Gesicherter Lebensstandard im Alter?
Das deutsche Alterssicherungssystem ist kostspielig und zeigt dennoch deutliche Mängel. Dies ist das Ergebnis eines internationalen Vergleichs zur Alterssicherung in vier westeuropäischen Ländern. Wie sich die Systeme in Deutschland und Großbritannien, in Schweden und in der Schweiz unterscheiden und welche Anstöße und Anregungen sich aus diesem Vergleich für die sozialpolitische Reformdiskussion in Deutschland ergeben können, erläutert Jürgen Kohl vom Institut für Soziologie.
Probleme der Alterssicherung sind seit geraumer Zeit ein wiederkehrendes Thema der öffentlichen und politischen Diskussion in der Bundesrepublik. Angesichts des "objektiven" Problemdrucks dürften sie auch nach der Rentenreform 1999 auf der politischen Tagesordnung bleiben. Im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit steht dabei meist, wie der durch die demographische Entwicklung, aber auch durch Massenarbeitslosigkeit und Strukturveränderungen des Arbeitsmarktes hervorgerufene Problemdruck bewältigt werden kann.
Die meisten westlichen Industriegesellschaften haben sich in der Vergangenheit – zumindest seit Ende des Zweiten Weltkriegs – ökonomisch und demographisch ähnlich entwickelt. Sie stehen auch zukünftig vor recht ähnlichen demographischen und ökonomischen Herausforderungen. In bezug auf die sozialen Sicherungssysteme im allgemeinen und die Alterssicherungssysteme im besonderen haben sie jedoch unterschiedliche "Problemlösungen", das heißt unterschiedliche institutionelle Strukturen und Regelungsmuster, entwickelt. Aufgrund der unterschiedlich gewachsenen Strukturen ist deshalb zu erwarten, daß sie auch in unterschiedlicher Weise auf die neuen Herausforderungen reagieren. Der mit der demographischen Problematik induzierte politische Handlungsbedarf determiniert also noch keineswegs die politischen Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten. Vielmehr sind eine Reihe sozialpolitischer Optionen denkbar (und werden auch von den Parteien und Regierungen der Länder verfolgt), um beispielsweise die Kosten der öffentlich finanzierten Alterssicherung zu begrenzen. Die Bandbreite institutioneller Lösungen, wie sie sich im internationalen Vergleich darstellt, ist jedoch zugleich der Beweis dafür, daß der Spielraum für Innovationen – also bessere Lösungen für gegebene Probleme – erheblich ist.
Der internationale Vergleich von Alterssicherungssystemen kann somit als quasi-natürliches Experiment dienen, das die Variationsbreite politischer Gestaltungsmöglichkeiten erkennen läßt. Zugleich erlaubt die empirische Analyse eine vergleichende Evaluation dieser Gestaltungsmöglichkeiten: Es kann beispielsweise beurteilt werden, inwieweit sie den jeweiligen Zielvorstellungen gerecht werden, mit welchen Nebenwirkungen und unbeabsichtigten Effekten gerechnet werden muß. "Alterssicherung" wird dabei umfassend als gesellschaftliches Problem verstanden, für dessen Lösung neben den staatlichen Rentensystemen auch die berufliche beziehungsweise betriebliche Altersversorgung sowie verschiedene Formen der privaten Vorsorge in Betracht kommen. Faktisch wird die "gesellschaftliche Alterssicherung" in allen entwickelten westlichen Industriegesellschaften in einem "Drei-Säulen- (beziehungweise Drei-Schichten-)System" von staatlicher, kollektiver (aber nicht-staatlicher) und privater Vorsorge betrieben. Es gibt kein Land, in dem nicht – in unterschiedlicher Form – eine staatliche Verantwortung für Alterssicherung institutionalisiert ist. Es gibt aber auch kein Land, in dem sich die gesellschaftliche Aufgabe der Alterssicherung in staatlichen Programmen erschöpft. In allen Ländern existieren auch Formen beruflicher und betrieblicher Alterssicherung. Und selbstverständlich besteht auch in allen Ländern die Möglichkeit freiwilliger privater Vorsorge. Die relative Bedeutung der verschiedenen Komponenten und die Art ihres Zusammenwirkens ist allerdings sehr unterschiedlich.
