Aus der Stiftung Universität Heidelberg
Unterstützt von der Stiftung Universität Heidelberg fand vom 14.-17. Juli 1997 im Internationalen Wissenschaftsforum das erste Heidelberger Wissenschaftskolleg statt, zu dem Thema „Die autonome Person – eine europäische Erfindung?“. Das Konzept zu dieser Form von Konferenz wurde vom früheren Direktor, Prof. Dietrich Ritschl, und vom Kuratorium des IWH sowie im interdisziplinären Gesprächskreis „Kulturanalyse“ entwickelt. Mit dem Wissenschaftskolleg soll eine neue Form wissenschaftlicher Kooperation erprobt werden. Zu einer interdisziplinären Fragestellung sollen ausgewählte Forscher verschiedener Generationen ins Gespräch gebracht werden, das heißt, neben international führenden Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Fächer werden auch gerade habilitierte oder neuberufene jüngere Kolleginnen und Kollegen eingeladen.
Das erste Wissenschaftskolleg sollte das Thema „Die autonome Person – eine europäische Erfindung?“ behandeln. Es wurde geplant von Reiner Wiehl (Philosophie) und Klaus Peter Koepping (Ethnologie) unter Beratung von Jan Assmann (Ägyptologie) und Michael Welker (Systematische Theologie). Die 25 Referate kamen nicht nur aus den Bereichen Philosophie, Ethnologie und Anthropologie, sondern auch aus der Ägyptologie, Indologie und Sinologie, aus den Fächern Altes und Neues Testament, Judaistik, Systematische Theologie und Psychologie. Nach antiken, vormodernen und nicht-abendländischen Kulturen wurden kultur-, literaturwissenschaftliche und philosophiegeschichtliche Untersuchungen zur abendländischen Moderne erörtert. „Ist die autonome Person eine europäische Erfindung?“ Die Antwort hängt von der Bestimmung des Autonomiebegriffs ab. Wird unter Autonomie nur „Autarkie“ verstanden, so ist keineswegs von einer europäischen Erfindung zu sprechen. Bereits vor über 4000 Jahren wird das „innere Selbst“ in Ägypten entdeckt (Jan Ass-mann, Heidelberg); im 6. Jh. vor Chr. wird in Indien ein Seelenkonzept (Atman) entwickelt, das auf ein Selbst abstellt, welches nur durch sich selbst beeinflußt werden kann (Klaus Butzenberger, Berlin). Aber auch die gegen Vereinnahmung resistente Selbstpräsentation einer Person in einer Fülle von Perspektiven und Rollen, die dem sogenannten postmodernen Denken als „Autonomie“ erscheinen mag und die auf den Begriff der „Autoplexie“ gebracht wurde, kann nicht als eine „europäische Erfindung“ angesehen werden. Sie findet sich zum Beispiel in afrikanischen Stammeskulturen (John und Jean Comaroff, Chicago). Eine weitere Form, die als Autonomiekonzept verstanden werden könnte, war die Person als eine gleichsam gewachsene oder errungene normative Instanz, die durch ein „eschatologisches Gericht“ hindurchgegangen ist. Ein solches Konzept wird schon in Ägypten entwickelt (Jan Assmann). Eine ähnliche „normative Persönlichkeit“ wird aber auch in Beerdigungsriten afrikanischer und anderer Stammes-Kulturen (J. u. J. Comaroff; Burkhard Schnepel, Heidelberg) durch ein Geflecht von „Zeugnissen“ der anwesenden Gäste zum Ausdruck gebracht.
Doch auch diese Instanz normativer Ausstrahlung entspricht noch nicht dem modernen europäischen Autonomiekonzept. Näher kommt ihm im Alten China die geprägte „alternative Weltsicht“ bei den Eremiten, die durchaus – sogar in einem kaiserlichen Ritual – geachtet werden, die aber doch nicht in direkter Weise gestaltend auf die normativen Sphären gesellschaftlichen Lebens einwirken (Rudolf Wagner, Heidelberg). Einen wichtigen Grundzug der europäischen Konzeption der autonomen Person bildet das „agonale Selbst“ Griechenlands aus (Egon Flaig, Göttingen), das in permanenter Selbstdurchsetzung den Wettbewerb als Grundform der Kulturgestaltung empfiehlt.
Dem modernen europäischen Konzept der Autonomie liegen mehrere weitere Differenzierungsleistungen zugrunde, auf deren erste Michael Fishbane (Chicago) anhand rabbinischer Interpretation alttestamentlicher Überlieferungen aufmerksam machte. Als „autonome Person“ kandidiert einmal das „religiös herausgehobene, gereinigte und gegen Außeneinwirkungen immunisierte Selbst“, zum anderen aber der „individuelle Vollstrecker einer religiös kodierten moralischen Aktivität“. Beide Perspektiven – einerseits reines, gegen Fremdbestimmung immunes Selbst (Typus: Noah, der „mit Gott wandelte“), andererseits normativer Kultur-, Gesellschafts- und Weltgestalter (Typus: Abraham, der „vor Gott wandelte“) – finden sich im modernen europäischen Autonomiekonzept.
