Meinungen
Helmuth Kiesel, Professor am Germanistischen Seminar, nimmt die Promotionszeiten in den Geisteswissenschaften aufs Korn: Sachzwänge oder Größenwahn?
Es ist kein bloßes Gerücht, sondern eine täglich erfahrbare Tatsache – : in den geisteswissenschaftlichen Fächern werden die Zeiten, die für Promotionen gebraucht werden, immer länger, und die Dissertationen, die vorgelegt werden, immer umfangreicher. Wer derzeit potentielle Doktoranden zu beraten hat, hört nicht selten die Frage: Ist das in drei bis vier Jahren zu machen? Und nicht selten überholt die Wirklichkeit die bange Erwartung sogar noch – und beschert dem sogenannten Doktorvater ein Kind, das dann schwer auf seinem Schreibtisch lastet: in der Regel um die 400 Maschinenseiten stark, stoffmäßig in die Breite und analytisch ins Detail gehend, oft interdisziplinär gehalten, fast in jedem Fall mit einer Unzahl von Anmerkungen gespickt und mit unübersehbaren Literaturhinweisen unterlegt. Dies gründlich zu lesen, führt – euphemistisch gesagt – regelmäßig an die Grenzen der zeitlichen Möglichkeiten; es intellektuell nachzuvollziehen und angemessen zu beurteilen führt – ebenso gesagt – nicht selten an die Grenzen der Kompetenz. Man müßte nicht nur das eigene Fach in seiner ganzen Breite beherrschen; man müßte auch in vielen anderen Disziplinen bestens bewandert sein.
Damit soll auch gleich gesagt sein, daß die meisten dieser anspruchsvoll konzipierten und hingebungsvoll realisierten Arbeiten ganz vorzüglich sind. Legt man neben sie Dissertationen aus der Zeit um 1960 oder gar um 1930, so sehen diese mitunter etwas dürftig aus – auch wenn sie von einem der Großen des betreffenden Faches stammen.
Es ist ganz interessant, einmal einen Blick auf solch eine vergangene Größe zu werfen: Der als „Großordinarius“ bekannte Benno von Wiese, der zu den einflußreichsten Germanisten der Nachkriegszeit gehörte und in der Tat eine respektgebietende intellektuelle und organisatorische Lebensleistung vorzuweisen hat, hielt es 1924 für durchaus denkbar, hier in Heidelberg nach einem Studium von fünf Semestern mit einer Arbeit, die er „in etwa sechs Wochen, sozusagen aus dem Handgelenk“ geschrieben hatte, von Jaspers promoviert zu werden. Jaspers lehnte die Arbeit zwar ab, stellte dem kecken Herrn von Wiese aber frei, „damit bei jemand anderem zu promovieren“ (und eine andere Koryphäe dieses Faches verkündet bis heute freimütig, mit eben einer solchen Arbeit den Doktortitel erworben zu haben, freilich andernorts). Von Wiese wollte aber unbedingt von Jaspers promoviert werden, und mußte dafür noch einmal drei Semester investieren. Seine Arbeit über die intellektuelle Entwicklung Friedrich Schlegels umfaßt 120 Druckseiten, berücksichtigt neben Schlegel gelegentlich noch Novalis und Schleiermacher und führt 30 wissenschaftliche Arbeiten an. In seiner Autobiographie räumt Benno von Wiese ein, daß die Arbeit „Schwächen“ hatte und daß diese von den Experten sogleich auch erkannt wurden. Das schadete seiner weiteren Karriere aber nicht im geringsten: zwei Jahre später konnte er sich in Bonn habilitieren, und wieder drei Jahre später war er Ordinarius in Erlangen.
Ein begnadeter Einzelfall? Keineswegs! Die Geschichte des Faches könnte leicht mit weiteren Beispielen aufwarten, und zwar bis in die fünfziger Jahre hinein. Danach aber braucht das Promoviertwerden zunehmend mehr Zeit, und die Arbeiten erhalten eine andere Qualität. Mit der Differenzierung der Fächer und der gleichzeitigen Tendenz zu interdisziplinären Betrachtungsweisen werden die Konzepte komplizierter. Die Menge der zu berücksichtigenden Forschungsliteratur nimmt sprunghaft zu. Druckzwang und effektivere Distribution sorgen für eine Vielzahl von Vergleichsmöglichkeiten und veranlassen zu immer neuen Überbietungsversuchen. Und dann beginnt der Größenwahn: Der Untersuchungsgegenstand wird expandiert; die Zahl der Fragestellungen und Betrachtungsweisen wird potenziert; die spezifischen Aufgaben des eigenen Faches und die Besonderheiten anderer Disziplinen werden leichtfertig ignoriert; die nötigen Kompetenzen werden ungeniert reklamiert. Verloren geht dabei die Gründlichkeit im eigenen Fach und die Konzentration auf den Versuch, einen vielleicht begrenzten, aber um so solideren Beitrag zur Forschung zu erarbeiten. Und verloren geht auch ein guter Teil der Wirkungskraft der Arbeit; denn wer kann sich die teuren Bücher leisten, und wer kann die Lektüre der voluminösen Elaborate auf sich nehmen?
Das ist indessen nicht den Doktoranden anzulasten. Sie machen nur, was man von ihnen erwartet, oder genauer: was ihrer Beobachtung oder ihrem nicht unbegründeten Verdacht nach von ihnen erwartet wird. Wer ambitioniert ist, weiß oder glaubt zu wissen, daß er das erreichte Niveau um jeden Preis überbieten muß, um eine Prädikatsnote zu erhalten.
Hier ist eine Rückbesinnung auf das nötig, was mit einer Dissertation zu erbringen und zu demonstrieren ist. Zu erbringen ist eine qualifizierbare Erweiterung der Forschung an einem Punkt; zu demonstrieren ist die Fähigkeit zur selbständigen Forschung nach Maßgabe der gängigen Methoden des Faches. Größenwahn ist nicht nötig. Dilettantismus sollte nicht belohnt, sondern bestraft werden. Einschränkung ist nicht als Niveausenkung abzutun, sondern als Qualitätsgarantie zu nutzen.
Das müssen zunächst einmal die Betreuer realisieren und dann den Doktoranden durch eine entsprechende Beratung und Begutachtung glaubhaft vermitteln. Das haben aber auch die Mitglieder jener Kommissionen zu realisieren, die mit der Vergabe von Promotionsstipendien befaßt sind. Die Erfahrung zeigt, daß Anträge, die eine ausschweifende Arbeit annoncieren, vorzugsweise bewilligt werden, auch wenn abzusehen ist, daß die verheißenen Arbeiten in der Förderungszeit von – vernünftigerweise – zwei Jahren schwerlich zu verwirklichen sind. Arbeitsvorhaben, die sich auf eine eher zu bewältigende Fragestellung konzentrieren, werden mit der Bemerkung abgelehnt, sie seien zu eng. Das gibt denen recht, die dem Prinzip der Überbietung folgen, und die Dissertation gleich wie eine Habilitationsschrift planen. Bloß, was machen sie dann?