Formen der Alterssicherung
Als Untersuchungsländer wurden vier westeuropäische Länder ausgewählt, die eine erhebliche Variationsbreite der Gestaltung von Alterssicherungssystemen repräsentieren: Deutschland, Großbritannien, die Schweiz und Schweden. Bezüglich des Ausgabenniveaus der staatlichen Alterssicherung gehören Deutschland und Schweden im Vergleich der OECD-Länder (aber auch der heutigen EU-Länder) zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohen Ausgaben, Großbritannien und die Schweiz zu den Ländern mit unterdurchschnittlich niedrigen Ausgaben. In Großbritannien und in der Schweiz spielen nicht-staatliche Formen der Alterssicherung eine vergleichsweise größere Rolle. Die gesellschaftlichen Gesamtaufwendungen für die Alterssicherung unterscheiden sich also weniger stark als die Ausgaben für Alterssicherung, die in den öffentlichen Haushalten zu Buche schlagen.
Bezüglich der Leistungsstruktur der staatlichen Rentensysteme gelten Deutschland und Großbritannien traditionell als Prototypen für unterschiedliche Grundkonzeptionen der sozialen Sicherung: in Deutschland das auf die Bismarcksche Sozialgesetzgebung zurückgehende Modell der Sozialversicherung mit einkommensdifferenzierten, an der Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen orientierten Renten; in Großbritannien das im Beveridge-Plan (1944) entwickelte und nach dem Zweiten Weltkrieg realisierte Konzept einer Staatsbürgerversorgung mit einkommensunabhängigen, an einem armutsverhindernden Mindestbedarf orientierten Renten. Die Höhe des Mindestbedarfs ist dabei differenziert für alleinstehende Rentner beziehungsweise Rentner-Ehepaare. Dieser Grundkonzeption kommt gegenwärtig das staatliche Rentensystem in den Niederlanden am nächsten; in Großbritannien wird das Grundrentensystem seit 1978 durch eine (allerdings bescheidene) einkommensbezogene Zusatzrente ergänzt.
Die Leistungsstruktur des staatlichen Rentensystems in der Schweiz ist durch eine interessante Kombination von Einkommens- und Bedarfsdifferenzierung charakterisiert. Die Einkommensdifferenzierung wird begrenzt durch eine Mindestrente und eine Höchstrente, die das Doppelte der Mindestrente beträgt. Zudem weist die Rentenstruktur die für Grundsicherungsleistungen typische bedarfsorientierte Differenzierung der Rentenhöhe für Alleinstehende beziehungsweise Ehepaare auf. Insgesamt überwiegt der Gedanke des Solidarausgleichs gegenüber dem Gedanken der individuellen Beitragsgerechtigkeit (Äquivalenzprinzip).
In Schweden wurde 1948 ein steuerfinanziertes Grund-rentensystem für alle Staatsbürger (Volkspension) eingeführt, welches seit 1959 durch ein beitragsfinanziertes Zusatzrentensystem für alle Erwerbstätigen ergänzt wird. Im Zuge der Reifung des Zusatzrentensystems gewinnt letzteres aber immer mehr Gewicht, so daß es den Charakter des Gesamtsystems zu dominieren beginnt. Diese Tendenz wird durch die in den 90er Jahren erfolgten Reformen noch verstärkt.
Außerdem sind in den Untersuchungsländern typisch unterschiedliche Muster der Koordination von staatlicher und betrieblicher Alterssicherung realisiert. In Großbritannien besteht für die Arbeitgeber die Möglichkeit, aus dem staatlichen Zusatzrentensystem (nicht aber aus dem Grundrentensystem!) auszuscheiden. Voraussetzung ist die Einrichtung betrieblicher Pensionsfonds, deren Leistungen denen im staatlichen Zusatzrentensystem mindestens gleichwertig sind (sogenanntes "contracting out"). Die betrieblichen Rentensysteme fungieren hier also als Alternative zum staatlichen Zusatzrentensystem.
In der Schweiz ist dagegen ein anderes Modell der Koordination institutionalisiert. Die bundesstaatliche Gesetzgebung macht für jeden Arbeitgeber die Errichtung einer beruflichen Altersvorsorgeeinrichtung zur Pflicht. Diese obligatorische, aber formal privatrechtlich organisierte "berufliche Vorsorge" fungiert als zweite Säule der Alterssicherung (neben der staatlichen Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHV) im Rahmen eines verfassungsmäßig verankerten Drei-Säulen-Konzepts.
