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Auf den Spuren assyrischer Gelehrsamkeit

Mehr als fünftausend Jahre alt sind die ältesten Schriftstücke der Menschheit, überliefert in Keilschrift auf Tontäfelchen, die in viele tausend winzige Scherben zersplittert sind. Stefan M. Maul vom Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, neuester Leibniz-Preisträger der Universität Heidelberg, ist einer der wenigen Wissenschaftler, die die alten Dokumente lesen können. Zur Zeit entziffert er die Bestände der Fachbibliothek des Beschwörers Kisir-Assur aus Assur. Sie gibt Aufschluß über die Arbeitsweise und die Fragestellungen, mit denen sich die Magier Mesopotamiens im siebten vorchristlichen Jahrhundert beschäftigten. Akribische Detektivarbeit und wissenschaftliche Phantasie sind gefordert, um die Tontäfelchen wieder in ihren ursprünglichen Sinnzusammenhang zu bringen.

„Deine Weisheit und Kunst hat dich verleitet, daß du in deinem Herzen sprachst: ’Ich und sonst niemand!’ Aber nun wird Unglück über dich kommen, das du nicht wegzuzaubern weißt!“ Jesajas Prophezeiung über Babylon, die „Tochter der Chaldäer“, ging in Erfüllung. Beschwörungskunst und Magie hatten Babylon diesmal nicht retten können. Gleichwohl standen noch ein halbes Jahrtausend nach dem Untergang des babylonischen Weltreichs „Weisheit und Kunst“ mesopotamischer Beschwörer in Rom und Griechenland in hohem Ansehen. Strabo und Cicero, Plinius und Arrian rühmten Wissen und Fähigkeiten der „Chaldäer“. Voller Bewunderung berichtete Diodor noch im ersten Jahrhundert v. Chr.: „Sie studieren die ganze Zeit ihres Lebens. Sie beschäftigen sich viel mit der Wahrsagekunst und versuchen, die Abwendung der üblen Dinge und die Erfüllung der guten zu erreichen.“

Wie aber studierten diese Gelehrten? Mit welchen Fragestellungen beschäftigten sie sich? Worin bestanden ihre Kenntnisse und wie erwarben sie sie? Die Beantwortung dieser Fragen ist heute durch die Erschließung und Auswertung mesopotamischer Keilschrifttexte möglich geworden.

Heute wissen wir, daß in den Städten des südlichen Zweistromlandes bereits gegen 3200 v. Chr. – erstmals in der Menschheitsgeschichte – eine Schrift entwickelt wurde. Aus Bildzeichen entstand rasch ein kompliziertes Schriftsystem von jeweils mehrdeutigen Wort- und Silbenzeichen, die man mit einem Griffel in noch plastischen, zu Tafeln geformten Ton drückte. In der Keilschrift wurden neben dem mit keiner bekannten Sprache verwandten Sumerischen, das bereits um 2000 v. Chr. ausstarb, aber in Assyrien und Babylonien als „Kultsprache“ weiterexistierte, auch die semitische Sprache der Assyrer und Babylonier, das Akkadische, und über zehn weitere altorientalische Sprachen notiert.

Mehr als drei Jahrtausende hatten die Städte und Reiche Mesopotamiens geblüht. Um die Zeitenwende jedoch ging die uralte Keilschriftkultur in der hellenistischen Welt des Orients auf. Die Keilschrift wurde aufgegeben und geriet rasch in Vergessenheit. Obwohl der Alte Orient Weltbild, Religion und Wissenschaften der griechisch-römischen und der christlich-jüdischen Kultur entscheidend mitgeprägt hatte, verblaßte bald die Erinnerung an diese stolze Kultur. Erst die archäologischen Forschungen in Mesopotamien, die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts einsetzten, ließen den Alten Orient wieder erstehen. Nicht nur die Ruinen der sumerischen, assyrischen und babylonischen Städte wurden wiederentdeckt, sondern Archäologen fanden auch einige hunderttausend keilschriftliche Dokumente – die trotz reger Editionstätigkeit bisher nur zu einem geringeren Teil erschlossen sind.