Wie die philosophischen Beiträge zeigten (Reiner Wiehl, Heidelberg; Dominik Perler, Oxford), erfolgen im europäischen Konzept Differenzierungen im „inneren Selbst“, die die autonome Person als „in einem beständigen inneren Kampf mit sich selbst begriffen“ zu verstehen nötigen. Die autonome Person muß einerseits „im Streben nach Kohärenz der regelgeleiteten Selbststeuerung, andererseits durch Beherrschung der leiblich-sinnlichen Natur die Einheit und Stetigkeit der Person immer neu gewinnen“. Das „agonale Selbst“ wird also verinnerlicht und bewährt die Autonomie in einem anhaltenden Kampf mit sich und im beständigen Siegen über sich selbst. Dieser zu erringende Selbstgewinn geht aber einher mit einer achtunggebietenden Selbstdarstellung und einer stetigen Umgebungsbeeinflussung in der Sphäre der Moral. In dynamischer Weise wirkt diese Autonomie auf die Mitmenschen vorbildgebend und fordert ihre eigene Selbstvervollkommnung und Selbstverstetigung heraus. Dieser Wechselwirkungsprozeß soll – so lautet jedenfalls die Theorie – zu einer stetigen Steigerung der moralischen Kohärenz des ganzen Gemeinwesens führen.
Das Konzept der modernen autonomen Person verbindet also „Selbstvervollkommnung und moralische Weltvervollkommnung“ (Kant) beziehungsweise, allgemeiner gefaßt (Peirce), eine „Vervollkommnung persönlichen Symbolgebrauchs in Richtung auf eschatologische Gültigkeit hin“ (Michael Hampe, Heidelberg). Bei dieser Integrationsleistung der europäischen Moderne kommen offenbar Mischformen biblischen und platonisch-stoischen Denkens sowie ausdrücklich biblische Motive und Denkformen zur Geltung. Die vor allem neutestamentliche Erneuerung des Selbst durch die „Kraft des Geistes“ brachte implizit die Dimension der Sozialität mit ein (Gerd Theißen, Heidelberg), da das Geist-Wirken („Ausgießung“!) ein über vielfältige verschiedene Menschen zugleich vermitteltes Geschehen darstellt, eine Kraft also, die in der Persönlichkeitsbildung die sozialen Umgebungen auf emergente und doch geformte Weisen aktiviert.
Durch reine Moralisierung des Autonomiekonzepts, durch die Ausdifferenzierung von Moral und Recht sowie die religiöse Entleerung der Persönlichkeitsbildung kommt eine Typisierung, Vereinheitlichung und Flexibilisierung der autonomen Person zum Tragen, die sich zunächst als Stärke, dann aber als Krise der Moderne ausweist (Jochen Hörisch, Mannheim; Kenneth Gergen, Swarthmore; Suzanne Kirschner, Holy Cross). Unter Suchformeln wie „Autopoiesis statt Autonomie“, „Relationalität“, „dialogische Therapie“ wurde nach überzeugenderen Konzepten von Person und personaler Freiheit gefragt (Catherine Keller, New York; Kenneth Gergen, Mona De Koven Fishbane, Chicago). Philosophische Versuche wurden unternommen, eine Synthese zwischen der Moralphilosophie des späten Kant und der Moralkritik Nietzsches herzustellen (Wolfgang Stegmaier, Greifswald).
Als eine Vielzahl von Freiheitskonzepten integrierende europäische Errungenschaft, die nicht leicht ersetzt werden kann – so stellte sich das Konzept der „autonomen Person“ am Ende der Tagung dar. Bei der Suche nach Alternativen empfahlen sich die Arbeit an der Differenz von „Autonomie und Authentizität“ (Gabriel Motzkin, Jerusalem), am Zusammenhang von „Autonomie, Sozialität, Soziabilität und Stellvertretung“ (Sigrid Brandt, Heidelberg) und romantische Denkentwicklungen, etwa Theorieansätze des ganz frühen Schleiermacher, die „Prozesse der Koevolution vielfältiger konkreter Individualität und sozialer Formen“ zu erfassen suchen. Doch hierbei handelt es sich um komplexe Denkexperimente, die Schleiermacher nicht zur Publikationsreife bringen konnte, und die zu einer konsolidierten Theorie personaler Freiheit erst noch fortzuentwickeln wären. Eine dem modernen europäischen Person- und Autonomiekonzept klar überlegene „Erfindung“ wird dringend benötigt, steht aber, so scheint es, noch aus.