In Schweden (ähnlich auch in den Niederlanden) ist auf dem Wege kollektiv- vertraglicher Vereinbarungen zwischen den Tarifpartnern im Laufe der Jahre eine fast vollständige Einbeziehung der Erwerbstätigen in die betriebliche Altersvorsorge erreicht worden. In Schweden ist auch die Vereinheitlichung des Leistungssystems zwischen den Branchen sowie die Koordinierung mit der (ohnehin stark ausgebauten) staatlichen Alterssicherung am weitesten fortgeschritten. Im Vergleich mit allen drei übrigen Ländern führt die betriebliche Altersversorgung in Deutschland geradezu ein Schattendasein. Nur etwa die Hälfte der Arbeitnehmer ist in solche Einrichtungen einbezogen. Die Leistungen sind selten mit denen der staatlichen Rentenversicherung im Hinblick auf Gesamtversorgungsziele koordiniert; das Leistungsniveau ist – zumindest für das Gros der Arbeitnehmer – relativ niedrig.
Diese unterschiedlichen Alterssicherungssysteme werden in einem weiteren Schritt empirisch daraufhin untersucht, welche Wirkungen sie auf die soziale Lage, insbesondere die Einkommenslage der älteren Bevölkerung, entfalten. Forschungsmethodisch geht es also um die Verbindung von Institutionen- und Wirkungsanalyse, um die Evaluation der Wirkungen der unterschiedlichen institutionellen Gestaltung von Alterssicherungssystemen. In sozialpolitischer Absicht soll die international vergleichende Analyse Antworten liefern auf die Frage: Wie müßte ein Alterssicherungssystem beschaffen sein, das den verschiedenen Zielsetzungen der Alterssicherungspolitik gleichermaßen Rechnung trägt?
Ziele der Alterssicherung
Eine Evaluation der Wirkungen setzt eine Bestimmung der Zieldimensionen voraus, in denen die Wirkungen untersucht werden sollen. Was aber sind relevante Zieldimensionen der Alterssicherung? Im Rahmen einer Ziel-analyse können drei grundlegende verteilungspolitische Zieldimensionen unterschieden werden:
- die Vermeidung von Armut im Alter,
- die Sicherung der Kontinuität des Lebensstandards und
- die Verringerung von Einkommens- und Versorgungsungleichheiten.
Diese Zielsetzungen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Denn mit der Verfolgung eines Ziels können nicht zugleich und automatisch auch die anderen erreicht werden. Die sozialpolitische Aufgabe besteht darum nicht in der einseitigen Maximierung eines dieser Ziele; sie besteht vielmehr darin, institutionelle Lösungen zu optimieren, um die konkurrierenden Ziele miteinander kompatibel zu machen.
Wenn man diese Ziele als Ziele des gesellschaftlichen Alterssicherungssystems interpretiert, so hat dies methodisch zur Folge, daß die Einkommens- und Versorgungslagen insgesamt, wie sie durch das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten der Alterssicherung geprägt werden, zu untersuchen sind – und nicht nur die Struktur und Verteilung der staatlichen Renten. Als Datenbasis der empirischen Analysen dienen repräsentative nationale Einkommensstichproben. Sie wurden im Rahmen des "Luxembourg Income Study (LIS)"-Projekts im Hinblick auf internationale Vergleichbarkeit aufbereitet. Mit ihrer Hilfe können sowohl die Zusammensetzung der verfügbaren Haushaltseinkommen als auch die Muster von Ungleichheit und Armut innerhalb der älteren Bevölkerung und im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung untersucht werden.
Für jede Zieldimension werden Indikatoren definiert, mit deren Hilfe der Grad der Zielerreichung gemessen wird. Als geeignetes Einkommenskonzept wird dabei das verfügbare Haushaltseinkommen verwendet, das entsprechend der Haushaltsgröße gewichtet wird (das sogenannte Netto-Äquivalenz-Einkommen). Dieses kann infolge der Gewichtung als Maß für das Wohlstandsniveau der Haushaltsmitglieder gelten und ermöglicht so unmittelbar Lebensstandardvergleiche zwischen Personen beziehungsweise sozialen Gruppen.