Fachbibliothek auf zersplitterten Tontafeln

Im Laufe der wechselvollen Geschichte des Zweistromlandes wurden Archive und Bibliotheken immer wieder durch Naturkatastrophen oder kriegerische Auseinandersetzungen zerstört. Die zerbrechlichen Tontafeln mochten dabei in kleine Fragmente zersplittert sein. Aber im Schutt von Häusern, Tempeln und Palästen blieben die Bruchstücke erhalten. Denn der harte, luftgetrocknete oder gebrannte Ton gehört mit Stein und Gold zu den Materialien, die selbst unter ungünstigen Bedingungen im Erdboden die Zeiten überdauern. Während die Bibliothek von Alexandria verbrannte und mit ihr ein großer Teil des Wissens der klassischen Antike verloren ging, blieben altorientalische Texte aus nahezu allen Bereichen des Lebens erhalten.

Einen bedeutenden Einblick in die Welt des Alten Orients eröffnete die Deutsche Orient-Gesellschaft. Finanziell unterstützt von Kaiser Wilhelm II., der selbst Keilschriftstudien betrieb, schickte sie 1903 eine Expedition an den Tigris, um die Stadt Assur, die Hauptstadt des damals fast mythischen alten Assyriens, auszugraben. Unter der Leitung des Architekten Walter Andrae erforschte man elf Jahre lang das Stadtgebiet. Meder und Babylonier hatten Assur im Jahre 614 v. Chr. eingenommen, geplündert und dem Erdboden gleich gemacht und sich so Genugtuung verschafft für die Jahrhunderte währende, grausame Unterdrückung durch die Assyrer. Trotz der gewaltigen Zerstörungen gelang es den Ausgräbern, ein recht genaues Bild von der Akropolis der Stadt Assur mit ihren Tempeln, Palästen und Befestigungswerken zu zeichnen. Sie überzogen das gesamte von Mauern umgebene Stadtgebiet mit zehn Meter breiten Suchgräben, die sie im Abstand von jeweils 100 Metern anlegten. Wie erwartet, wurden die Reste zahlreicher Privathäuser entdeckt. Im Schutt eines Wohnhauses, das im siebten vorchristlichen Jahrhundert erbaut worden war und "Chaldäern” gehört hatte, machte man einen der bedeutsamsten Tontafelfunde. Auf den Fußböden mehrerer Zimmer verstreut lagen über tausend Tontafelfragmente. Die Archäologen hatten die Fachbibliothek des Beschwörers Kisir-Assur gefunden, der im Dienste des letzten großen assyrischen Herrschers Assurbanipal (669-627 v. Chr.) stand und – wie von Diodor beschrieben – "üble Dinge” von seinem König fernzuhalten hatte, wenn dieser in Assur weilte.

Der kulturhistorische Wert dieses Fundes ist unermeßlich. Zwar sind nicht wenige Texte aus der altorientalischen Gelehrtentradition durch die Entdeckung der umfangreichen Bibliothek bekannt geworden, die Assurbanipal in seiner Residenz in Ninive aufbauen ließ. Aber die königliche Bibliothek war darauf angelegt, das gesamte Schrifttum der damaligen Zeit zu erfassen. Daher bleibt unklar, welche Literatur die Beschwörer dort für ihre Arbeit heranzogen. Die Bibliothek aus Assur hingegen liefert uns ausschließlich die Texte, die die Beschwörer im Rahmen ihrer Tätigkeit benötigten. Eine Auswertung des Bestands der Bibliothek ermöglicht daher nicht nur, den Aufgabenbereich der "Chaldäer” aus Assur genau zu erfassen. Das Ensemble der gefundenen Tontafeln kann auch einen tiefen Einblick in ihre Arbeitsweise und ihr Schaffen eröffnen.

