindung in die Philosophisch-Historische Fakultät und die Nähe zum Institut für Politische Wissenschaft (IPW), ein für den 46jährigen attraktives Klima. Studenten des Instituts können bei ihm Scheine machen, am IPW-Stammtisch trifft er mit Kollegen aus dem Fach zusammen. Und die Familie? - Mitras Frau und Tochter sind dabei, am Neckar heimisch zu werden, trotz der ganz großen Bedenken, die es früher einmal gab...
Eigentlich wollte Clive Laurence George Bell, als er jung war, Ingenieur werden. Seinem "B.A."-Abschluß 1966 am St. John's College in Cambridge war ein Praktikum bei Hawker Siddeley Aviation vorangegangen, wie es das Institute of Mechanical Engineers von seinen Absolventen erwartete. Die Zukunft schien programmiert, doch dann kam alles anders. "Ich bin von der Wichtigkeit der Zufälle überzeugt", sagt der 52jährige, seit vergangenem Jahr Professor für "Volkswirtschaftslehre (Entwicklungsökonomie Südasiens)" am SAI. Um seinen Horizont ein wenig zu erweitern, begann er damals, 1965 in Cambridge, ein VWL-Studium, von dem er heute resümiert: "Das Fach begann mir sehr zu gefallen." Seine Doktorarbeit Technological change, output and distribution in a land-scarce economy an der University of Sussex zeigt den Grenzgang zwischen beiden Fächern schon im Titel. Bell wurde Assistent am entwicklungsökonomischen Institut der University of Sussex. 1974 bot sich dem damals 31jährigen die Chance, an die Weltbank in Washington zu wechseln. Dort arbeitete er elf Jahre. Seine weiteren Stationen: Gastprofessor an der Johns Hopkins University, von 1986 bis zu seiner Berufung nach Heidelberg Professor of Economics an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.
Südasien interessiert Bell seit Ende der 60er Jahre. 1969 und 1970 lebte er acht Monate im indischen Purnea im Nordosten Bihars, sammelte Ideen und Material für seine Dissertation. Später, 1971/72, kam er als technischer Entwicklungshelfer in die Region, bezahlt vom britischen Ministry of Overseas Development. Nach seinem Eintritt in die Weltbank begann Bell ein Forschungsprojekt über Kosten-Nutzen-Analyse und regionale Entwicklung im Nordwesten Malaysias, wo er drei Monate vor allem auf Datensuche verbrachte. Nach 1980 konzentrierte er sich wieder auf Indien und leitete dort eine empirische Erhebung in 1300 Haushalten, verteilt auf 34 Dörfer. Die Großstudie lieferte Daten über Markttransaktionen und Kultivierungsmethoden in der Landwirtschaft. Es ging um die Abhängigkeiten und Querverbindungen zwischen Kreditverträgen, Saisonarbeit und Pachtverhältnissen. Bells Vita hat drei große Sprünge. Warum der überraschende Sprung von der Weltbank zurück an die Universität? "Die Zustände in der Weltbank waren schlechter geworden", antwortet er. Früher, unter Vize-Präsident und Chefökonom Hollis Chenery, habe er an der Weltbank "viel Freiheit" gehabt: Freiheit, Probleme unabhängig betrachten zu dürfen. Als Reagan 1980 die Wahl gewann, zeichnete sich ein Richtungswechsel der Weltbank ab. Für die Forschung verschlechterte sich die Lage. Die neue Ideologie zielte auf eine vollständige Liberalisierung der Weltwirtschaft ab. "Man sprach jeden Tag über die Notwendigkeit, die Zölle zu reduzieren und gleiche Zollraten einzuführen." Dafür habe die Wirtschaftstheorie nur unter stark einschränkenden Bedingungen eine Begründung geliefert. Bell, fast 40, verspürte keine Lust, "sagen wir: Chefökonom für Sri Lanka zu werden". Er ließ sich bei der Weltbank beurlauben und bereitete den Wiedereinstieg in die akademische Welt vor.
Charakteristisch für Bells Werdegang ist, daß er sich nicht nur mit volkswirtschaftlichen Problemen beschäftigte - immer waren es auch die Grenzbereiche zu anderen Disziplinen, die ihn anzogen. Schon als graduate student interessierten ihn die Religionen und die Geschichte Südasiens. Sein erstes Buch mit Ko-Autor Hollis B. Chenery, Redistribution with growth, behandelt ein Thema, das entwicklungstheoretisch und -politisch allgemein bedeutend ist, aber den Blick stark auf Indien richtet. Es geht um die Verteilung der Einkommen im Zuge des Entwicklungsvorgangs. Sein zweites Buch Project evaluation in regional perspective: a study of an irrigation project in Northwest Malaysia, erschienen 1982 in Baltimore, beschäftigt sich mit der Zukunft des Reisanbaus als Monokultur in Malaysia. Von seinen 50 Aufsätzen bezeichnet der Ökonom Alternative theories of sharecropping: some tests using evidence from Northeast India, erschienen im Journal of Development Studies, und A bargaining theoretic approach to cropsharing contracts, publiziert im American Economic Review, als besonders wichtig. Zu nennen auch: Interlinked transactions in rural markets: an empirical study of Andhra Pradesh, Bihar and Punjab (1989), Agricultural credit markets in Punjab: segmentation, rationing and spillover (1990) sowie Rural poverty and agricultural performance in post-independence India (1994).
Die künftigen Schwerpunkte Bells in Heidelberg werden - wie schon seit sieben, acht Jahren - im Bereich der Kapitalmärkte liegen. Vertragsverhältnisse zwischen den Parteien, vor allem bezogen auf Geldverleiher und Banken in Indien, bleiben sein Top-Thema in der Zukunft. Dazu kommt die Frage der Armut. Auch wenn sich die Wirtschaft in Indien seit 1950 positiv entwickelt hat: Gibt es die Tendenz, daß Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden?
Sein vorerst letzter großer Sprung in der Vita war der nach Heidelberg. Deutschland kannte Bell durch eine Gastprofessur in Regensburg und... - durch seine in Deutschland geborene Frau. "Das deutsche Universitätssystem ist ein System von kleinen Baronien." Es biete den Vorteil, als Wissenschaftler für sich selbst verantwortlich zu sein, aber den Nachteil, leicht zum Einzelkämpfer zu werden.