Land | 1950 | 1980 | 1990 | 2000 | 2010 | 2020 |
Deutschland | 13,9 | 23,4 | 22,3 | 25,4 | 30,6 | 33,5 |
Frankreich | 17,3 | 21,9 | 20,9 | 23,3 | 24,5 | 30,6 |
Großbritannien | 16,0 | 23,2 | 23,0 | 22,3 | 22,3 | 25,5 |
Italien | 12,2 | 20,8 | 20,1 | 22,6 | 25,7 | 29,4 |
Japan | 8,8 | 13,5 | 16,2 | 22,6 | 29,5 | 33,6 |
Kanada | 12,3 | 14,1 | 16,7 | 19,0 | 21,4 | 28,9 |
USA | 12,5 | 17,1 | 18,5 | 18,2 | 18,8 | 25,0 |
Ø dieser 7 Länderb | 13,3 | 19,1 | 19,7 | 21,9 | 24,7 | 29,5 |
Belgien | 16,2 | 22,0 | 21,1 | 22,0 | 23,5 | 26,9 |
Dänemark | 14,1 | 22,3 | 22,4 | 21,4 | 24,5 | 30,4 |
Finnland | 10,6 | 17,6 | 19,4 | 21,3 | 24,9 | 34,8 |
Griechenland | 10,4 | 20,6 | 18,2 | 22,7 | 25,6 | 27,4 |
Irland | 17,8 | 18,5 | 18,4 | 17,1 | 16,5 | 18,6 |
Niederlande | 12,2 | 17,4 | 18,4 | 19,7 | 22,1 | 28,9 |
Norwegen | 14,4 | 23,3 | 24,9 | 23,0 | 22,5 | 28,0 |
Österreich | 15,6 | 24,2 | 21,7 | 22,5 | 26,6 | 30,5 |
Portugal | 11,0 | 16,2 | 17,9 | 20,9 | 21,4 | 23,7 |
Schweden | 15,5 | 25,3 | 27,3 | 25,2 | 26,6 | 33,1 |
Schweiz | 14,3 | 21,0 | 21,6 | 25,1 | 31,6 | 39,9 |
Spanien | 11,1 | 17,2 | 19,4 | 21,8 | 22,9 | 25,3 |
Australien | 12,4 | 14,7 | 16,6 | 17,5 | 18,7 | 23,6 |
Neuseeland | 14,3 | 15,5 | 16,0 | 16,3 | 17,5 | 22,9 |
OECD-Durchschnittb | 13,5 | 19,5 | 20,0 | 21,4 | 23,7 | 28,6 |
EG-Durchschnittb,c | 13,8 | 20,3 | 20,2 | 21,7 | 23,6 | 27,3 |
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Die Effektivität der Armutsvermeidung läßt sich mit Hilfe von Armutsquoten messen. Sie geben den Anteil der Bevölkerung an, der unter einer relativen Armutsgrenze von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens (genauer: des Median-Äquivalenz-Einkommens) in der jeweiligen Gesellschaft liegt. Es ergibt sich mit frappierender Deutlichkeit, daß Armut unter den älteren Haushalten eindeutig am geringsten in Schweden und am häufigsten in Großbritannien auftritt; Deutschland und die Schweiz nehmen hier mittlere Positionen ein. Ein Vergleich mit den Armutsquoten in der Gesamtbevölkerung zeigt weiterhin, daß in Deutschland und Großbritannien die ältere Bevölkerung ein weit überproportionales Armutsrisiko hat, in Schweden dagegen bemerkenswerterweise ein deutlich unterproportionales Risiko.
Zur Messung der Sicherung des Lebensstandards wird das relative Wohlstandsniveau von Haushalten mit einem Haushaltsvorstand unter 60 Jahren (typischerweise Erwerbstätigen-Haushalte) mit dem von Haushalten mit einem Haushaltsvorstand von 60 Jahren und mehr (als Annäherung für Rentner-Haushalte) verglichen. Ergänzend wird in der zweiten Gruppe noch nach Fünf-Jahres-Altersgruppen differenziert, um die Entwicklung des Lebensstandards während der Altersphase genauer verfolgen zu können. Hier zeigt sich zunächst, daß die relative Position der älteren Haushalte am schlechtesten in Großbritannien ist und überraschenderweise am besten in der Schweiz zu sein scheint (wo sie sogar über der der Erwerbstätigen-Haushalte liegt). In Deutschland ist sie dagegen nach Großbritannien am zweitschlechtesten, deutlich ungünstiger auch als in Schweden. Mit zunehmendem Alter fällt der Lebensstandard der Rentner-Haushalte in allen untersuchten Ländern deutlich ab, am stärksten wiederum in Großbritannien, gefolgt von Deutschland. In Schweden und der Schweiz bleibt dagegen zumindest das Wohlstandsniveau der "jüngeren" Rentner-Haushalte relativ nahe am gesellschaftlichen Durchschnitt.