Entsprechende Untersuchungen können jedoch nicht sogleich angestellt werden. Die mühsamen Vorarbeiten, die zunächst geleistet werden müssen, spiegeln die Schwierigkeiten, mit denen die junge Disziplin der Assyriologie zu kämpfen hat. In einem ersten Schritt muß der gesamte Bestand der Bibliothek erfaßt und erschlossen werden. Die Voraussetzungen hierfür sind durchaus günstig. Nach Abschluß der Ausgrabungen gelangten die etwa 16 000 in Assur gefundenen Tontafeln zu einem wesentlichen Teil in das Berliner Pergamon-Museum, zu einem geringeren in die Archäologischen Museen zu Istanbul. Mit Hilfe der vorbildlich geführten Grabungstagebücher konnte ein schwedischer Kollege 80 Jahre nach Abschluß der Grabungen die Fundstellen der meisten Tontafeln aus Assur ermitteln. So ist nun weitenteils bekannt, welche Tafeln im Hause des Kisir-Assur freigelegt wurden. Es zeigte sich, daß bislang nicht einmal die Hälfte dieser etwa 1100 Texte veröffentlicht wurde. Aus verständlichen Gründen hatte man sich zunächst den besser erhaltenen Tontafeln zugewandt. Etwa 600 Tafelfragmente, oft in schlechtem Erhaltungszustand, blieben ungelesen.

„Joinen“: mit Akribie und detektivischen Spürsinn

Das erste Ziel des hier vorgestellten Projekts ist, den gesamten Bibliotheksbestand zu erschließen und die unveröffentlichten Teile der Bibliothek zu edieren. Wie die Scherben einer zerbrochenen Vase müssen möglichst viele Tafelfragmente mit bereits publizierten oder unpublizierten Tafelbruchstücken zusammengefügt werden. Auf diese Weise sollen aus kleineren Tontafelscherben, die für sich betrachtet fast unbrauchbar sind, möglichst vollständige Texte wiedererstehen. Wollte man auf der Suche nach Tafelfragmenten, die zusammen gehören, jedes der 1 100 Bruchstücke mit den jeweiligen anderen zusammenhalten, um zu sehen, ob sie sich „joinen“ lassen, müßte dieser Vorgang 604 450mal wiederholt werden. Dies ist freilich undurchführbar. Man muß also die Tafelfragmente nach inhaltlichen Kriterien in möglichst kleine einheitliche Gruppen gliedern und sich dann innerhalb dieser Gruppen um Textzusammenschlüsse bemühen.

Zunächst muß jedes unveröffentlicht gebliebene Tontafelfragment anhand des Originals maßstabsgerecht gezeichnet werden. Es genügt – besonders bei beschädigten Tafeln – nicht, zur Entzifferung lediglich eine Photographie des Stücks zur Hand zu nehmen, da sich die Keileindrücke oft erst durch das Spiel von Licht und Schatten zu lesbaren Zeichen formen. Auf einer Photographie ist eine Verletzung der Tafeloberfläche häufig kaum von einem Keil zu unterscheiden. Die exakte Zeichnung eines Tafelbruchstückes gewährleistet, daß auch beschädigte, nicht sicher zu identifizierende Keilschriftzeichen objektiv dokumentiert werden.

Auch wenn die Umzeichnung eines Tafelfragments erstellt und jedes darauf erhaltene Keilschriftzeichen identifiziert ist, bedeutet dies nicht immer, daß der Inhalt des Textes erfaßt werden kann. Denn die meisten Keilschriftzeichen haben eine Vielzahl von Wort- und Silbenbedeutungen. Erst im Kontext fügen sie sich zu einem sinnvollen Ganzen. Kleinere Tafelbruchstücke können daher oft zunächst keiner Textgattung zugeordnet werden. Manchmal bleibt sogar unklar, ob ein solches Textfragment in sumerischer oder akkadischer Sprache verfaßt war. Erst das Studium zahlreicher besser erhaltener Keilschrifttexte ermöglicht, daß eine bestimmte Zeichenfolge wiedererkannt wird und durch den Vergleich mit dem besser erhaltenen Stück, das den inhaltlichen Zusammenhang erkennen läßt, gelesen werden kann. Gelingt es, den Wortlaut eines fragmentarischen Textes über die Bruchstellen hinaus zu ergänzen, läßt sich mit einigem Glück ein Fragment finden, das eben die ergänzten Wendungen enthält. Die Wahrscheinlichkeit, daß beide Bruchstücke zusammengehören und gemeinsam einen vollständigeren Text ergeben, ist dann recht hoch.

Welche Fragen beschäftigten die „Chaldäer“?

Auf der Suche nach Textzusammenschlüssen ist das äußere Erscheinungsbild der Tafelbruchstücke bisweilen irreführend. Obwohl zwei Stücke zu derselben Tafel gehören, können sie durchaus jeweils eine andere Färbung aufweisen. Das eine Stück kann von Asche geschwärzt, aber hervorragend erhalten sein, während das andere stark erodiert und lederbraun ist. Allerdings liefern Tafelform, Struktur und Magerung des Tons ebenso Hinweise auf die Zusammengehörigkeit zweier Fragmente wie die genaue Beobachtung von auffälligen orthographischen Konventionen und eigenwilligen Zeichenformen.

Mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung werden inhaltliche Charakteristika wie Sprache, Textgattung, Schlüsselwörter und äußerliche Merkmale eines jeden publizierten und unpublizierten Tafelbruchstücks gespeichert. Fragmente, die ein bestimmtes Cluster von Eigenheiten aufweisen, können dann aus dieser Datei aufgerufen und auf Zusammengehörigkeit überprüft werden. Auf diese Weise wurden bereits viele Textzusammenschlüsse gefunden. Aus sieben kleineren Fragmenten konnte zum Beispiel die Beschreibung eines zuvor unbekannten Rituals rekonstruiert werden, das dazu diente, den Zorn von Göttern zu besänftigen, die König und Land durch eine Feuersbrunst hatten strafen wollen.

Auch wenn die philologische Erschließung des Bibliotheksbestandes noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird, kann nach erster Durchsicht der zugehörigen Tafeln bereits ein recht genaues Bild von der Tätigkeit der Beschwörer aus Assur gezeichnet werden.

Kisir-Assur hatte im wesentlichen gemeinsam mit seinem Neffen und Schüler, Kisir-Nabû, Abschriften von den wichtigsten Beschreibungen babylonischer Rituale angefertigt. Wie sie in Kolophonen vermerkten, waren diese Tafeln oft „eilig für die Durchführung“ eines Rituals von „Vorlagen kopiert“, die aus Babylon, Uruk, Nippur und anderen mesopotamischen Städten stammten. Die philologische Gewissenhaftigkeit, mit der die Beschwörer arbeiteten, überrascht. Sofern ihnen beim Kopieren eines Textes mehrere voneinander abweichende Textvertreter zur Verfügung standen, notierten sie die Textvarianten. Blieb einmal nicht die Zeit zu prüfen, ob die Kopie auch tatsächlich genau mit der Vorlage übereinstimmte, wurde auch das vermerkt. Nachschlagewerke unterstützten ihre Arbeit. Sumerisch-akkadische „Wörterbücher“ auf Tontafeln ermöglichten den Beschwörern, sumerische Texte mit einer akkadischen Übersetzung zu versehen. Lexikalische Listen und Verzeichnisse der im ausgehenden dritten Jahrtausend v. Chr. üblichen Keilschriftzeichenformen dienten als Hilfsmittel zum Verständnis alter Texte, die Kisir-Assur abschrieb und, wenn er es im Rahmen der Ausbildung seiner Studenten für notwendig erachtete, auch kommentierte. Eine in seinem Haus entdeckte Zusammenstellung der „Tontafelserien, die für die Lehre und das Studium (eines Beschwörers) verbindlich sind“, liefert uns das Curriculum der Ausbildung. Etwa zwei Drittel der dort genannten Werke lassen sich bisher in der Beschwörerbibliothek nachweisen. Es haben sich sogar Fragmente von Katalogen der Bibliotheksbestände gefunden.

Die wesentliche Aufgabe der Beschwörer bestand darin, das Wohlergehen des Königs und seiner Beamten zu sichern und jegliches Unheil von König, Volk und Land abzuwenden. Wenn der Reichsgott Assur dem König und dem Land im Rahmen des Neujahrsfestes „das Schicksal bestimmte“, hatte Kisir-Assur dafür zu sorgen, daß alle Riten ordnungsgemäß durchgeführt wurden, damit der Gott günstig gestimmt war. Festbeschreibungen, komplizierte Reinheits- und Badevorschriften für den König, Hunderte von Bitt- und Sühnegebeten in sumerischer und akkadischer Sprache und Vorschriften für die kultische Reinheit der Tempel geben Zeugnis von diesen Aufgaben.