Land | 1960 | 1965 | 1970 | 1975 | 1980 | 1985 |
Deutschland | 9,7 | 9,7 | 10,4 | 12,6 | 12,1 | 11,8 |
Frankreich | 6,0 | 7,8 | 8,5 | 10,1 | 11,5 | 12,7 |
Großbritannien | 4,0 | 4,8 | 4,9 | 6,0 | 6,3 | 6,7 |
Italien | 5,5 | 7,7 | 8,2 | 10,4 | 12,0 | 15,6 |
Japan | 1,3 | 1,2 | 1,2 | 2,6 | 4,4 | 5,3 |
Kanada | 2,8 | 2,8 | 3,2 | 3,7 | 4,4 | 5,4 |
USA | 4,1 | 4,5 | 5,2 | 6,7 | 6,9 | 7,2 |
Ø dieser 7 Ländera | 4,8 | 5,5 | 5,9 | 7,4 | 8,2 | 9,3 |
Belgien | – | – | 8,4f | 10,5 | 11,9 | 12,6g |
Dänemark | 4,6 | 5,0 | 7,2 | 7,8 | 9,1 | 8,5 |
Finnland | 3,8 | 4,5 | 5,2 | 6,1 | 6,5 | 7,1h |
Griechenland | 3,8d | 4,3 | 5,3 | 4,8 | 5,8 | 10,7 |
Irland | 2,5 | 2,8 | 3,2 | 4,2 | 4,5 | 5,4 |
Niederlande | 4,0 | 6,1 | 6,6 | 8,9 | 11,0 | 10,6 |
Norwegen | 3,1 | 4,0 | 7,2 | 8,0 | 7,9 | 8,0h |
Österreich | 9,6 | 10,8 | 11,6 | 12,5 | 13,5 | 14,5 |
Portugal | 1,5d | 1,4 | 1,7 | 4,1 | 6,1 | 7,2 |
Schweden | 4,4 | 5,1 | 6,1 | 7,7 | 10,9 | 11,2 |
Schweiz | 2,3 | 3,4 | 4,4 | 7,7 | 8,0 | 8,1 |
Spanien | – | 2,4e | 3,2 | 4,3 | 7,3 | 8,6 |
Australien | 3,3 | 3,2 | 3,0 | 4,5 | 4,9 | 4,9h |
Neuseeland | 4,3 | 3,9 | 4,0 | 5,3 | 7,6 | 8,1 |
OECD-Durchschnitta,b | 4,4 | 5,1 | 5,9 | 7,3 | 8,3 | 8,9 |
EG-Durchschnitta,b,c | 5,2 | 6,3 | 7,0 | 8,6 | 9,5 | 10,2 |
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Diese Unterschiede im Lebensstandard von Erwerbs-tätigen- und Rentner-Haushalten werden als intergenerationale Verteilungsungleichheit bezeichnet. Sie stellen eine wesentliche Dimension sozialer Ungleichheit dar. Davon zu unterscheiden ist eine zweite Dimension der Ungleichheit, nämlich die Ungleichheit innerhalb der Rentnerpopulation selber, das heißt zwischen relativ gut und weniger gut situierten Rentnern. Diese Art der Ungleichheit beziehungsweise die Streuung der individuellen Wohlstandspositionen kann man mit dem sogenannten Gini-Index messen (Wertebereich von 0 bis 1). Hohe Werte zeigen dabei eine hohe Einkommenskonzentration und niedrige Werte eine relative Gleichverteilung an. Wie wichtig die analytische Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen der Ungleichheit ist, zeigen die Ergebnisse. Obwohl die relative Lage der älteren Haushalte in der Schweiz im Durchschnitt am günstigsten ist, ist die Ungleichheit zwischen diesen Haushalten extrem hoch. In Schweden dagegen ist die Wohlstandsverteilung innerhalb der älteren Bevölkerung relativ egalitär. Deutschland und Großbritannien liegen auf einem mittleren Niveau.