Der Fund einer Reihe von historischen Texten war unerwartet. Die Auswahl der Texte spricht dafür, daß Kisir-Assur, wohl auf Weisung des assyrischen Königs, der Babylon okkupiert hatte, folgende Fragen zu klären suchte: Welche Umstände hatten Marduk, den babylonischen Reichsgott, im Verlauf der Geschichte veranlaßt, einen Nicht-Babylonier als Herrscher über Babylon anzuerkennen, und aufgrund welcher Verfehlungen hatte Marduk einem Herrscher von Babylon seine Gunst entzogen? Die Ergebnisse bildeten die Grundlage für die Neuordnung des assyrischen Staatskults, die Assurbanipal von den Beschwörern von Assur ausarbeiten ließ. Dieser frühe Versuch, Gesetzmäßigkeiten im historischen Geschehen zu ermitteln, um diese für das politische Handeln nutzbar zu machen, verdient Beachtung! Zur Steigerung des persönlichen Erfolgs des Königs diente das Ritual „Damit der, der ihn sieht, sich freut“. Militärisches Gelingen erhoffte man von Waffenweihen, dem Ritual „Damit der Pfeil des Feindes nicht herankomme“ und magischen und hygienischen Maßnahmen zur Seuchenverhinderung im Feldlager. Ob das Ritual „Um ein zänkisches Weib mit seinem Mann zu versöhnen“ ebenfalls für den König gedacht war, wissen wir nicht.

Andere Texte beschreiben, wie Häuser, Tempel und Paläste vor Feinden und Krankheitsdämonen geschützt werden sollten. Unter Toren und Türschwellen und in den Ecken des Hauses und der Zimmer sollten in einer großen Zeremonie Figürchen von Schutzgeistern vergraben werden. Kisir-Assur führte dieses Ritual nicht nur für seine Auftraggeber aus. Unter seinem eigenen Haus fand man insgesamt zwölf Ziegelkapseln mit 41 Figürchen der guten Geister. Auf eines davon hatte der Beschwörer geschrieben: „Tritt ein, Geist des Heils! Verschwinde, böser Geist!“ Omensammlungen ermöglichten den Beschwörern, den Zorn der Götter zu erkennen, noch bevor er in einem spürbaren Unheil Gestalt angenommen hatte. Mit Hilfe einer umfangreichen Sammlung von „Löseritualen“ versuchten sie, die Götter rechtzeitig zu besänftigen.

Auch Diagnose und Behandlung von Krankheiten zählten zu dem Aufgabenbereich Kisir-Assurs und seiner Schüler. Zahlreiche medizinische Texte, die in dem Haus der Beschwörer gefunden wurden, beweisen, daß Herodot mit der Meinung, die Mesopotamier hätten keine Ärzte gekannt, einer Fehlinformation erlegen ist.

Krankheit erklärte man als Besessenheit von Dämonen oder Totengeistern, die den Menschen packen und fesseln. So wurde zum Beispiel Epilepsie als das Wirken des „bösen utukku-Dämons“ und die Kindersterblichkeit sowie das Kindbettfieber als Hinterlisten der Dämonin Lamaschtu gedeutet. Beschreibungen exorzistischer Rituale waren daher ein wichtiger Bestandteil der Beschwörerbibliothek. Gebete – oft in sumerischer Sprache –, Opfer, um die Götter gnädig zu stimmen, und viele magische Manipulationen, die den Praktiken der Voodoo-Zauberer nicht unähnlich sind, bildeten die wesentlichen Elemente einer solchen Behandlung des Patienten. Daneben waren auch Riten zur Abwendung der bösen Folgen von Schadenzauber von Bedeutung. Niemand zweifelte an der Wirksamkeit der „magisch-religiösen“ Therapie, da die Gebete und Ritualanweisungen – wie bisweilen auf den Tafeln vermerkt – auf göttliche Offenbarung oder aber auf die Kenntnisse „der alten Weisen aus der Zeit vor der Sintflut“ zurückgeführt wurden.

Während in vielen Ritualbeschreibungen die magisch-religiöse Einordnung der Krankheit im Vordergrund steht, wirken andere medizinische Texte aus Assur eher nüchtern empirisch: „Wenn ein Mensch sehr ängstlich und nervös ist; wenn seine Augen ständig herumwandern und er unter Erschöpfung leidet; wenn seine Körpertemperatur nicht hoch ist, er aber häufig hustet, und während sein Inneres immer mehr drückt, Speichel zu fließen beginnt; wenn seine Gedärme von der ,Durchfall-Krankheit’ schmerzen und er an Durchfall leidet; wenn außen sein Fleisch kalt ist, während darunter seine Knochen vor Hitze brennen; wenn er aufgibt zu versuchen, sich schlafen zu legen, und während sich seine Luftröhre verstopft, er nach Atem schnappt und er ,Feuer-Brennen’ oder ,Brennen des Inneren’ an vielen Stellen hat – dieser Mann ist von dem setu-Fieber befallen.“ Die Beschwörer von Assur stellten regelrechte therapeutische Kompendien zusammen, die oft sehr rational wirken. Als Beispiel sei hier ein Rezept zur Behandlung der hochansteckenden und oft tödlich verlaufenden Hautkrankheit sacharschubbu vorgestellt: „Wenn auf dem Körper eines Menschen sacharschubbu entsteht, räucherst du mit sariptanu-Kraut darüber bis die Pustel Trockenes enthält. Die Pustel schälst du ab. Du verbindest ihn mit Salz und der Pflanze ‘gehörntes Alkali’ und er wird gesund werden. (...) Wenn ein Mensch voll ist mit sacharschubbu, zerstößt du Körner der Hirschhorn-Pflanze, vermischst sie mit ‘Löwentalg’ (wohl eine Pflanze). Du verbindest ihn und er wird gesund werden.“

Die am häufigsten genannten Krankheiten sind Augen- und Ohrenkrankheiten, Zahnschmerz, Aussatz, Epilepsie, Gelbsucht, Geschwülste, Haut- und Fieberkrankheiten, Wassersucht, Husten und Frauenkrankheiten. Sogar Anweisungen zur Behandlung von Sprachstörungen oder Haarausfall waren vorhanden. Eine umfangreiche Tafelserie ist der Behandlung von Impotenz gewidmet.

Lebensklug und wissenschaftlich genau

In den erhaltenen Rezepten werden sowohl innerlich als auch äußerlich zu verabreichende Medikamente genannt. Eine gewaltige Anzahl von Pflanzen und Pflanzenprodukten (Samen, Blätter, Wurzeln, Früchte), aber auch von Mineralien und tierischen Produkten fand Verwendung. Leider kennen wir von vielen Pflanzen und Steinen nur die babylonischen oder sumerischen Namen, ohne sie mit bekannten Pflanzen oder Steinen identifizieren zu können. Erschwerend kommt hinzu, daß auch Decknamen für die verwendeten Pflanzen benutzt wurden. Daher ist oft nicht möglich zu entscheiden, ob die Heilwirkung der hergestellten Arzneien pharmakologischer oder eher „magischer“ Natur war. Pflanzen und Mineralien wurden Tränken aus Bier, Wein, Milch, Öl oder Wasser beigesetzt. Sogar Pillen waren bereits bekannt. Zu den äußerlich anzuwendenden Heilmitteln gehören Pflaster und Verbände, die über aufgetragene Salben gelegt wurden. Auch Tampons und Zäpfchen, Klistiere, Räucherungen, Dampfbäder und Gurgelmittel kamen zur Anwendung.

Der Fund von übersichtlich aufgebauten, sehr umfangreichen keilschriftlichen „Bestimmungsbüchern“, in denen Aussehen und Heilwirkung von Pflanzen und Mineralien zusammengestellt waren, zeigt das ernsthafte wissenschaftliche Interesse der Beschwörer an der Heilkunst. Auch wenn der Versuch, mittels Magie und Ritual die Ordnung in der Welt aufrecht zu erhalten, und das dahinterstehende geschlossene Weltbild dem modernen Menschen fremd erscheinen mag, sollte man die psychologische Wirkung der Rituale der Beschwörer nicht unterschätzen. In jedem Falle verbindet die akribische Suche des Kisir-Assur nach Erkenntnis den modernen Wissenschaftler mit dem Forscher aus assyrischer Zeit...

Autor:
Prof. Dr. Stefan M. Maul
Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients – Assyriologie, Sandgasse 7, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 29 65

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