Man könnte nun vermuten, daß die Ungleichheit unter den älteren Haushalten lediglich ein Spiegelbild der Ungleichheitsstrukturen in der Gesamtgesellschaft sei. Aufschlußreich ist deshalb ein Vergleich mit den Gini-Indizes für alle Haushalte. Hierbei zeigt sich nun ein interessantes Muster: in zwei Ländern (Schweiz und Großbritannien) ist das Ausmaß der Einkommensungleichheit unter den älteren Haushalten größer als in der Gesamtgesellschaft; in den beiden übrigen Ländern (Deutschland und Schweden) verhält es sich umgekehrt. Die wahrscheinliche Ursache für dieses Muster liegt in der Zusammensetzung der Alterseinkommen. In Schweden und auch in Deutschland machen die staatlichen Rentenleistungen einen relativ hohen Anteil der gesamten Alterseinkommen aus. Demgegenüber tragen in der Schweiz und in Großbritannien betriebliche und private Altersvorsorge, aber auch fortgesetzte Erwerbs-tätigkeit vergleichsweise stärker zum Alterseinkommen bei. Betriebliche Pensionen und private Vermögenseinkommen (zum Beispiel Lebensversicherungen) sind jedoch vor allem in den oberen Einkommensgruppen konzentriert und wirken deshalb ungleichheitsverstärkend. Je höher der Anteil dieser Einkommensarten an den gesamten gesellschaftlichen Aufwendungen für die Alterssicherung, um so stärker also dieser Effekt.
Die Position der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem internationalen Vergleich keineswegs so hervorragend und beneidenswert, wie unsere Politiker es uns gern glauben machen wollen. Trotz hoher Gesamtausgaben zeigt das deutsche Alterssicherungssystem deutliche Mängel in wichtigen Zieldimensionen. In keiner der drei Dimensionen nimmt Deutschland eine Spitzenposition ein. Relativ günstig erscheint noch die Bilanz bezüglich der (Verringerung der) Ungleichheit im Alter. Am deutlichsten treten die Mängel bei der Absicherung gegen Armut im Alter zutage.
Sozialpolitische Schlußfolgerungen
Wesentliche Verbesserungen im Grad der Zielerreichung erscheinen möglich ohne gravierende Erhöhung des Gesamtausgabenniveaus. Sie erfordern jedoch grundlegende strukturelle Reformen der staatlichen Alterssicherung und eine verbesserte Integration mit der betrieblichen und privaten Altersvorsorge.
In allen drei Dimensionen gibt es ein Land, das besser abschneidet als Deutschland, nämlich Schweden. Ein möglicherweise naheliegender Grund hierfür – ein höheres Ausgabenniveau – kann ausgeschlossen werden: Die gesamten staatlichen Aufwendungen für die Alterssicherung (in % des BIP) sind in Schweden nicht höher als in Deutschland, trotz einer vergleichbaren Altersstruktur. Das schwedische Alterssicherungssystem ist also nicht teurer, es ist effektiver als das deutsche. Diese empirischen Befunde legen es nahe, das deutsche Alterssicherungssystem so umzustrukturieren, daß es – ohne gravierende Erhöhung des Gesamtausgabenniveaus – den oben explizierten verteilungspolitischen Zielsetzungen in höherem Maße gerecht wird als dies im gegenwärtig existierenden System der Fall ist. Eine Orientierung an bestimmten Merkmalen des schwedischen Alterssicherungssystems, die dort zu den günstigen Ergebnissen in allen drei Zieldimensionen geführt haben und es dem deutschen System überlegen machen, erscheint dabei sinnvoll.
Entsprechend den grundlegenden Zielen der Alterssicherung
- der Vermeidung beziehungsweie Bekämpfung von Armut im Alter und
- der Sicherung des erworbenen Lebensstandards nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
Der funktionalen Differenzierung (hinsichtlich der Zielsetzungen)
sollte also eine strukturelle Differenzierung (der Leistungssysteme)
entsprechen.
Damit würden in der Gestaltung der staatlichen Alterssicherung zwei
Grundformen sozialer Sicherungssysteme mit jeweils unterschiedlichen,
aber einander ergänzenden verteilungspolitischen Zielsetzungen auf
transparente Art und Weise miteinander kombiniert:
- ein Steuer-Transfer-System (für den Bereich der Grundsicherung) mit dem primären Ziel der interpersonellen Umverteilung (Gewährung von Mindestleistungen, Finanzierung nach steuerlicher Leistungsfähigkeit),
- ein Versicherungssystem (für den Bereich der Zusatzsicherung) mit dem primären Ziel der intertemporalen Umverteilung (zwischen Erwerbstätigkeits- und Ruhestandsphase).
Im Hinblick auf die Verringerung der Einkommensungleichheit unter den älteren Menschen erscheint es erwägenswert, die Renten wie andere Alterseinkommen der Besteuerung zu unterwerfen (wie dies etwa in Schweden geschieht). Dabei bietet es sich in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Steuerfreiheit des Existenzminimums an, die Grundsicherungs-Komponente steuerfrei zu lassen und die Besteuerung auf die Zusatzrenten zu beschränken. Damit wird erreicht, daß höhere Renten (beziehungsweise Alterseinkommen generell) steuerlich prozentual stärker belastet werden als durchschnittliche und kleine Renten. Das Ziel der Lebensstandardsicherung – das heißt der Absicherung eines bestimmten Prozentsatzes des im Arbeitsleben erzielten Netto-Erwerbseinkommens – wird gleichwohl gewahrt, da die Einkommensdifferenzierung der Ren-ten nicht aufgehoben würde. Zugleich würde die Besteuerung der Renten die Netto-Belastung der öffentlichen Haushalte vermindern beziehungsweise eine Entlastung der Beitragszahler ermöglichen.
Formen der betrieblichen Altersversorgung und der freiwilligen privaten Vorsorge können und sollten diese obligatorische Grund- und Zusatzsicherung ergänzen, vor allem für jene Einkommensbereiche, wo ein öffentliches Interesse an einer obligatorischen Regelung nicht mehr geboten ist. Anzustreben wäre vor allem eine enge Verzahnung und Koordination der Versorgungsziele zwischen der staatlichen und der betrieblichen Alterssicherung. Diese nicht-staatlichen Formen der Alterssicherung sind jedoch keine tragfähige Alternative, kein sozialpolitisch vertretbarer Ersatz für die in öffentlicher Verantwortung organisierte Alterssicherung.
Die international vergleichende Analyse liefert eine Reihe von Hinweisen darauf, in welche Richtung das deutsche Alterssicherungssystem zu verändern wäre, um seine Effektivität im Hinblick auf die angestrebten Zielsetzungen zu verbessern. Umgekehrt liefert sie aber auch Anhaltspunkte dafür, welche Verteilungsfolgen zu erwarten (besser: zu befürchten) wären, wenn sich der Trend beziehungsweise die Strategie zur stärkeren "Privatisierung" der Alterssicherung (Reduzierung des staatlichen Rentenniveaus, Verlagerung zugunsten betrieblicher und privater Altersvorsorge) durchsetzen sollte.
Ausgehend von der Habilitationsschrift "Alterssicherung im internationalen Vergleich", über deren Ansatz und zentrale Ergebnisse dieser Artikel berichtet, arbeiten wir gegenwärtig an einem umfangreichen Projekt, das die Entwicklung der Alterssicherungssysteme und der sozialen Lage der älteren Bevölkerung in allen EU-Ländern vergleichend analysieren soll. Gegenüber anderen Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet zeichnet sich der Ansatz dieses Projekts – neben seiner international vergleichenden Perspektive – durch zweierlei aus: Zum einen beschränkt er sich nicht auf die staatlichen Rentensysteme, sondern bezieht systematisch auch die nicht-staatlichen Komponenten ein, die zum Alterseinkommen und so zur Gesamtversorgung der älteren Menschen in der Gesellschaft beitragen. Zum anderen versucht er, nicht nur die institutionelle Entwicklung der Alterssicherungssysteme nachzuzeichnen, sondern auch deren Auswirkungen auf die Einkommenslage der älteren Bevölkerung im Hinblick auf soziale Ungleichheit und Armut im Alter empirisch zu erforschen.
Unser besonderes Anliegen ist es, durch diese Art empirischer Sozialforschung auf dem Feld der Sozialpolitik Anstöße und Anregungen für die sozialpolitische Reformdiskussion in Deutschland zu geben.
Autor:
Prof. Dr. Jürgen Kohl
Institut für Soziologie, Sandgasse 9, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 29 80